6631827-1956_42_07.jpg
Digital In Arbeit

In Anatolien trinkt man Wasser

Werbung
Werbung
Werbung

„WOLLEN SIE DIE LEINTÜCHER nicht wechseln?“

„Die sind rein!“ stellte der hotelbesitzende Schnauzbart kategorisch fest.

„Zweifellos, aber jemand scheint schon in dem Bett geschlafen zu haben!“ scheint man noch hinzufügen zu müssen.

„Na und?“

Dann, nach einer Pause: „Wenn's dem Bezirksobmann, der vor Ihnen da geschlafen hat, recht war, wird's wohl auch für Sie passen!“

DAS WAR ZWEIFELLOS LOGISCH und ich sah mich angesichts der Tatsache, daß die anderen Hotels des kleinen Oertchens um kein Haar besser aussahen, wohl oder übel genötigt, in den saueren bzw. schmutzigen Apfel hineinzubeißen.

Was mochten wohl die beiden amerikanischen Fernsehreporterinnen, die vor knapp einem Jahr die Türkei bereisten, an ähnlichem erlebt haben, daß sie Journalisten gegenüber erklärten, die Türkei und besonders Anatolien seien ja gewiß von großer, ja außergewöhnlicher Schönheit, aber trotzdem empfehle es sich nicht, Touristen ins Land zu rufen. Die -Schwierigkeiten hinsichtlich der Straßen und der Hotellerie seien doch zu groß ...

DAFÜR ABER ÜBERBIETEN SICH DIE LEUTE an Freundlichkeit, und selbst der erst brummig scheinende Herbergsbesitzer, der sich stolz „Hotelier“ nennt, scheint mich schon fast zur Familie zu rechnen. Im Gasthaus versucht ein schmutziger kleiner Junge sogar die Trinkgläser auszuwaschen, bevor er sie auf den Tisch stellt, und ein anderer Gast erwirkt sogar, daß ein fast reiner Glaskrug mit frischem Quellwasser auf meinem Tisch prangt, da er es als eine Schande empfindet, einem Fremden einen verzinnten Kupferkrug zu reichen.

GANZ VERSTEHEN ES DIE EINHEIMISCHEN ja nicht, daß da einer so ohne Sinn und Zweck durch das Land fährt. Zwar ist Mehmet, der Sohn des Nachbarn, ja auch vergangene Woche nach Ankara gereist, aber da hat er seinen Onkel besucht. Auch daß Geschäftsleute nach Istanbul oder Izmir (Smyrna) müssen, ein Einberufener an den Ort, den sein Gestellungsbefehl angibt — aber sonst? Erst wenn man ihnen erzählt, daß man die Schönheiten des Landes kennenlernen will, um dann in seiner Heimat Bilder von der Türkei zu zeigen, stößt man auf mehr Verständnis, und wenn die Frage schon nicht gestellt wurde, so fällt sie jetzt.

„ACH, AUS ÖSTERREICH'“ Einige der Umstehenden scheinen nicht recht im Bilde, aber der Frager, ein alter Türke, weiß Bescheid: „Haben wir nicht mit Oesterreich und Deutschland zusammen im ersten Weltkrieg gekämpft? Oesterreich und die Türkei sind alte Freunde“, sein freundliches Gesicht strahlt jetzt vor ehrlicher Zuneigung, „und ich habe viele gute Freunde unter den Avusturyali, den Oesterreichern, gehabt.“

Die Leute sagen es nicht mir zuliebe, weil sie mir eine Freude machen wollen, eine billige Freude, die nichts kostet. Ein Engländer oder Franzose, Italiener oder Amerikaner würde dergleichen nie zu hören bekommen, wiewohl man gegen Fremde höflich zu sein hat. Alle beteiligen sich nun an dem Gespräch und jeder will auf irgendeine Weise behilflich sein. Wohin man wolle? „Nach Milet und dann weiter nach Didyma.“

Einer hat einen Bekannten, den Kahvedschi des Tigris-Kaffeehauses. „Der weiß, wie man dahin kommt, fragen Sie ihn “

Längst hat man sich abgewöhnt zu fragen, ob wohl auch in Yenihisar. wie das berühmte Apollonorakel Didyma heute heißt, Hotels zu finden seien; längst findet man es selbstverständlich, daß dies ein Problem zweiten Ranges ist.

