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Heute in der „Zone“

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WENN MAN EINEN schwerkranken Bruder in der DDR hat, und zudem Glück an der Passierscheinstelle, dann darf man auch als West-Berliner für einige Tage in die Zone fahren. Durfte jedenfalls: vielleicht zerriß der Stacheldraht durch Berlin auch diese Verbindung — und unsere Reise gehörte zu den letzten, die noch genehmigt wurden.

Wir durften also fahren. Und von der Anmeldung auf der Meldestelle der-Volkspolizei an drängten sich die Zeichen des Druckes auf, unter dem die Bevölkerung in Ostdeutschland lebt Denn die Frau da vor uns bittet um die polizeiliche Ermittlung ihres Untermieters, der von einer Fahrt nach Leipzig nicht, zurückkam und den geborgten Koffer mit sich nahm; Miete hatte er auch nicht mehr bezahlt. „Das kennen wir“, meint der Beamte, „sagen Leipzig, und dann sind sie weg nach West-Berlin.“ Er will nachden- ken, was sich wegen des Koffers tun läßt. Unbewegt dann sein Gesicht, als er meinen Ausweis sieht: West-Berlin.

ÜBERALL IN OSTDEUTSCHLAND liest man die Parole: „Noch mehr arbeiten, noch schneller, noch besser!“ — Also sinken die armen Zonenleute abends todmüde von der Last ihrer „freiwilligen“ Selbstverpflichtung ins Bett? — Mir schien es nicht so. Verpflichtungen sind verbal. In Wirklichkeit wird gefaulenzt. Das Arbeitstempo ist geringer als im Westen, die Arbeitszeit allerdings wesentlich länger. Aber auch hier herrscht Heuchelei. Niemals entsprechen die Zahlen der Wirklichkeit. So verpflichten sich die Schüler schon zu einer ganzen Anzahl Aufbaustunden, immer hübsch klassenweise. Sie können diese Stunden allerdings auch durch andere abarbeiten lassen. Es herrscht ein schwungvoller Handel. Ein Bekannter ging für seinen Sohn (der solle lieber Vokabeln lernen, meinte er; auch wenn es „nur“ russische sind!). Als alter Arbeiter hielt er die Schaufel nicht ruhig, sondern arbeitete. Nach vier Stunden am Sonntagvormittag schrieb ihm der Brigadier zehn an: „Du hast ja wirklich was getan, Kollege“, sagte er. So entstehen die imposanten Zahlen! Denn jeder Brigadier muß ja schließlich seinen Konkurrenten ausstechen: in Zeit- und Wertzahlen, nicht in Leistung. Was stört’s, wenn sie „geschaukelt“ sind! — Natürlich werden die neuen Unternehmen des Nationalen Aufbauwerkes immer wieder mit großem Aufwand gestartet; natürlich mit viel „Schwung und Idealismus“ angeheizt. Gewiß sind auch Erfolge aufzuweisen: Straßenbahnwartehallen, Tiergärten, Kinderspielplätze. Aber das „werktätige Volk“ findet nur selten ein inneres Verhältnis zu den Projekten, bestellte Begeisterung schafft keine Verbindung. Bald erlahmt der Eifer: die Spielplätze verfallen, die Wartehallen verschmut-

zen (falls nicht ein alter Pg. als Parteiauftrag die Säuberung übernimmt).

IN MEINER NACHBARSCHAFT etwa gab es eine Neubausiedlung. Gleich nach dem Einzug hatte ein findiger Bewohner begonnen, sich ein kleines Gärtchen vor dem Haus anzulegen, zog da seine Blumen, sein Gemüse, andere folgten. Bald umgab eine Fülle von Kleingärten die Wohnblocks, privat, eifersüchtig gehütet. Aber gut gehalten. Es tat ja auch jeder für sich. — Das aber entsprach nicht kommunistischer Ideologie. Also riß man die Zäune ein — im Nationalen Aufbauwerk —, planierte das Gebiet. Und dann blieb es liegen, schon drei Jahre jetzt. Verwildert. Mit einigen Trampelpfaden dazwischen. „Mitchurin-Versuchsge- lände zur Züchtung hochstämmigen Unkrautes“, spötteln die Leute. — Funktionäre nennen das Überbleibsel kleinbürgerlicher Besitzgier. Der Schritt vom Ich („mein“ Kleingarten) zum Wir („unsere“ Anlage) ist noch nicht vollzogen. Sie glauben, daß er möglich ist; und planen eine neue, gemeinsame Anlage für 1967.

