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Wien-West

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DER BAHNHOF sei, meinten die Architekten nach der feierlichen Eröffnung, mehr oder weniger „verunglückt“, und sie zählten eine lange Liste dessen auf, was man hätte besser machen können, schöner und großzügiger. Sicherlich, Wien-West ist keine Stazione Termini (man hat übrigens auch dort keine Fresken an die Wände gemalt). Aber unsere amerikanischen Freunde, die ihn vor drei Wochen zum erstenmal sahen, fanden ihn gemütlich: auf der ganzen Strecke von Holland herunter gebe es keinen netteren Bahnhof, erklärte John. Und Mary fügte hinzu, der Westbahnhof mache einen ausgesprochen wienerischen Eindruck; er wirke so freundlich, verglichen mit den rußigen, schlecht beleuchteten Hallen von Frankfurt oder Köln. Die Freunde waren in der letzten Dämmerung eines Novemberabends angekommen, gerade die beste Zeit: Das helle Lichtviereck der gläsernen Hallenwand, auf das die Gleise zuführen, ist dann wie eine geöffnete Tür in den schwarzen, mit dem dunklen Nebel verfließenden Häusersilhouetten, die Wärme verheißt und Zuhause.

In diesen Tagen wurde die Westbahn hundert Jahre alt. Es war ein großes Ereignis, als der erste Zug von Wien nach Linz dampfte in so vielen Stunden, als die Postkutsche für den gleichen Weg Tage gebraucht hatte, und man pries allenthalben den Fortschritt der Technik. (Zwischen New York und Baltimore verkehrten damals schon Schlafwagen.) Die Eröffnung einer Bahnlinie wirkte ja auf die Menschen jener Zeit viel unmittelbarer, erregender als auf den Zeitungsleser unserer Tage die Nachricht vom Start einer Mondrakete. Das liegt wohl nicht daran, daß wir ab-, gebrüTiter ' sind' und uris'“r Groß-““ leistüngen der Technik' nicfeSnienr beeindrucken können: aber der Dampfwägen nahm noch das Maß vom Menschen, den er von Wien nach Linz oder Salzburg beförderte, für eine Entfernung von 3 50.000 Kilometern fehlen uns jedoch alle irdischen Vergleichsmöglichkeiten.

Den alten Westbahnhof, der nicht einmal fünf Jahrzehnte nach der Einweihung schon zu klein geworden war, zerstörten — man muß sagen, glücklicherweise — einige gut gezielte Bomben. Von all der verbliebenen Gipsrenaissance seiner Fassade ist heute nur noch die Figur der Kaiserin Elisabeth übrig, die in irgendeinem Depot verstaubt. Den neuen Bahnhof haben die Städtebauer an die City herangerückt. Relativität der Entfernungen: wohin unsere Urgroßväter einen Nachmittagsausflug unternahmen, fahren wir in wenigen Minuten mit dem Taxi. Die alte Endstation der Westbahn lag außerhalb der Stadt, jenseits des Linienwalls, und diese Trennung wurde auch nach der Schleifung der Befestigung durch den häßlichen Graben der Stadtbahnstation und durch die Grünanlage aufrechterhalten. Noch 1945 fuhr man zum Westbahnhof „hinaus“.

DIE HALLE, architektonischer Hauptteil der Bahnhofsanlage, übt heute die städtebauliche Funktion eines Stadttores aus. Sie wirkt auch wie ein weit geöffnetes Portal, steht man gegenüber vor der Kirche, ist sie sozusagen die Antithese zum Begriff Wohngebäude: ein Haus, errichtet zum Hindurchgehen.

Bis zu fünfzigmal und öfter leuchten zwischen Mitternacht und Mitternacht die grünen Lichter an den Signalmasten auf, um ausfahrenden Zügen die Schienen freizugeben; das erste Mal um 0.20 Uhr für den D 229, der Kurswagen nach Basel und, über Stuttgart und Straßburg, nach Paris führt, vier Stunden später dann für den Personenzug nach St. Valentin, mm letztenmal um 23.35 Uhr für den P 2039 Wien-Sankt

Pölten. Und ebenso viele Züge haben zwischen 5.15 und 23.55 Uhr Endstation, bringen ihre Fracht von Glück und Trauer, Freude und Enttäuschung, Erwartung und Resignation. Bis zu fünfzig- oder sechzigtausend Menschen strömen an starken Reisetagen durch die gläsernen Schwingtüren, eine endlose Prozession eilfertig hastender, Koffer schleppender Gestalten.