Findet sich nicht alles sowieso von selbst? Weiß nicht der besagte Catetier einen Kaufmann, der vielleicht Bekannte in Didyma hat?

Nein, in Didyma selbst nicht, aber in Milet. Dorthin wolle man doch auch. Es sei ia auch auf dem Weg: er werde gleich einen Brief an den Ortsvorsteher schreiben.

IST ES VERMESSEN, daß ich mir die Autobuskarte gleich bis Didyma löse? Keineswegs, denn noch ehe ich in ienem vierrädrigen Etwas, das da gezählte 35 Mann nach Milet und Didyma führen will, richtig Platz nehmen kann, geht das gewohnte Frage-und- Antwort-Spiel schon los und ich bin von einem der Dörfler auch schon eingeladen. Weiß man in Europa noch, was Gastfreundschaft heißt? Kennt man das Wort in unseren von Touristen überfluteten Fremdenindustriegebieten überhaupt noch?

Es ist doch selbstverständlich, 'daß der Gast 1 in der „guten Stube“ schläft und sich 'der Besitzer des Hauses mit seiner Frau im Freien unter einem Vordach zur Ruhe begibt, da im anderen Zimmer Verwandte wohnen, die gerade zu Besuch sind.

ES IST GERADE DIESE SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT, mit der alles geboten wird, die den größten Eindruck macht. Kejnen größeren freilich als der herrliche Apollontempel, der unter dem Priestergeschlecht der Branchiden stand und sogar mit Delphi rivalisierte.

Doch es ist vergeblich, ihn mit Worten beschreiben zu wollen; auch ein Bild kann der gewaltigen Wirkung seiner Ruinen kaum Ausdruck verleihen. Ringsum liegen Säulentrommeln, ein großer Block mit einem Medusenantlitz. Bedauert man noch, daß der Autobus für 65 Kilometer geschlagene sechs Stunden gebraucht und dabei die Funktion einer Betonmischmaschine übernommen hatte? Denkt man noch an den fehlenden Komfort, an den Mangel von Strom und fließendem Wasser, an die Tatsache, daß man nach Landessitte nicht in einem Bett, sondern auf dem Fußboden schläft?

Man ist allein mit sich auf der Welt, allein mit der gegenständlich gewordenen Schönheit. Was für Reichtümer birgt doch dieses Land, welch einmalige Kunstschätze aus der Antike! Pergamon, Troja, Smyrna (mit seiner antiken Agora), Ephesus mit der Wohnstätte der aller-heiligsten Jungfrau, die die Türken Meryem ana (Mutter Maria) nennen; Priene, Milet, das Tal der tausend Klöster bei Kayseri, das besterhaltene Theater der Antike in der Nähe von Antalya...

MAN TRIFFT SELTEN FREMDE. Bloß einen Wächter, der darauf zu sehert hat, daß der Tempel oder das Theater nach wie vor an seinem Platz steht. Er braucht mir nicht zu erklären, weshalb er mir keinen Kaffee anbieten kann, denn mir ist das jüngste Nationalleiden der Türken leider schon längst vertraut: es gibt keinen.

Weshalb es keinen Kaffee gibt? Das Land hat keine Devisen, aber statt dessen einige Milliarden Türkpfund an Auslandschulden. Man merkt es auf Schritt und Tritt. Der Postjeep kann nicht verkehren, weil ein Reifen so gründlich geplatzt ist, daß man ihn herunternehmen und statt dessen Stroh und Zweige auf die leere Felge binden mußte. Immer mehr Autos stehen in den Garagen aufgebockt und stellenweise herrscht Knappheit an Treibstoff, Ersatzteile sind keine erhältlich, und hundert Traktoren rosten in den Scheunen der Großgrundbesitzer. Manche wichtige Medikamente sind unauffindbar. Filme seit langem nicht mehr erhältlich. Nicht einmal Leukoplast bekommt man, und Fackpapier mußte ich mir neulich antiquarisch besorgen, aus zweiter Hand ... /