Auch sonst machen den Funktionären „kleinbürgerliche, kapitalistische“ Verhaltensweisen zu schaffen. Immer wieder müssen sie ihnen nach geben, damit noch ein Weitermachen möglich bleibt. Auch in der Zone regiert das Geld, wird Wert als Geldwert gemessen. Schon längst muß man in Ausstellungen wieder bezahlen. Eintritt frei heißt wertlos. Theaterkarten wurden teurer; allzu billige Karten nämlich, wie sie früher viele Betriebe ausgaben, lassen die Leute verfallen. Wertlos! — Theoretisch natürlich spricht jeder nur vom Wir-Denken. Prämien aber, genau gestaffelte Son- dervergünstigungen (und sei es der Passierschein in den Westen!) sorgen für scharfen Konkurrenzkampf: jeder gegen jeden. Schärfer als bei uns sind die sozialen Klassen, differenzierter! Ein „verdienter Arbeiter" ist noch lange kein „Held der Arbeit“; ein Traktorist mit einer Selbstverpflichtung zu 100 freiwilligen NAW-Stunden bis zur Wahl weniger wert als ein „schreibender Genossenschaftsbauer“ (das ist ein Bauer, der Geschichten schreibt für die Parteizeitung und dadurch den Beweis erbringt für die „Erstürmung der Höhen der Kultur durch das werktätige Volk“).

ÜBERBLEIBSEL kapitalistisch-individualistischen Denkens sind es auch, die den Bewohnern die Versorgungslage ungenügend erscheinen lassen. Hausfrauen schimpfen, weil es heute keinen Karfiol gibt (gestern war er da). Nun sollen sie plötzlich Spinat kochen. Denn etwas gibt es immer. Aber gerade die fehlende Auswahl erbost. Eine regelrechte Notpsychose herrscht. Man hamstert, auch, was nicht gebraucht wird; auch, wenn es verkommt. Kartoffeln verfaulen im Keller. Man stürzt sich auf die neuen. Schlangen gehören zum alltäglichen Bild. Kommt ein Kartoffelwagen, so schüttet er seine Fracht auf den Bürgersteig: von dort wird sie dann verkauft. Samt Straßejndreck. Was stört’s,, wenn jedesmal eiftV Zentner zertrampelt wird? Niemand arbeitet ja für seine eigene Rechnung, So könnte es durchaus stimmen, daß der Pro- Kopf-Verbrauch der Zone in den wichtigsten Nahrungsmitteln, Fett, Eier, Brot, Kartoffeln, höher liegt als in Westdeutschland (so steht es fast täglich in den östlichen Zeitungen): aber allzuviel verkommt, landet nicht im Magen, sondern in der Gosse. Allgemeine Achtungslosigkeit, Egoismus. Was geht’s mich an! (Objektiv fehlen natürlich alle feineren Dinge; alles Modische, Schicke. Dafür wird Volkskunst reichlich und gut angeboten. Haushaltgeräte sehr wenig. Radios in Massen. Fernseher? Nun, es gibt jahrelange Wartezeiten für Nichtfunktionäre; aber die Gesamtzahl der Fernsehgeräte soll höher sein als die

Frankreichs mit der wesentlich größeren Bevölkerung. Auch das könnte stimmen. Ich sah kaum ein Haus ohne Fernsehantenne. Schließlich ist der Flimmerkasten ja auch ein vorzügliches Propagandamittel. Wirklich? Denn viele sahen West! — Allgemein schlecht ist die Qualität. Reparaturen sind häufig. Die Produktionszahl wird ja nur ßSWSffif nj ht dįp,Reldamatio- nen. Gcrödef wird naWrfick- ständig von der Qualität, von sozialistischer Qualität; geredet " und ’ "geschrieben. Auch hier also Bewußtseinsspaltung.)

