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Aus der Steinzeit ins Flugzeug

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An zackigen Felsen vorbei, über bewaldete Berge nähert sich das einmotorige Flugzeug einem unwahrscheinlich steilen Landungsfelde, das einer Bergmatte mit einer Steigung von 20 Prozent abgerungen wurde. Am Rande des Feldes wartet eine bunte Schar: Männer mit Elfenbeinhörnern, so groß wie die eines Nashorns, durch die Nase gezogen; Mädchen, die ihre Mitgift in Perlmutterplatten um den Hals tragen; Frauen mit zwei Köpfen — alle Frauen haben hier zwei Köpfe, den eigenen und den eines Kindes, der mit jeder Bewegung wie ein Teil ihres Körpers auf und ab wippt; ein paar dunkelbraune Männer in europäischer Kleidung und ein paar weiße Männer mit kurzen Hosen; dahinter Hunde, Schweine und Kühe; im Hintergrund hoch ragende grüne Berge, mit Formen wie in Tirol. Aber kein Weg, keine Kirche, kein Schloß ziert sie.

Aus dem Flugzeug steigen ein paar Weiße, darunter der Patrol Officer, der wohl den vielseitigsten Beruf hat: Polizist, Richter, Hebamme, Arzt, Architekt, Chauffeur im entlegensten Dorf. Er wird von ein paar uniformierten Eingeborenen, strammen Polizisten, empfangen. Hinter ihm kommen ein paar weiße Farmer und Kaufleute und ein Haufen Eingeborener in verschiedenen Stadien der Anpassung an städtische Kleidung heraus. In der schwülen Hitze sind die am vernünftigsten,' die möglichst wenig anhaben. Verhüllung des Körpers folgt einem schlecht angebrachten Vorurteil. Wie kühl ist die Kleidung der Frauen, die nur aus einem Lendenschurz mit vorne und hinten herunterhängenden Grasschweifen besteht! Selbst die Kellner bedienen in Neuguinea in den Hotels mit bloßem Oberkörper. In diesem Klima ist Bedeckung des Körpers ein Unfug der Weißen, der von ihnen wohl nur zur Hebung des Stoffabsatzes erfunden wurde; aber sie strafen sich selbst dafür, indem sie bekleidet gehen. Ja, oben auf den Bergspitzen, zwischen 3000 und 5000 Metern, da mag es schon einen Sinn haben, sich gegen die kalten Winde zu schützen. Aber unten in sengender Hitze und schwüler Feuchtigkeit? Sie sind halt doch nicht so gescheit)'diese Weißen, die glauben, daß sie alles besser verstehen.

Aber einige gute Ideen haben sie schon. Wir Alten in den Dörfern haben es schon lange bedauert, daß unsere jungen Männer ein Dorf überfallen mußten, um sich Frauen zu holen. Das haben die Australier jetzt streng verboten und sogar manche der erfolgreichsten Krieger umgebracht. Wenn jetzt ein Junge ein Mädchen aus einem anderen Dorfe haben will, muß er ein Mädchen hinliefern, seine Schwester, oder die Schwester eines Freundes, dem dann wieder ein anderes Mädchen versprochen wird. So sind aus Feindschaft und Blutrache Freundschaftsbande geworden, die sich von Dorf zu Dorf, von Tal zu Tal spinnen, über alle Sprachschwierigkeiten hinweg, denn in jedem Tal spricht man eine andere der 500 Sprachen — nicht Dialekte - der 1,8 Millionen des größeren Teils der zweitgrößten Insel der Erde.