UND DIE PREISE KLETTERN. Wie es in solchen Fällen international üblich ist, war der Ministerpräsident zuversichtlich und negierte die Teuerung, erklärte sie als nichtexistent. Man wandte sich an Amerika, die finanzielle

Feuerwehr der halben Welt. Aber man bekam kein Geld.' .Weshalb nicht? Kannten denn die Amerikaner das schöne Plakat nicht, das den türkischen Staatspräsidenten und Eisenhower Hand in Hand zeigte und die Beschriftung trug: „Die Garanten des Friedens!“ Wie auch immer, sie sagten beim Abschied etwas sehr Undiplomatisches, was deshalb besonders empörend wirkte, weil es zu stimmen schien: „Ihr braucht nicht bloß Geld, sondern auch Verstand!“ Und die Opposition, die schon immer gegen die riesigen Investitionen des Kabinetts Menderes gewesen war, hatte neuen Wind in die Segel bekommen. Soviel Wind, daß es beinahe Sturm gab.

NUN ABER HATTE DIE REGIERUNG eine gute Idee. Man konnte die Preise senken. Wie? Am besten mit einer Verordnung, die den schönen Namen „Staatsschutzgesetz“ trug und besagte, daß lediglich eine Gewinnspanne von 10 Prozent erlaubt sei und jeder Kaufmann bei Strafe solange verkaufen müsse, bis sein Lager leer sei. Nun ist es aber so weit, was nun? Ganz einfach, man ändert das Gesetz und billigt wieder eine höhere Gewinnspanne zu.

MEHRERE FABRIKEN MUSSTEN SCHLIESSEN und nun sind noch weniger Artikel als bisher erhältlich, da viele Großhändler bei Waren mit Bruchgefahr das Risiko nicht auf sich nehmen wollten, für ein zerbrochenes Stück zehn andere verkaufen zu müssen, bloß um die Bilanz mit Null auszugleichen. Die Arbeitslosigkeit steigt sprunghaft, da die Geschäfte ihre Regien verringern müssen. Aber es gibt natürlich keine Unterstützung. Es gibt allmählich überhaupt nichts mehr, nur immer neue Banken, Rücktritte von Ministern und Versprechungen.

ABER DIE LEUTE SIND GEDULDIG. Sie schütteln wohl ab und zu die Köpfe, aber sie sprechen nicht. Sie sind geduldig und wissen, daß nichts auf Erden Bestand hat. Es ist nicht wie anderswo auf der Welt. Hier kann man erleben, daß — nach jenen Unruhen am 6. September vorigen Jahres, bei denen durch von oben gelenkte spontane Kundgebungen Tausende von Geschäften mit einigen Milliarden Devisenwaren vernichtet wurden — geschlagene neun Monate lang Standrecht war und dabei noch Gemeinde-H ratswahlen abgehalten wurden, an denen sich die Opposition nicht beteiligte. Die Wahlbeteiligung hatte Jamals etwas über 10 Prozent betragen ... Hier kommt es vor, daß das ganze Kabinett zurücktritt — bloß der Ministerpräsident nicht! Hier spricht der Arbeiter nicht von Rechten, er geht auch nicht auf die Straße, wenn ihm die wachsende Inflation sein letztes bißchen Lebensmöglichkeit raubt. Wenn er krank wird, dann wird er entlassen.

ARM UND REICH sind sehr scharf geschieden. Der Taglöhner muß mit knapp zehn Schilling sein Auskommen finden, während sich der „Patron“, der reiche Großgrundbesitzer, als zweiten oder dritten Wagen für 300.000 Schilling auf dem Schwarzen Markt einen Cadillac kauft. Denn die Einfuhr von Automobilen ist (wie vieles andere) verboten, nachdem man endlich doch bemerkt hatte, daß es Wichtigeres zu tun gäbe, als für kostbare Devisen den ganzen Taxipark der großen Städte mit amerikanischen Luxuswagen aufzufüllen. Langsam merkt man es ja, aber doch fast schon ein bißchen spät.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung