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Von einer Lähmung der Stadt im April 1945 kann eigent* lieh nicht gesprochen werden, da die Aktivität der Nationalsozialisten im Norden Wiens erst zu Ende ging, als in den südlichen und westlichen Teilen bereits andere politische Gruppen tätig waren. Dazwischen bewegte sich die Hauptkampflinie, die jedoch Lücken aufwies, welche NS-Funktionären gestatteten, auch nach dem russischen Einmarsch unerkannt zu entkommen. Sogar Werwolf-Aspiranten hielten noch einige Zeit Kontakt mit den abgezogenen Nazis. Anderseits sickerten Deserteure aus umgekehrter Richtung ins Wiener Stadtgebiet. Doch von einer Stunde Null kann durchaus die Rede seih, und zwar im Hinblick auf die Versorgung an Lebensgütern.

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Von einer Lähmung der Stadt im April 1945 kann eigent* lieh nicht gesprochen werden, da die Aktivität der Nationalsozialisten im Norden Wiens erst zu Ende ging, als in den südlichen und westlichen Teilen bereits andere politische Gruppen tätig waren. Dazwischen bewegte sich die Hauptkampflinie, die jedoch Lücken aufwies, welche NS-Funktionären gestatteten, auch nach dem russischen Einmarsch unerkannt zu entkommen. Sogar Werwolf-Aspiranten hielten noch einige Zeit Kontakt mit den abgezogenen Nazis. Anderseits sickerten Deserteure aus umgekehrter Richtung ins Wiener Stadtgebiet. Doch von einer Stunde Null kann durchaus die Rede seih, und zwar im Hinblick auf die Versorgung an Lebensgütern.

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Die persönliche Situation jedes einzelnen Wieners war grotesk, wenn auch sehr unterschiedlich. Es gab Wohnblocks mit relativer Sicherheit, geplünderten Lebensmitteln oder geheimen Vorräten, wo bald geselliges Leben bei Kerzenlicht aufkam, jetzt — da die Luftangriffe aufgehört hatten, und ein deutscher Gegenstoß immer unwahrscheinlicher wurde. Auch das deutsche Tanzverbot existierte nicht mehr und alte Jazzplatten kamen auf mechanischen Grammophons zu Ehren. In der nächsten Straße rauften Menschenrudel um deutsche Konserven, die Rotarmisten aufs Pflaster schmissen und Greise leckten verstreuten Kristallzucker aus dem Rinnsal. Die Villen weiter draußen waren zeilenweise von den Russen besetzt, in den Kellern saßen Gefangene, Hausbesitzer halben ihre eigene Habe auf Armeefuhrwerke laden oder demolieren. Daneben erklärte irgendein Kommissar mittels undefinierbarem Zivildolmetsch einem schlotternden Bezirskvor-steher, daß sich die Rote Armee wegen der unleugbaren Übergriffe geniere, aber daß man mit jenen Nachsicht üben müsse, die in der Heimat alles verloren hätten und jetzt seit Jahren kämpfend nach Westen gezogen wären. Das Schreien der Mädchen im nächsten Garten oder der hallende Feuerstoß einer Maschinenpistole bildeten den akustischen Hintergrund dazu.

Trotzdem, im Vergleich zum Vorher schien vieles irgendwie erträglicher zu sein, der angestaute Haß auf die Deutschen und die heimischen Nationalsozialisten half zumindest einige Zeit darüber hinweg. Von jenen Letztgenannten aber — für die ja das „Befreit-sein“ kaum Geltung hatte — starb jetzt ein erklecklicher Teil an Kummer, Entkräftung oder Mutlosigkeit. Einige legten selbst Hand an sich oder brachen beim Zwangsarbeitseinsatz auf den Schuttbergen des Bombenkrieges zusammen. Die Aktiveren waren freilich schon während der Kämpfe ihrem Freund Skorzeny nach Westen gefolgt und sollten erst viel später, relativ gepflegt, zurückkehren. Auch das Heer östlicher Fremdarbeiter, welches die Deutschen zurückgelassen hatten, führte in der ehemaligen Reichs- und Gaustadt ein unsicheres Dasein. Zahlreiche Männer tauchten unter, stahlen sowjetische Monturen und wurden Banditen. Die Weiblichkeit verdiente sich durch körperliches Anbot in den Militärquartieren eine Art Aufenthaltsberechtigung und half damit, ohne es zu wollen, manchen liebesunwilligen Wienerinnen. Aber der eiserne bolschewistische Besen, der alles wegputzen wollte, was irgendwie der Zusammenarbeit mit Hitler verdächtig war, ließ sich auf die Dauer nicht abwenden und die Verschickung begann im umgekehrten Sinn wirksam zu werden. Dafür strömten die ersten, schreckensbleichen Flüchtlingsscharen aus der Tschechoslowakei in die Stadt und die Öffentlichkeit wandte sich der Idee einer Wiedergewinnung Südtirols zu. Umzüge mit Tirolerhüten sollten bald beliebter werden, als die Märsche der kommunistischen Bezirksorganisationen. Unerwartet rückte ein österreichisches Bataillon der Tito-Armee mit Pomp in die Hofburg ein, am Getreidemarkt etablierten sich Berufssoldaten des Bundesheeres aus der Zeit vor 1938 in ihren schmucken Uniformen von ehedem und der kommunistische Major Hon-ner begann, aus fragwürdigen Hilfspolizisten örtlicher Machthaber eine Organisation für die ganze Stadt zu zimmern. Die Verwirrung war nahezu vollkommen und nur vom Bekenntnis zum wiederentdeckten Österreich notdürftig verschleiert.

Am 21. April 1945 erschien die erste Wiener Tageszeitung in einer überaus schnell wiederhergestellten Druckerei am Fleischmarkt. Es war das Organ der Roten Armee, die sogenannte „österreichische Zeitung“. Sechs Tage später erfolgte die Proklamation der Zweiten Republik, die Russen verzichteten auf die Beschlagnahme der Wiener Radioapparate und spendeten 800 Tonnen Mehl, 7000 Tonnen Getreide, Hülsenfrüchte, Fleisch und Zucker. Diese später oft hämisch zitierte „Erbsenspende“ kam im letzten Augenblick mit Dutzenden Lastkraftwagen auf den Rathausplatz angefahren, um den Wiener. Stadtkern vor einer Hungerkatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes zu retten. Dessenungeachtet eröffneten das Burgtheater im Ausweichquartier Ronacher bereits am 29. April mit „Sappho“, das Raimundtheater mit dem „Drei-mäderlhaus“. Das halbzerstörte Volkstheater hatte sogar noch zwei Tage früher mit den „Katakomben“ den Spielbetrieb aufgenommen, wobei Renner und Körner anwesend waren. Gleichzeitig begannen Fleckfieber, Scharlach, Typhus und die vielen Geschlechtskrankheiten, welche die Soldaten der 3. Ukrainischen Front aus Rumänien den Wiener Frauen mitgebracht hatten, zu wüten. Von allgemeinen Lebensmittelzuteilungen war nicht die Rede, und so mußte sich die Rote Armee zu einer neuerlichen Gabe, der von 1 Kilogramm Brot, 150 Gramm Fleisch sowie etwas öl, Hülsenfrüchten und Zucker pro Kopf bequemen.

Am Abend des 13. April hatte Moskau die Einnahme Wiens mit 24 Salven aus 324 Geschützen gefeiert. Seit der österreichischen Treulosigkeit in den Donaufürstentümern waren weniger als 100 Jahre vergangen, bis sich die leichtherzige Metropole unter dem Kahlenberg dem russischen Stiefel darbot. Im Schutzbundhaus an der Moskwa fehlten an diesem Abend Koplenig und Fischer, da sie bereits hinter .die Hauptkampflinie geflogen worden waren. Nur Hilde Koplenig, die

Familie Fürnberg und Ruth Fischer warteten noch gemeinsam auf Anweisungen der Parteileitung. Ruth holte sich noch schnell vom späteren Gatten der Stalintochter Swetlana jene Bücher zurück, die sie ihm einst geborgt hatte. Es waren die in Rußland streng verbotenen Schriften Sigmund Freuds.

Ein paar Tage später verabschiedet sie sich von ihrem alten Kominternchef Dimitroff, um ihrem Gatten nachzureisen, der schon mit zwei anderen Genossen in der Regierung am Ballhausplatz sitzt. Die Rote Armee hat dort ein Dreiparteienkabinett bilden lassen und vertraut darauf, daß sich die „Arbeitereinheit“ in Wien bald auf demokratischem Weg verwirklichen läßt. Man kennt den ausdrücklichen Wunsch der Amerikaner, mit Truppen nach Wien zu kommen und muß darauf Rücksicht nehmen, denn im Weißen Haus weht ein neuer, etwas kühler Wind. In Norditalien scheinen die Westmächte eine kommunistische Machtübernahme verhindern zu wollen und die Sowjets brauchen ihren Segen, um schleunigst Berlin und Prag besetzen zu können. Also Grund genug, in Wien wenigstens offiziell die Vorbereitungen für ein parlamentarisch-kapitalistisches System zu protegieren. Überdies kommt die gewaltsame Lösung der polnischen Frage in vollen Gang und der Westen darf deshalb anderswo nicht unnötig gereizt werden. Die Engländer stoßen bereits durch Norddeutschland in der unverhohlenen Absicht vor, früher als Rokos-sowski in Lübeck zu sein. Rußland muß mit ihrem Unwillen auch in Triest oder in Kärnten rechnen. Also ist in Wien Demokratie Trumpf und die Widerstandsbewegung mit ihren teils vaterländischen, teils revolutionären Staatsideen hat ausgespielt, obwohl sie den Westmächten bestimmt nicht unangenehm gewesen wäre.

Major Sokoll, den man noch Tage vorher zum Polizeichef machen wollte, wird verhaftet und nach ihm noch ein paar andere Widerstandsleute, die auf einmal gegen die Rote Armee spioniert haben sollen. Allerdings war die Funkverbindung einiger Gruppen mit den Amerikanern auch nach der Vertreibung der Deutschen nicht abgerissen. Wie gesagt, die russische Kommandantur begünstigt die Demokraten, ob sie jetzt gegen Hitler gekämpft haben oder sich ruhig verhielten, und läßt ihre Delegationen die eiligst konzipierten Parteiprogramme vorlegen. Die Sozialdemokraten und revolutionären Sozialisten werden mit einem sehr mißtrauischen Blick bedacht, erfahren aber Renners wegen keine offene Kritik als minderwertige Verwandtschaft. Den Volksparteilern sagt man augenzwinkernd ins Gesicht, sie seien eben die historischen Kapitalisten. Aber die wehren sich entrüstet und behaupten, ihre Stärke wäre jetzt der Arbeiter- und Angestelltenbund, den sie erst ein paar Stunden vorher gegründet haben. Sie wollen hauptsächlich den „kleinen Mann“ vertreten, die christliche Arbeitermoral ist anscheinend ihr Credo.

Eigentlich haben es da die Kommunisten am schwersten: das russische Oberkommando erwartet wahre Wunder von ihrem Häuflein; sie sind über die Gewalttaten der Roten Armee konsterniert, trauen sich aber nichts darüber zu sagen. 1 Nicht minder unangenehm ist ihnen die Südkärntner Frage, auch wissen sie mit den tschechischen Genossen wenig anzufangen, sie werden von Prag und Preßburg ignoriert. Man hat dort andere Sorgen, kämpft um die Macht und will mit den nationalen Panslawisten zusammengehen. Die Wiener Kommunisten wissen auch nicht, auf wen sie in Moskau setzen sollen. Dort kündigen sich neue Schwierigkeiten an, die Leningrader Parteiführung schaltet auf Separatkurs und der Generalissimus, der sich jetzt wie Alexander der Große vorkommt, spöttelt wo er kann über die sowjetischen Juden, die mehr als andere Völker der Union gelitten haben wollen und nach der entvölkerten Krim als autonomer Republik Ausschau halten. Solche Dinge spürt man bis in die letzte Kommandantur, wo ein Offizier dem anderen mißtraut.

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