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Gespräche in Ost-Berlin

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ICH HATTE IN OST-BERLIN KEINE FREUNDE und keine Adresse in der Tasche. Ich hatte wenig Hoffnung, Leute zu finden, die zu einem offenen Gespräch mit einem wildfremden Ausländer — noch dazu mit einem Journalisten — bereit sein würden. Ich erwartete, auf eine Mauer der Vorsicht, des Schweigens, der unverbindlichen Ausflüchte zu stoßen. Es kam ganz anders.

Man braucht sich heute keineswegs besonders geschickt anzustellen, wenn man wissen möchte, wie die Menschen, mit denen man in Ost-Berlin gerade zusammentrifft, denken. Nichts leichter, als ins Gespräch zu kommen.

Die wenigen Kaffeehäuser sind gesteckt voll. Man sitzt gedrängt um die Tische. Man spricht. Über die Torte, die man gerade ißt. Der VEB (volkseigene Betrieb), aus dem sie kommt, führte einst den Hoflieferanten im Firmenschild. Und über die Gegenwart. Der Gespächspartner bezeichnet sie als trist.

„Warum ist das Lokal so voll?”

„Wo sollen die Leute jetzt noch hingehen?”

Ja, wohin? Die wenigen Tanzlokale sind voll. Jeder Sessel wird besetzt. Die Weiblichkeit ist klar in der Mehrheit. Sie erscheint in Gruppen, zu zweit, zu dritt, zu viert… Viele Herren tragen Uniform. Akuter Mangel an Tanzpartnern. Mädchen, die sich anderswo der Kavaliere nicht erwehren könnten, bleiben hier als Mauerblümchen sitzen.

Selbstverständlich tanzt man in Rock und Pullover. Und ebenso geht man ins Theater. Dafür wird im Foyer nicht über die Garderoben gesprochen,

sondern über Literatur. Und darüber, wie der und jener wohl heute dächte und wie es ihm erginge, wäre er noch am Leben.

„Aber sprechen Sie leise! Übrigens — kennen Sie den? Unter den Linden lang gehen eine Nähnadel und eine Stecknadel. Sagt die Stecknadel: .Übrigens, was hältst du von der Entstalini- sie..,Pst!’ fällt ihr da die Nähnadel ins Wort. ,Sei ruhig! Hinter uns geht ne Sicherheitsnadel!” “

Sogar mit dem einen oder anderen Volkspolizisten, der die „Maßnahmen des 13. August” bewacht, kommt man, wenn man Glück hat, ins Gespräch. Ich hatte Glück. Er erzählte mir von seiner Familie. Scheuer Seitenblick. „Denken Sie, ich wäre noch da, wenn ich allein wäre?”

Der Taxifahrer, der mich durch die Friedrichstraße kutschiert, erzählt, wie es einst hier aussah. „Der Kudamm war damals zweitrangig, wissen Sie. Unter den Linden, Friedrichstraße, das war .der Nabel der Welt. Sehen Sie sich heute hier um, dann wissen Sie alles.”

Und dann tischt er den neuesten politischen Witz auf: „Ulbricht und Chruschtschow gehen auf der Straße.” Aber so neu ist der gar nicht. Den haben wir schon vor zwanzig Jahren gehört. Viele von den damaligen Witzen sind heute in Ost-Berlin, nur wenig verändert; wieder da. Und viele neue dazu.

Bekanntlich ist politischer Druck Grundvoraussetzung für die Entstehung politischer Witze. Wenn man von den Witzen auf das Ausmaß des Druckes schließen darf, dann ist der Druck, unter dem die Ost-Berliner leben, bereits sehr schwer zu ertragen. Aber man braucht sich keine Witze anzuhören, um das zu merken. Berlin war immer eine Stadt der schnellen menschlichen Kontakte, und der Berliner pflegt mit seiner Meinung nie hinter dem Berg zu halten. Heute jedoch redet der Ost-Berliner mit dem Mut der Verzweiflung. Er redet und weiß nicht, wer am Nebentisch sitzt, es ist ihm auch egal: „Wenn Sie alle verhaften, die das Maul aufmachen, müssen Sie aus Ost-Berlin ein einziges Gefängnis machen, und das ist es sowieso schon. Was kann uns also noch passieren?”