Gewiß ist eine Frau der wichtigste Besitz eines jungen Mannes, die ihm Kinder gebiert, sein Haus in Ordnung hält, die Tiere pflegt und für ihn arbeitet. Aber Tausch ist doch besser als Raub, man gewinnt neue Freunde, braucht sich nicht immer vor Ueberfällen und Rache der Nachbarn fürchten. Seit die aufgehört haben, hat man mehr Zeit, Felder zu bestellen, Vieh zu züchten, Häuser zu flechten, und kann die Kinder oft Meilen weit in eine Schule schicken, statt sie zur Hausarbeit zu verwenden. Von dort kommen sie mit vielen nützlichen Dingen zurück, sie lernen sogar schreiben, rechnen und mit den Weißen sprechen, besser, als es manche unserer weisesten Alten können.

Ja, diese Schulen! Es gibt deren so verschiedene. Solche, die der Staat errichtet hat; solche, die von den Missionen, katholischen und protestantischen, geführt werden; dann solche, die die Eingeborenen selbst gebaut haben, mit eigenem Material und eigener Arbeit, damit die Kinder nicht zu weit zu gehen brauchen. In vielen gibt es schon eingeborene Lehrer, die alles wissen, was die Weißen lehren und die Kinder eben doch noch besser verstehen als sie.

So eine Missionsschule ist ein interessanter Ort. Vier, fünf Klassen von etwa 40 Schülern, oft verschiedenen Alters, aber gleicher Entwicklung. Musterhafte Disziplin, unwahrscheinlich höfliches, freundliches Benehmen der Kinder. Das Schwierigste ist diese rätselhafte englische Sprache. Da haben die Nonnen für jeden ' Laut ein Handzeichen erfunden, mit dem sie zu den Kindern sprechen können wie zu Taubstummen, und jedes Handzeichen kann verschieden geschrieben werden. So bringen sie den Kindern die Rätsel der englischen Spiache bei — und vieles andere. Wie man freundlich und hilfsbereit sein soll, wie man ehrlich sein muß und nicht lügen darf. Zu Hause erzählen die Kinder dann von den Lehren der Weißen, und von den freundlichen Nonnen, und erziehen die Eltern. So wird ein Volk, nein, viele Stämme, die einander nicht verstanden, werden gehoben — aus der Steinzeit in das 19. Jahrhundert, in das Jahrhundert der allgemeinen Schulbildung, in das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert des Radios und des Flugzeuges. .

Und vor allem gibt es Spitäler. Spitäler des Staates und der Missionen. Wenn man von einer rätselhaften Krankheit befallen wird, hat man nicht mehr eine Chance eins zu drei, sie zu überleben, sondern sie hat sich in neun zu eins verwandelt. Die Frauen werden sogar zur Geburt ihrer Kinder dorthin eingeladen, und die Kindersterblichkeit, früher vier zu eins in den ersten drei Jahren, ist auf einen Bruchteil herabgesunken. Wie es in diesen Spitälern aussieht! In luftigen hellen Hallen stehen Reihen von Betten, von weißen Tüchern bedeckt, so schön, daß man sich gar nicht hineinzulegen traut. Freundliche Mädchen, allerdings aus einem anderen Dorfe, mit denen man sich aber doch verständigen kann, haben alle mögliche Zauberei gelernt und wenden sie sorgsam an. Gewiß tun sie manchmal weh, aber das dauert nicht lange, und wird rasch besser. Weiße Frauen mit großen Hüten helfen ihnen, überwachen sie, und darüber gibt es dann noch Oberzauberer, mit verschiedenen Instrumenten und Maschinen, vor denen die bösen Krankheitsdämonen flüchten. Warum sie das nur tun? Wer bezahlt sie dafür? Warum bezahlt man sie und womit?

