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Zwei Hofe

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Gegensätze sind es, die das Leben reich machen. Ohne das Licht zu kennen, empfänden wir nicht das Dunkel, und wir hören die Stille nur nach vorangegangenem Lärm.“

Immer wieder muß ich daran denken, wenn ich in dem Hof des Wehrmachtsuntersuchungsgefängnisses stehe und die Stunden und Minuten zähle, bis die Ablöse kommt. Ich kenne ihn nun schon so gut, daß ich ihn mit geschlossenen Augen genau vor mir sehe: ein Gefängnishof wie so viele andere, 40 Schritte im Geviert, in der Mitte ein rundes Blumenbeet, das von 58 Steinen eingefaßt ist. — Ja, ich habe sie immer wieder gezählt, während ich hier auf und ab gegangen bin. Jeweils zwei Steine kann ich bei einem Schritt berühren — einen mit dem Absatz und einen mit der Sohle.

In dem Beet wachsen längst keine Blumen mehr; es ist, als könnten sie hier gar nicht gedeihen, nur ein paar schüttere Grasbüschel fristen zwischen nackter

Ernst Schrom — Holzschnitt

Erde ihr kümmerliches Dasein. Dann sind da noch in jeder Ecke einige verkrüppelte Fliedersträucher und an der einen Wand' das Schilderhaus, sonst ist der Hof leer.

Während drei Begrenzungsflächen von dem Gebäude selbst gebildet werden, ist die vierte eine dreimal mannshohe Mauer, durch die eine große eiserne Tür zum Wirtschaftshof führt. Dort drüben steht der vergitterte graue Wagen, in dem die Häftlinge gebracht und meist auch wieder fortgeführt werden. Jeden Morgen um 6 Uhr kann man den Lenker ankurbeln hören, um auf die Hinrichtungsstätte zu fahren. Dann weiß man, daß die Zeit der Ablöse kommt und freut sich. Wahrhaftig — man denkt gar nicht daran, daß mit diesem Wagen jetzt Leute in den Tod fahren. Man hat vergessen, daß am Tage zuvor ihre

Eltern da waren und von ihnen Abschied genommen haben, man weiß nichts mehr von den Tränen, die gestern von Frauen geweint wurden, die ihre Männer zum letzten Male sahen. — Man freut sich nur, weil man bald hineinkommt in die Wachstube und schlafen kann.

Bef Tag geht es noch. Da kann man die Pflastersteine zählen und die Fenster und man sieht doch ein Stückchen blauen Himmel über sich. — übrigens der Himmel. Die Gefangenen dürfen nicht zum Fenster hinaussehen. Aber was soll man machen, wenn so ein armer Teufel einmal aus seinem Kerkerloch ein bißchen Blau erhaschen will. Ich bringe es nie zusammen, ihn anzurufen, lieber schaue ich weg.

Am Vormittag werden die Häftlinge in den Hof geführt: zuerst die Mannschaften. Sie müssen eine Viertelstunde turnen. Und wenn die Schließer es auf einen besonders scharf haben, dann lassen sie ihn so lange Liegestütz machen, bis er liegenbleibt. Die Unteroffiziere müssen nur marschieren, immer im Kreis, eine Viertelstunde lang immer im Kreis ... Ab und zu heißt es dabei einmal „Ganze Abteilung kehrt“, damit für Abwechslung gesorgt ist. Die Offiziere dürfen dann als letzte frei herumgehen. Ein alter, weißhaariger Hauptmann kniet plötzlich nieder, zieht ein winziges Gänseblümchen aus dem armseligen Beet und ruft die anderen herbei: „Eine Blume, wirklich eine Blume, hier in diesem Hof, könnt Ihr das verstehen?“ Und dann steckte er sie in sein Knopfloch. Die andere lächeln, sie lächeln noch, als der Schließer das Tor öffnet und sie wieder hinaufführt in ihre Zellen.