Ein Kesselwärter, dem sein Leben lieb ist, hütet sich bekanntlich, die Feder des Sicherheitsventils allzu streng anzuziehen. Wohl aus dem gleichen Grund kann sich die Ost-Berliner Bevölkerung heute, was Meinungsäußerung betrifft, tatsächlich einiges erlauben. Der Mund als Sicherheitsventil …

EINE INGENIEURSCHÜLERIN: „Wie meine Kolleginnen denken? Die denken genau wie ich, aber wir sprechen immer nur zu zweit und auch das selten, denn unter uns ist eine, der wir nicht ganz trauen. Meine Eltern? Mein Vater war Bauer, jetzt ist er Funktionär einer LPG (Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft). Viele gingen einfach vor die Hunde, wenn sie ihren Hof verloren hatten, aber man muß sich wohl anpassen, man kann die Dinge ja nicht ändern. Wenn er für die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft arbeitet, kann er wenigstens auf dem Hof bleiben, der ihm früher gehört hat, sagt sich mein Vater, und halbe Arbeit liegt ihm eben nicht. Aber ich sehe ihn selten. Man will nicht, daß wir allzuoft heimfahren. Warum nicht? Ganz einfach. Wir sollen wohl nicht zuviel daheim erzählen, wie es in Berlin ist. Und in Berlin, wie es draußen ist…”

EIN SCHAUSPIELER: „Ja, meine Wohnung in West-Berlin mußte ich nach dem 13. August aufgeben. Ich mußte mich entscheiden, hier oder dort, und ich entschied mich für hier. Wie ich über Politik denke? Hören Sie mal: Wenn die oben keine Gesinnung haben, brauche ich ?uch keine. Ich will arbeiten und sonst nichts, verstanden?”

EIN ARZT: „Ja, vor dem 13. August habe ich oft an Flucht gedacht. Ich hätte ohne weiteres hinübergehen können. Jetzt ist es zu spät. Ob ich es tun würde, wenn ich die Möglichkeit hätte? Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. So lange es hier Menschen gibt, müssen auch Ärzte hier sein. Man braucht uns. Man soll nicht nur an sich denken. Politisch läßt man mich vorläufig in Ruhe. Und die Dinge, die man im Westen zu kaufen bekommt, die brauche ich nicht!”

EIN FUNKTIONÄR: „Ja, ich gebe Ihnen zu, daß wir hier Versorgungsschwierigkeiten haben. Aber das wird sich nun ändern. Wie soll ein Staat seine Wirtschaft auf bauen, wenn ihm die Menschen davonlaufen? Wie soll es besser werden, wenn sie sich von den vollen Schaufenstern des Westens blenden lassen und wegrennen, statt ihre Kraft einzusetzen, daß es bei uns auch besser wird? Wir haben versagt, sagen Sie, Beweis unsere wirtschaftliche Lage? Fünfzehn Jahre Zeit vertan? Mann, bauen Sie einmal den Kommunismus mit einer Bevölkerung auf, die nicht mitmachen will. Die der Vergangenheit nachweint. Wir müssen die Menschen umerziehen. Aber wir werden dabei ständig gestört. Ja, wir müssen einen gewissen Druck ausüben. Man darf die Menschen nicht zwingen, sagen Sie? Man soll sie frei entscheiden lassen? Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet ein Adenauer- Deutschland. Das bedeutet ein Strauß- Deutschland. Das bedeutet Krieg! Wollen Sie Krieg? Aber ich muß jetzt gehen. Das Gespräch war sehr interessant. Doch lassen Sie, bitte, meinen Namen aus dem Spiel.”

