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Die Russen im Wienerwald

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Im Verlauf des 4. April 1945 versuchen die Russen zwischen Mödling und Baden in mehrere Bergtäler einzudringen. Nach erbitterten Gefechten nehmen sie Guntramsdorf und Gumpoldskirchen, kontrollieren die darunterliegenden Waldkuppen und erscheinen plötzlich mit einigen Panzern vor Hochrotherd, Höniggraben und Grub, also bereits mitten im Wienerwald.

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Im Verlauf des 4. April 1945 versuchen die Russen zwischen Mödling und Baden in mehrere Bergtäler einzudringen. Nach erbitterten Gefechten nehmen sie Guntramsdorf und Gumpoldskirchen, kontrollieren die darunterliegenden Waldkuppen und erscheinen plötzlich mit einigen Panzern vor Hochrotherd, Höniggraben und Grub, also bereits mitten im Wienerwald.

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Schon am Ostermontag hatten sich Marschall Tolbuchin und sein Stab in Hochwolkersdorf nahe des Rosaliengebirges häuslich eingerichtet. Die prachtvolle Fernsicht, die den Offizieren dort über die Ostalpen und den Wiener Raum gewährt war, mag auch ihre politische Arbeit unterschwellig beeinflußt haben. Denn am 4. April ist Renner bereits in Hochwolkersdorf, in der Nacht vorher hat Käs die Vorschläge der Wiener Militärverschwörung dargelegt. Den General Kravtsenko, der am gleichen Tag mit seiner 6. Gardepanzerarmee den Vormarsch ins Triestingtal und die benachbarten Senken einleitet, kümmert dies zunächst nicht. Erst am nächsten Morgen merken er und andere Kommandeure der Roten Armee, wie sehr sich ihr Marschall für rascheres Vorgehen nach Westen und Nordwesten zu interessieren beginnt. Kravtsenko rennt daher gegen das 1. SS-Panzerkorps, das die Hohe Wand, das Triestingtal und den Hohen Lindkogel noch immer verteidigt, mit aller Macht an.

Der Brucker Riegel bricht

Am Donnerstag, dem 5. April, als in Hochwolkersdorf mit Renner verhandelt wird und Käs wieder in Wien eintrifft, muß das Führerhauptquartier das Ausmaß der bevorstehenden Niederlage vor Wien zur Kenntnis nehmen. Rendulic kann aber in Berlin nichts hierüber erfahren. Das 2. SS-Korps an der Brucker Pforte beginnt unter den Schlägen der 46. Schützenarmee zu zerfallen, Hainburg und Deutsch-Altenburg gehen verloren, die umgebenden Ortschaften folgen nach. Nur bei Kittsee, wo das Ringen schon seit 2. April andauert, gelingt noch ein begrenzter Gegenangriff. Doch die 4. und 9. sowjetische Gardearmee operieren fast schon im Rücken des 2. SS-Panzerkorps, wenngleich sich beide Kräftegruppen jetzt mehr dem Wienerwald und seinem Vorgelände widmen. In der Ebene kommt russische Artillerie viel stärker als bisher zum Einsatz. Laxenburg wechselt in überaus blutigen Kämpfen dreimal den Besitzer, Mödling fällt nach einem Rückzugsgefecht, Maria-Enzersdorf und Sparbach müssen von den Deutschen geräumt werden. Das russische Panzerrudel bei Hochrotherd dreht plötzlich nach Osten ein, im Breitenfur-ter Tal flackern Kämpfe auf. Bald läßt sich erkennen, daß es dem russischen Kommando darum geht, nicht nur den Kleinen Semme-ring, sondern auch den Laaber Spitz in die Hand zu bekommen, weil damit die beiden letzten Verbindungsstraßen zur Westbahngegend ausgeschaltet sind. Die Besatzung der Polizeikaserne Kalksburg, die Luftnachrichtentruppen in Mauer, die aus dem Wiener Becken abgedrängten Einheiten in Liesing und die vielen Lazarettinsassen dieses Gebietes können nicht mehr nach Westen evakuiert werden, sondern müssen sich nach Wien selbst zurückziehen. Fast unbemerkt durcheilt russische Infanterie die Wälder am Rand des Gutenbachtales, wo noch vor kurzem Flakhelferinnen mit ihren einsamen Kanonen hausten, und dringt auf Kettenfahrzeugen in den Lainzer Tiergarten ein, der erst am Ostersonntag von der braunen Stadtverwaltung höchst amtlich dem Besuch geöffnet wurde.