Die Antwort darauf ist nicht leicht zu finden. Junge Männer und Mädchen, die im Arbeitermangel Australiens leicht in den Städten behagliche, nicht zu anstrengende Arbeit mit viel Freizeit finden könnten, gehen für Jahre in die Wildnis, leben unter primitiven Verhältnissen für wenig Lohn und mit unregelmäßiger Arbeitszeit, um die Eingeborenen zu heben und ihnen zu helfen. Als Regierungsbeamte, als Lehrerinnen, als Ärzte opfern sie ihre besten Jahre diesem Zwecke. Geläuterte Abenteurerlust junger Australier, gepaart mit echtem Idealismus, ist der Motor, ohne den Australien seine Pionierarbeit nicht erfüllen könnte. Und die Missionen! Tausende von Meilen kommen Priester und Ärzte, um sich an diesem Werke zu beteiligen. Aerzte verbringen einige Jahre in diesem Lande, ohne .Entlohnung, gegen gute Unterkunft und ein Taschengeld, das für alle, Ärzte, Pflegerinnen, Händlanger gleich ist und gerade für kleine Ausgaben hinreicht. Der einzige persönliche Gewinn ist Erfahrung und Befriedigung, an einem schönen Menschenwerke mitgearbeitet zu haben.

Durch die Weißen kann man aber auch reich werden. Man braucht nur auf ein paar Monate oder ein halbes Jahr in die Städte zu “ziehen und dort an verschiedenen seltsamen Maschinen zu arbeiten. Es sind ganz leichte Arbeiten, nicht zu vergleichen mit der Mühe der Jagd oder des Hausbaues. Schwerer ist es schon, wenn man unter die Erde geschickt wird, um von dort Gestein ans Tageslicht zu schaffen. Die Entlohnung ist genau geregelt. Man bekommt Unterkunft und Decken, gute Nahrung und viel Tabak, nur keine geistigen Getränke. Das ist streng verboten, und Spender, weiß oder braun, wie Trinker werden unnachsichtig eingesperrt. Denn wenn man nur etwas von diesen Zaubertränken trinkt, ist man ganz verwandelt und tut Dinge, die man sonst nie täte. Und schließlich bekommt man Geld, nicht die Kaori-muscheln der Vorfahren, sondern Metallstücke und Papierfetzchen, die man in den Geschäften gegen die schönsten Dinge eintauschen kann. Hat man eine Frau und Kinder, so kann man sie manchmal sogar in die Arbeitsstätte mitnehmen. Hat man keine, so kehrt man mit einem Schatz ins Dorf zurück, dem keine Familie widerstehen kann. Mütter, Tanten und Vettern bestürmen den reichen Rückkehrer, sich doch die Vorzüge der Mädchen genau anzuschauen. Sie tun das allerdings nicht uneigennützig, denn finden sich die Herzen, so bekommen sie alle teure Geschenke, und die Ansprüche wachsen ständig. Einer der Weißen hat das einmal eine „Inflation der Mädchenpreise“ genannt — was der nur gemeint haben mag? Nun wollen die Weißen in den Schulen und Missionen eine neue Sitte einführen, daß man die Mädchen auch ohne Geld haben kann, und wenn man schon Geld hergibt, es nicht den Verwandten, sondern der Braut geben und für die Kinder aufheben soll. Sie haben sogar Häuser, wo man das Geld hintragen kann, wo es sich in rätselhafter Weise vermehrt.

Ein paar Eingeborene sind sogar „Millionäre“ geworden. Die Weißen haben Plantagen angelegt, in denen Kaffee, Kokosnüsse, Erdnüsse und ähnliche Dinge in großen Mengen erzeugt, in Schiffe verladen und teuer verkauft werden. Einige Eingeborene haben das nachgemacht, die Regierung hat ihnen geholfen, Maschinen zu kaufen und ihre Erzeugnisse gut zu verkaufen. Je früher sich ein Eingeborener dazu entschlossen hat, desto reicher ist er geworden. Manche verdienen schon die ungeheure Summe von 1000 Pfund im Jahr und hoffen auf noch mehr. Von weither kommen Leute, kürzlich sogar ein japanischer Professor aus Hawaii, die ihnen zeigen, wie man aus den Bäumen und Sträuchern noch mehr herausholen kann.