EIN ARBEITER: „Lassen Sie sich nicht täuschen, wenn Sie unsere leeren Straßen sehen, in denen keine Autos parken. Lassen Sie sich nicht täuschen, wenn Ihnen die Leute von all den schönen Dingen vorschwärmen, die es im Westen zu kaufen gibt! Fragen Sie doch mal die Leute ganz ernst: Was wäre euch lieber? Die Versorgungslage bessert sich, ihr bekommt hier alles wie im Westen, und die Mauer bleibt stehen. Oder — ihr müßt auf noch mehr Dinge verzichten, ihr müßt auch immer wieder nach Ost-Berlin zurückkommen, aber ihr könnt in den Westen gehen, sooft ihr wollt. Ich gehe jede Wette ein, daß die Leute nur eins wollen: Die Mauer weg! Denn wir könnten noch größeren Mangel ertragen, wir könnten noch viel größere Entbehrungen auf uns nehmen, nicht die materiellen Zustände sind es, was uns das Leben hier so schwer macht. Aber diese stickige Luft, dieser Maulkorb, dieser Polizeistaat und vor allem: diese Mauer vor der Nase, dieses Gefängnis, das ist unerträglich. Glauben Sie mir: Unerträglich! Sie glauben mich jetzt ganz zu verstehen, aber Sie können nicht verstehen, was wir fühlen. Heute abend sind Sie wieder in West-Berlin. Morgen oder übermorgen sind Sie wieder in Ihrer Heimat. Und Sie können jederzeit reisen, wohin Sie wollen, Sie brauchen nur eine Fahrkarte zu kaufen. Sie können lesen, was Sie wollen, Sie können jedes Theaterstück sehen, jeden Film … Uns bleibt nur eines: Die Hoffnung, daß es auch für uns mal wieder anders wird.”

EIN KÜNSTLER: „Vor zehn Jahren wollte ich noch am liebsten mit einer roten Unterhose über den Alex laufen. Aber mittlerweile wurden wir als geheilt entlassen!”

EIN INTELLEKTUELLER: „Der Westen schätzt vollkommen falsch ein, was sich heute in Ostdeutschland tut und wie die Menschen hier denken. Der Westen glaubt, jeder, der gegen Ulbricht ist, müsse für den Westen sein. Aber der Westen irrt sich. Mit den Ostdeutschen ist es heute das gleiche wie mit einer Frau, die ganz besonders stark liebt und deren Liebe in das Gegenteil umschlägt, wenn sie glaubt, verraten worden zu sein. Vielleicht interessiert es Sie, daß sich heute in Ostdeutschland eine immer größere Abneigung gegen die Phrasen von den Brüdern und Schwestern in der Zone’ bemerkbar macht, die in jeder Sonntagsrede zitiert und per Radio herüberposaunt wird. Was tun denn die Brüder und Schwestern für uns? Sie schik- ken uns ein Viertelpfund Kaffee. Sie geben Almosen. Aber wir wollen keine Almosen, sondern als Menschen voll genommen werden. Sie reden drüben von Freiheit und von ,Brüdern und Schwestern in der Zone” und meinen ihren Mercedes, den sie nicht verlieren möchten. Es könnte der Tag kommen, wo die Ostdeutschen, dann, wenn man ihnen sagt Jetzt räumt mal auf mit den Mercedesfahrern, jetzt zeigt denen man, was wirklich los ist!’, aus Haß, Neid und Enttäuschung sagen: Jawohl!” Denn was wir vom Westen wirklich erwarten, das sind nicht Almosen. Sondern wir wollen, daß Westdeutschland zusammen mit seinen Alliierten das ganze Gewicht seiner internationalen Position für uns in die Waagschale wirft, daß man sich zu annehmbaren Bedingungen an den Verhandlungstisch setzt und erträgliche Lebensbedingungen für uns aushandelt. Wir wollen auch die Sonne wieder mal sehen!”

MAN MUSS DIE STALINALLEE, pardon, die Karl-Marx-Allee, gesehen haben, man muß die Aufführungen des Theaters am Schiffbauerdamm und die des politischen Kabaretts „Distel” gesehen haben, man muß im Restaurant „Budapest” und im „Warschau” und im „Cafe der Presse” gewesen sein.

Man muß die Mauer gesehen haben, die in Ost-Berlin offiziell nur in der euphemistischen Umschreibung „Maßnahmen des 13. August” auf scheint. Man muß sie gesehen haben.

Vor allem aber muß man gehört haben, was hinter der Mauer gesprochen wird. Ob es nun in das mitgebrachte Bild der Lage paßt oder nicht. Ob einem recht ist, was man hört, oder nicht.

Ich hatte in Ost-Berlin keine Freunde, als ich ankam. Als ich äbflog, hatte ich welche

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