Jetzt gelten auch die Rückzugslinien entlang der Westbahnstrecke als gefährdet, in Tullnerbach kämpft man schon um einzelne Häuser. Über dem Wienerwaldsee knattert Gewehrfeuer. Nur die Verbindung zum Riederberg funktioniert noch, obwohl auch dafür keine nennenswerten Verteidiger aufgetrieben werden können.

An diesem 5. April, als der tägliche Wehrmachtsbericht das Scheitern aller russischen Durchbruchsversuche im Süden Wiens bekanntgibt, zerbrechen die letzten deutschen Defensivstellungen zwischen Wiener Neustadt und Baden. Die Russen erobern Wollersdorf, das Feuer von den Bergrücken schweigt und die 6. Gardepanzerarmee im Triestingtal bleibt dem Feind bis in den Raum Hainfeld auf den Fersen.

Einzelne deutsche Flak-Batterien, wo die jungen Luftwaffenhelfer oder RAD-Männer nicht rechtzeitig nach Hause geschickt worden sind, halten sich noch einige Stunden als Igel inmitten des Meeres der 3. Ukrainischen Front. Die Verluste der Angreifer sind hoch, ihre Rache an den lebend erwischten Burschen und Mädchen der Bedienungsmannschaften ist dementsprechend. In nahezu allen Ortschaften liegen tote Zivilisten, Volkssturmmänner, SS-Soldaten und Rotarmisten herum, deutsche Kampfflieger werfen Bomben dazwischen, Artilleriebeschuß bringt den Krieg noch nach Stunden auf kurze Zeit zurück. Die russischen Kampftrupps ziehen weiter, die zweite Welle kommt an und das Frauenfangen beginnt.

Die rings um Wien vorgehenden Russen werden von der 5. und der 17. sowjetischen Luftarmee unterstützt, während die Deutschen dagegen etwas mehr als 100 Maschinen verschiedener Bauart einsetzen. Die Russen bringen außer ihren

Schlachtfliegern auch mittlere Bomber ins Kampfgeschehen, die zu einer Formation von maximal 50 Apparaten zusammengefaßt werden. Die Ortschaften rings um Wien leiden vermutlich etwas stärker unter deutschen Attacken als vorher unter den russischen Angriffen. Tolbuchin oder General Sheltow sollen übrigens Käs in Hochwolkersdorf versprochen haben, daß die Rote Luftwaffe nur taktische Ziele aufs Korn nehmen werde.

Wien selbst bekommt die russischen Flugzeuge schmerzlich zu spüren, da seit 4. April kein Luftalarm mehr gegeben wird und daher Passanten auf den Straßen, in Stadtbahnhaltestellen oder in Parkanlagen ohne Schutz von Bomben und Bordwaffen überrascht werden.

Wien in der Zange

Freitag, der 6. April, macht sich im Gegensatz zu den eher sonnigen Vortagen durch richtiges \ Aprilwetter bemerkbar. Für viele ist es der letzte Regen ihres Erdendaseins. Während in Wien da und dort Aufstandsversuche unternommen werden und die bekannte Verfolgungsaktion der Gestapo einsetzt, bringen die Russen nahezu den gesamten Wienerwald in ihren Besitz. Die Reichsstraße über den Rieder Berg und die Westbahn werden endgültig unterbrochen, Preßbaum und Purkersdorf fallen nach kurzem Gefecht. Gegen Abend huschen die ersten Pelzmützen durch Hütteldorf. Eine Panzergruppe des Generals Glagolew erreicht bei Greifenstein die Donau und deutsche Artillerie beginnt vom anderen Ufer herüberzuschießen. Von nahezu überall her schlagen sich Wiener Mannschaften ins Stadtgebiet durch und tauchen irgendwo im Häusermeer unter.