So vergeht der Tag. Da gibt es immer etwas, das irgendwie ablenkt und die Zeit verkürzt. Aber die Nacht ist schlimm.

Wenn die Dunkelheit hereinbricht, werden die Stimmen des Gefängnisses laut, und diese Stimmen sind furchtbar. Sie sind ärger als das Schreien der Häftlinge, wenn sie wegen eines' Vergehens geschlagen werden. Sie kommen aus allen Stockwerken, sie dringen in unendlicher Vielfalt aus den Zellen und erfüllen den Hof. Sie gehen einem durch Mark und .Bein, und man kann sie nie wieder vergessen.

Irres Lachen hallt von den Wänden wider, unflätige Lieder und Schimpfworte mischen sich mit haltlosem Weinen, und dazwischen immer wieder die Frage: „Was habe ich denn getan?“, hinausgerufen in eine Welt des Grauens, aus der es kein Entrinnen gibt. Aber die Mauern antworten nicht, auch der Posten nicht, der jetzt da unten stumm mit zu-sammengekrampftem Herzen vor seinem Schilderhaus steht.

Allmählich wird es still. Dann hört man nur noch den Kriegspfarrer mit den Gefangenen beten, die am kommenden Tag hingerichtet werden. Von Zeit zu Zeit sieht man in den einzelnen Zellen Licht aufflammen. Da gehen jetzt die Posten von Tür zu Tür und schauen, ob alles in Ordnung ist. Ich habe diesen Dienst auch schon gemacht. Da muß man mit Filzschuhen die Gänge entlangschleichen und vor den Türen horchen. Wenn man das Licht aufdreht, wachen die meisten auf und werden unruhig. So wie der kleine Oberleutnant zur See, der als einziger allein in einer Zelle wohnt, der keinen Besuch empfangen und nicht einmal in den Hof gehen darf, weil er ein ganz gefährlicher Bursch ist, wie man uns gesagt hat. Er soll am 20. Juli irgendwie unvorsichtig gewesen sein. Der springt immer aus dem Bett und schaut einen mit seinen wasserblauen Kinderaugen ganz entsetzt an. Andere wieder treten knapp an das Guckloch heran und bleiben so stehen, den Blick fest auf einen gerichtet, einen Blick, vor dem man sich zutiefst schämen muß.

Und hier unten hat man immer das gleiche Bild: die aufflammenden Lichter. Eine Zeitlang versucht man, sie zu zählen, dann wird man auch dazu zu müde.

„Gegensätze sind es, die das Leben reich machen“: vor wenigen Tagen bin ich noch in einem anderen Hof gestanden. Er war nicht größer als dieser hier, auch ihn umfaßten rings dicke Mauern, in seiner Mitte war ebenfalls ein rundes Blumenbeet, Fliederbüsche standen in den Ecken, und auch er war erfüllt von einer Vielfalt von Stimmen. Aber diese Stimmen waren das Spiel einer Orgel und das Raunen des Windes in den Blättern, das Plätschern eines Springbrunnens und der Gesang der Amseln im Busch. Der Flieder duftete, und in den Beeten blühten die Blumen in überreicher Pracht. An den Wänden dehnten sich Birnenspaliere, Efeu und wilder Wein rankten an den Pfeilern empor, und nur der Schattenfinger der Sonnenuhr mahnte an die Vergänglichkeit der Zeit. Das war da draußen in einem Kloster gewesen, in das mich ein glücklicher Dienstauftrag geführt hatte.

Dieser Hof blieb Tag und Nacht gleich ruhig. Selbst Soldaten lernten hier schweigen und leise auftreten. Man konnte das eichene Tor hinter sich zusperren, sein Gewehr in einen Winkel lehnen, sich ins Gras legen und träumen. Man vergaß Krieg und Mord, Unrecht und Verderben, man fühlte sich geborgen in dem Frieden dieses Hauses, an dem der Lärm der Welt abzuprallen schien.

Damals war der Leutnant N. zu mir auf Wachkontrolle gekommen. Wir waren miteinander in den Hof hinausgegangen, hatten das Tor sorgfältig hinter uns verschlossen und uns auf die Bank unter den Fliederbüschen gesetzt. Unsere Unterredung mag lange gedauert haben, und meinen Kameraden wird diese Art von Wachkontrolle reichlich sonderbar vorgekommen sein. Wir haben damals lange miteinander gesprochen, über Menschenrecht und Freiheit, über die Pflicht jedes einzelnen, gegen das Unrecht zu kämpfen, wo immer er auch steht. Wir haben uns gefragt, ob nicht das Wissen um Verbrechen allein schon Schuld genug ist, um dereinst vor dem höchsten Richter nicht bestehen zu können.

Es war ein linder Sommerabend und eine jener Stunden, wie sie uns nur ganz selten geschenkt werden, in denen man ganz aus sich herauszugehen vermag und sein Innerstes einem anderen Menschen hingibt, um gleiches von ihm zu empfangen.

Und nun haben sie gestern den Leutnant N. wegen Wehrkraftzersetzung hier eingeliefert. Die Anzeige war von dem Bataillon erstattet worden, dem er bis zur Versetzung zu meiner Einheit angehört hatte. Dort oben im vierten Stock, zweite Zelle von links, sitzt er nun. Wenn es in diesem Fenster hell wird, zucke ich zusammen. Aber es wird nicht oft Licht angezündet dort oben, der Posten weiß ganz gut, daß dort „unser“ Leutnant schläft. — Ich kann genau beobachten, wie er bei seinem Rundgang immer auf diese Zelle vergißt. Nur die Schließer kennen kein Erbarmen.

Ein einziges Mal habe ich Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Aber ich weiß nicht recht, was ich ihm sagen soll. Irgendwie möchte ich ihm helfen, ihm wenigstens einen Trost geben:

„Herr Leutnant, wir werden für Sie tun, was uns nur immer möglich sein wird.“

„Haben Sie soeben mit dem Leutnant da gesprochen?“ Der Gefängniskommandant steht hinter mir.

„Jawohl, Herr Major, er gehört zu meiner Kompanie.“

.Wissen Sie, daß es verboten ist, mit den Gefangenen zu reden?“

„Jawohl.“

„Warum haben Sie es dann getan?“ „Weil ich ein Mensch bin, Herr Major.“ „Was sind Sie von Beruf?“ „Student.“

„Dann seien Sie vorsichtiger!“ Und weg ist er. Vielleicht ist er auch — ein Mensch, fährt es mir durch den Kopf.

Zwei Tage später wird der Leutnant N. dem Kriegsgericht Berlin überstellt. Was aus ihm geworden ist, haben wir nie mehr erfahren. Ich selbst suche um Ablöse an und werde schon in der darauffolgenden Woche wieder draußen im Kloster sein. Ich werde das Tor hinter mir zusperren, das Gewehr wegwerfen und mich auf die Bank setzen. Die Orgel wird spielen, die Amseln werden singen und die Blumen blüheni und die Wunde, die man mir schlug, wird bluten, gerade dort heißer und schmerzvoller. Aber dann wird es in mir still werden, und ich werde die Kraft finden, meinen Weg weiterzugehen, so wie ich das dem Leutnant N. versprochen habe. Ich weiß, daß mich schon morgen das gleiche Schicksal ereilen kann, daß man mich mit dem gleichen Recht verhaften kann wie tausend andere. Aber eben weil ich diesen Frieden liebe, der dort draußen wohnt, eben weil ich das Grauen der Gefängnisse kenne, eben weil ich um das Unrecht weiß, muß ich weiterkämpfen.

Gegensätze machen das Leben reich, habe ich gesagt — vielleicht war das nicht das rechte Wort. Sie machen es tief. —

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