Allerdings hört man auch seltsame Gerüchte. Einige junge Leute, die in höhere Schulen in die Städte oder gar übers Meer gegangen sind und daher alles besser verstehen müssen, haben uns erklärt, daß wir von den Weißen betrogen werden. Alle die schönen Dinge, die wir mit unserer Arbeit bezahlen müssen, sind gar nicht von den Weißen, sondern von unseren Vorfahren im Jenseits, das heißt, in einem fernen Lande, erzeugt worden, die sie in ihren Schiffen für uns hergeschickt haben. Die Weißen fangen diese Schiffe ab und verkaufen uns die Ladungen für teures Geld. Bald werden wir aber lernen, diesen Unfug abzustellen und die Ladung der Schiffe umsonst zu bekommen. Das ist die Sage vom „Cargo“. Wenn das wahr sein sollte, wäre es gewiß eine Gemeinheit, die alle guten Taten der Weißen aufwiegen würde. Aber ist es wahr? Wenn wir fragen, ob schon jemals einer die Werkstätten unserer Vorfahren gesehen hat, bekommen wir immer ausweichende Antworten und die Versicherung, daß eigentlich alle die Häuser, Fabriken, Wälder und Felder der Weißen uns gehören. Denn uns gehört das Land, also auch alles, was darauf steht. Wenn wir klüger würden und uns nicht mehr ausbeuten ließen, vor allem, wenn wir mehr. Waffen hätten, würden wir mit unserer Ueberzahl 100 :1 die Weißen überfallen, töten oder vertreiben, und dann würde alles, was sie hätten, uns gehören, ohne daß wir dafür arbeiten müßten. Schön wäre es schon, aber wird es je gelingen?

In einigen Ländern über See soll das schon gemacht worden sein. Jene, denen es gelungen ist, wollen jetzt auch den Teil unserer Insel, der anderen Weißen gehört, haben. Einmal haben wir einen Bewohner jenes Landes in einem Hafen gesehen. Er war zwar kein Weißer, aber auch keiner unseres Volkes. Er sah ganz anders aus, verstand uns auch nicht, sondern soll immer nur von dem, was seinem Volke gelungen sei und wir nachahmen sollten, geredet haben. Ob es diesen hellbraunen Zwergen nicht bloß darum zu tun ist, an di Stelle der Weißen zu treten und deren Vermögen an sich zu reißen? Wer weiß, ob sie uns dann ebensogut behandeln werden wie die Weißen? Vorläufig geht es uns von Tag zu Tag besser, unseren Kindern wird es noch besser gehen, sie werden immer mehr von “den Weißen lernen, und wenn sie ebensoviel können, zusammen mit ihnen das Land vorwärts bringen. Soll man das für neue Kämpfe mit unsicherem Ergebnis austauschen?

Unterdessen reden Leute im Turm der Vereinten Nationen, die das Land und seine Völker nie gesehen haben, von Selbstverwaltung an einem bestimmten Termin, in ein paar Jahren, nörgeln an allem, was geschehen ist und wollen den Australiern vorschreiben, wie sie dies Wunder vollbringen sollen. Wenn ihnen am Ziel und nicht an politischer Propaganda gelegen wäre, müßten sie zugeben, daß diese Völker zu der Reife, die Selbstverwaltung erfordert, mindestens drei Generationen brauchen werden — und mindestens eine bis zwei Generationen mehr für die Führer als für die Geführten. Vorzeitige Selbstverwaltung wirft ein Land mindestens um ein Jahrhundert zurück.

Die untergehende Sonne vergoldet dem Beschauer aus dem abfliegenden Flugzeug die Spitzen 5000 Meter hoher Berge, die aus einer der schönsten, wildesten Inseln der Erde emporragen. Sollen die wilden Menschen, die deren Abhänge bewohnen, von erfahrenen Bergsteigern aus den Tiefen allmählich emporgeführt werden oder werden sie, mißleitet, einen zu steilen Pfad einschlagen wollen und von den zackigen Felsen abstürzen?

DIE FURCHE

SEITE 9 / NUMMER 23 4. JUNI i960

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