In den westlichen und südlichen Vororten stehen die riesigen Weinlager offen, Männer und Frauen waten bis zu den Knien in köstlichen Fluten. Auf der Südbahn wird ein mit Kochfetten angefüllter Güterzug von russischen Tieffliegern gestoppt und kann die rettende Verbindungsstrecke nach Westen oder Norden nicht mehr erreichen. Tausende pilgern von weit her zu den Waggons und versorgen sich, so gut es geht. Am Samstag, dem 7. April, brennen das Hauptzollamt sowie das benachbarte Hauptpaketamt im Herzen der Stadt, und die Verkehrsflächen ringsum sind von erlesenen Spirituosen und Textilien bedeckt. Dazwischen liegen Verwundete und tote Zivilisten, die von einem Tieffliegerangriff beim Plündern überrascht worden sind. Am gleichen Tag wird das große Barackenlager der Luftnachrichtentruppe am Georgenberg bei Mauer angezündet und ein ungeheures Feuerzeichen steigt zum Himmel empor. Erst am Abend des 8. April erfassen die Flammen den nördlichen Restteil dieser Militärstadt, während die letzten deutschen Soldaten eiligst abrücken.

Die Stärke der russischen Kontingente, die sich nunmehr unmittelbar westlich der Wohngebiete inmitten des Wienerwaldes versammeln, bleibt dem Kampfkommandanten des Verteidigungsbereiches Wien und seinen Mitarbeitern unbekannt. Die Aussage des inzwischen festgenommenen Majors Biedermann wird jedoch die schlimmsten Befürchtungen in dieser Hinsicht bestätigen. Andererseits rechnet der Kampfkommandant mit der Anwesenheit von etwa 40.000 Deserteuren im Stadtgebiet, weiß, daß er von der Südostflanke Wiens nur wenig für eine allfällige Verteidigung gegen Westen herauslösen kann und glaubt, daß größere Auseinandersetzungen mit jenen Widerstandsgruppen bevorstehen, die vom SD, der Gestapo und den SS-Jagdkommandos nicht mehr ausfindig gemacht werden können.

Am Nachmittag des 6. April wird angesichts dieser Entwicklung vom Wiener Funkhaus in der Argentinierstraße, wo eine Abteilung der Waffen-SS soeben den „Kampfsender Prinz Eugen“ installiert hat, das Stichwort „Wien, rechts der Donau“ ausgesendet. Dies bedeutet das Geheimzeichen zu umfangreichen Zerstörungen bei Versorgungsanlagen und am Verkehrssektor innerhalb des Stadtgebietes. Nur die Hochquellenleitungen werden von den Deutschen ebenso wie von den Russen weiterhin respektiert, wenngleich auch dabei Schäden auftreten. Der Wiener Feuerschutzpolizei, in Stärke von 3796 Mann und 627 Fahrzeugen, wird am gleichen Tag von der örtlichen Luftschutzleitung befohlen, die Stadt zu verlassen. Die Autos fahren in der Nacht zum 7. am Prater vorbei über die Reichsbrücke und sammeln sich in Kagran. Auch die meisten Ambulanzen müssen von Wien Abschied nehmen, der Rest geht bei Einsätzen zugrunde. Zur Linderung der Brandgefahr gibt es am Wochenende nur noch einige Gehorsamsverweigerer von der Feuerwehr mit drei oder vier alten Fahrzeugen.

Alle Anordnungen und Maßnahmen, die am Freitag getroffen werden, deuten bereits darauf hin, daß die Deutschen den Kampf vor den Toren der Stadt aufgeben wollen und selbst Wien nur kurze Zeit noch zu halten hoffen. Trotzdem findet sich kein Prominenter, der die seit langem diskutierte Erklärung zur offenen Stadt proklamiert oder eine Kampfeinstellung gegen freien Abzug anbietet. Hohe Nationalsozialisten suchen zwar Kontaktgespräche mit verdächtigen Offizieren und Zivilisten, aber es kommt nichts dabei heraus. Freilich will auch keiner der Machthaber sein Leben opfern, wie dies der Führer verlangt. Aber kaum einer glaubt, daß er jemals wieder in Wien existieren kann, und daher scheint allen der durch verläßliche Polizeiregimenter geschützte Fluchtweg über die Brigittenau und Floridsdorf die bestmögliche Alternative zu sein, wenn der Widerstand innerhalb des Häusergewirrs zusammenbricht. Zu spät wird niemand abreisen müssen, ob er nun Schirach, Dietrich, Bünau, Schubert oder Blaschke heißt. Auch alle höheren Polizei- und Gestapo-Beamten sowie viele politische Bezirksfunktionäre lassen sich rechtzeitig hinausschleusen. Nur der stellvertretende Gauleiter Scharitzer eilt zum Volkssturm und wird von den Russen gefangengenommen, während der NS-Bauernführer Wiens — wohl unter dem Eindruck der Osterschlacht im flachen Land — zu früh wegfährt. Er wird deswegen hingerichtet.

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