Diese ständige Diskrepanz aber zwischen Reden und Wirklichkeit, zwischen Planziffern und brauchbaren Produkten, zwischen öffentlichen Erklärungen und dem eigenen Fühlen, zwischen Verb und Tat, zwischen dem Staat des „einen großen Wir“ und der Ausnutzung der Mehrheit durch eine kleine Schicht Privilegierter: all das vergiftet die Atmosphäre, macht das Leben so unerquicklich, bewirkt die geheime Trauer und diesen undefinierbaren Geruch von Muffigkeit, der allem anhaftet. Jedes harmlose Wort ist hier Lüge: weil es Schweigen einschließt über anderes; und dieses

Schweigen überall spürbar ist. Für uns Besucher jedenfalls, die wir für zwei Wochen in der Zone sein dürfen.

TROTZ ALLEM: auch drüben ist ein kompletter Staat; alle Rollen sind besetzt. Verwirrend wird dem Besucher das immer wieder klar. Auch drüben lachen Kinder, sind Litern stolz; auch drüben fahren Mähfier mit Autos die schicken, schmachtenden Damen, Burschen mit Motorrädern die lebenslustigen Mädchen. Auch dort steht der Regenbogen über den Feldern, die Pflaumen schmecken frisch vom Baum. Sonntag nachmittags geht man spazieren: auch, wenn man sich im Gasthaus selbst bedienen muß (ein Kellner verdient halt mehr im Westen!), falls man überhaupt eines findet: eine Vielzahl von ihnen hat geschlossen. Irgendwo ordnet es sich doch: das Spiel wird gespielt. Und nun hat man sich entschlossen, das große Experiment im geschlossenen System zu spielen: statt Eigennutz und Eigentum und Eigendenken das Kollektiv des großen Wir. Gegen Aderlaß und böse Einwirkungen von außen geschützt durch Stacheldraht.

Natürlich gibt es drüben auch Freude über die Grenzziehung; nicht nur bei den Funktionären, auch bei all denen, die selbst wohl gerne gehen wollten, sich aber irgendwelcher Bindungen wegen nicht aufraffen konnten und nun das Leben im „Schlaraffenland“ auch den anderen nicht gönnten. Das erklärt auch die Wut, mit der die Vopos jetzt in Berlin auf die Demonstranten einschlagen: immer werden die Verbrechen schärfer geahndet, die man selbst gerne begehen möchte.

Am Dienstag waren wir dann wieder in Berlin. Sehr höflich, aber kategorisch war eine Verlängerung unserer Aufenthaltsgenehmiguung abgelehnt worden. Sehr höflich auch die Polizisten in Berlin bei ihrer Kontrolle. Zum erstenmal sahen wir die frischen Bohlenverschläge an den gesperrten S-Bahn-Ausgängen.

UND WEST-BERLIN? - Auch hier ist keine reine Trauer, kein reines Mitleid. Trübe Racheinstinkte wurden freigesetzt; man weiß nicht recht, wohin eigentlich schlagen. Deshalb wird viel geschimpft hier in den letzten Tagen. Die goldene Berliner Schnoddrigkeit hat ihr Gleichmaß noch nicht wiedergefunden, die letzten Ereignisse noch nicht verdaut. Und selten nur löst sich die Verärgerung so echt wie in jenem Ausspruch an der Sektorengrenze: Der West-Berliner (es muß ein gemütlicher Dicker gewesen sein!) zum Volkspolizisten: „Wenn de hier zumachst, Je- nosse: wie willste denn dann türmen?“

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