Die Verkaufsbuden und Marktstände, die sich früher um die wichtigen Stadttore zu gruppieren pflegten, sind der Bahnhofshalle als chromglänzende, neonbeleuchtete Geschäftslokale eingebaut. Man kann im Bahnhof baden und die Haare schneiden lassen, Geld wechseln, Koffer kaufen, Bücher Zeitungen, Proviant, Zigaretten. Die Schaufenster sind geschmackvoll gestaltet. Trotzdem kam zur Atmosphäre der Halle in den letzten Jahren schon wieder ein wenig Basar-haftes': Hinter einem Tisch preist ein Bahnbeamter bunte Kursbücher und Lose der Bundesbahnlotterie an, gegenüber hat ein Schuhputzer seinen Stand aufgeschlagen, wenige Schritte weiter steht der Porträtphotoautomat mit seiner gardinenverhangenen Kabine: für fünf Schilling drei Photos in fünf Minuten. An eine Bude des Christkindlmarktes erinnert der Hotelanzeiger mit seinen farbigen Ankündigungen und bunten Lampen. Und auch die herrlichen Spielzeuge hat man wieder aufgestellt, an denen wir uns als Buben schon vergnügten, wenn gerade keine große Lokomotive ausfuhr: den Stadtplan mit den bunten Lämpchen, die aufleuchten, wenn man • den Knopf neben dem Wort „Stephansplatz“ oder „Hotel Bristol“ drückt, und jenen

Automaten, mit dem man für einige Münzen lange Wörter in blecherne Bandwürmer stanzen kann. Dazu kommen als neue Errungenschaft die drehbaren Fahrplantrommeln.

DIE BÄNKE, die man als sehr ungenügenden Wartesaal-Ersatz (wollte man die Reisenden auf diese Weise in das bahneigene Restaurant treiben?) aufgestellt hat, haben längst andere Funktionen. Vor allem sind sie Gratislogen für die Rentner aus der Umgebung. Für die alten Leute muß der Bahnhof zum Teil Kino-Ersatz sein, „ein Theater“, dessen Vorstellungen im großen zwar immer wiederholt werden, in den Details jedoch viertelstündlich Neues bringen. Sie sind recht bequem, diese breiten Holzbänke, und im Winter ist es in der Halle, wenn man einen Mantel trägt, erträglich und wärmer jedenfalls als in der Wohnung, die man von der kargen Rente nicht heizen kann. Kaum ein Bahnbeamter hat das Herz, die Alten zu vertreiben, die oft vom frühen Vormittag bis zum Abend beiderseits der Stiegenaufgänge — das sind die besten Plätze — sitzen und den Zug der Reisenden defilieren lassen. Man zeigt einander diese oder jene Gestalt, plaudert, ißt zu Mittag „aus dem Papierl“ und leistet sich mitunter auch ein Paar Würstel im Stehbüfett, wenn der Briefträger die Rente gebracht hat. So verdämmert der Lebensabend. In Beschaulichkeit? Nein, in Resignation. Denn die alten Leute sind wohl zu müde, um in gerechtem Zorn dagegen aufzubegehren, daß sie die Gesellschaft nach einem arbeitserfüllten Leben auf Hungerrationen setzte.

Wenn auf dem Europaplatz die Straßenlampen aufleuchten und die Alten, nach Hause gehen, kommen Leute in die Halle, die nicht die Absicht haben, noch wegzufahren. Der diensthabende Kriminalbeamte hat ein Auge auf diese Gestalten, die ziellos und betont unauffällig im langen Raum zwischen den Kassenschaltern und den Fahrplänen umherschlendern oder im Stehbüfett vor einem Glas Bier lümmeln. Auf den ersten Eindruck hin sind sie nicht leicht zu definieren. Aber der Mann im Lodenjanker, er sieht wie der Vizepräsident eines kleinen Vereins aus, ist ein polizeibekannter Kofferdieb. Herumtreiber lungern umher, kleine Gauner und auch junge Mädchen mit übergrell geschminkten Lippen.

Zwar ist der Bahnhof für die rund dreihundert amtlichen Prostituierten, die allabendlich zwischen Gablenzgasse und Graumanngasse auf dem äußeren Gürtel in dunklen Torbogen, im Schatten des Stadtbahnviaduktes und im trüben Zigarettendunst obskurer Lokale auf Kunden warten, verbotenes Revier. Aber man kann nicht immer gleich unterscheiden, ob ein Mädel auf den Freund wartet oder auf jemanden, der es anspricht. Die Polizei kann nicht überall zugleich sein und nicht immer verhindern, daß im Stehbüfett ein Zuhälter oder der Zutreiber einer Stoßpartie mit ahnungslosen Besuchern aus der Provinz ins Gespräch kommt.

DAS SCHIFF neben dem Abgang zur Mariahilfer Straße ist der Sammelpunkt der Gescheiterten. Der gläserne Kasten mit dem Modell des Ozeandampfers deutet eine Wand an, und der dunkle Winkel dahinter ist der bevorzugte Aufenthaltsort jener Gestrandeten, die im Polizeijargon „Sandler“ heißen und als Wiener Spielart der Pariser Clochards gelten können. Was bei diesen eine asoziale Lebensphilosophie, ein Individualismus par excellence sein mag, ist bei jenen jedoch nur stumpfes, dumpfes Dahinvegetieren. Sie fristen ihr armseliges Leben von Bettelei und gelegentlichen kleinen Diebereien. Wer ihnen ein Viertel Wein bezahlt, bekommt als Gegenleistung rührselige Lebensgeschichten zn hören, von denen fast jedes Wort erlogen ist. Die weniger sentimentale Wahrheit weiß der zuständige Beamte im Polizeikommissariat: Die meisten sind arbeitsscheue, vielfach vorbestrafte Individuen, bloß wenige glitten durch die Ungunst der Verhältnisse ab und fanden nicht mehr die Kraft, emporzusteigen. Der Bahnhof, in dessen Winkeln sie sich umherdrücken, bevor sie sich in irgendeinem Loch wie ein Tier zum Schlafen oder zum Sterben niederlegen, ist für sie

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DIE BAHNSTEIGE sind die Bühne, auf der die vielen tausend Menschen, die in der Eisenbahnstatistik als „ankommende und abfahrende Reisende“ füngieren, Stars und Chargen zugleich sind. Wenn auf dem Beton der Perrons rote Läufer aufgelegt werden und Männer im Cut, der internationalen Uniform der Diplomaten, hinter einem Polizistenzaun den Salonwagen eines ausländischen Staatsmannes erwarten, dürfen die „Leute aus dem Volk“ als Zuschauer sta-tieren; vor der Politik sind die unzähligen Einzelschicksale, deren Summe erst die Geschichte eines Volkes ausmacht, als Einzelschicksale allein nicht wichtig. In ihren kleinen Tragödien, Dramen und Komödien, aus denen sich das Leben eines jeden Menschen zu formen pflegt, ist jeder einzelne freilich der Hauptdarsteller.

Es sind ganz alltägliche Begebenheiten, die sich zwischen dem ersten und dem letzten Zug im Bahnhof abspielen. Endstation ist der Bahnsteig für manche, andere führt der Zug in einen neuen Lebensabschnitt, und viele steigen nur um.

Die Schwestern in den blauen Kleidern mit den gelben Armbinden wissen Bescheid über diese Geschichten, die, wie Literaten zu sagen pflegen, das Leben schreibt und die man nur sehr großen Dichtern glaubt. Es sind immer wieder dieselben Begebenheiten. Junge Mädchen kommen eines Tages mit einem Koffer vom Land in die Stadt, wenn sie Glück haben, finden sie einen Posten als Hausgehilfin, und haben sie Pech, landen sie auf der Straße. Freilich kommt das heuzutage relativ selten vor: Die Schwester hat ein geschultes Auge für junge Frauen, die mit wenig Gepäck noch ratlos auf dem Perron stehen, wenn die Reisenden längst durch die Halle zur Straßenbahn und zum Taxiplatz geströmt sind. Die Stellenberatung — in Wien etwa 1600 Beratungen jährlich — ist ein wichtiger Arbeitszweig der Bahnhofsmission, die sich ja vor allem den Mädchfn-crmtz zur Aufgabe gemacht hat. Dazu kommt noch die Betreuung mittelloser Reisender.

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