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Nachtwache

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„Nachtwache — ein Film von Harald Braun, der größte religiöse Film der deutschen Nachkriegszeit, den nahezu zehn Millionen Menschen gesehen haben; „Nachtwache“ — nunmehr in Buchform, vom Regisseur erzählt („Nachtwache“. Von Harald Braun, Diana-Verlag, Wien, 147 Seiten), kein erweitertes „Drehbuch“, sondern eine eigenständige, starke literarische Leistung — der untenstehende Ausschnitt zeugt davon. — Die Personen: Lotte, das Mückchen, Pastor Hegers einziges Kind, das von der Schaukel gestürzt ist und sterbend im Krankenhaus von Heiliggeist liegt. An seinem Bette: die gottentfremdete Ärztin Cornelie und der jetzt an seinem Gott zweifelnde Pastor Heger. Und: der katholische Kaplan Imhoff. Und: dessen ehemaliger Kampffliegerkamerad Gorgas, Stefan Gorgas, der ewige Schauspieler, der am Vormittag schuldig-unschuldig den Absturz des Kindes mitverursacht hat, und nun am Abend, während das Opfer verlöscht, auf dem Kirchplatz von Burgdorf den Jedermann spielen muß. Jedermann ist zu Leid auigerufen, Jedermann zu Bewährung. Wird der Ruf ankommen? Das Spiel beginnt

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„Nachtwache — ein Film von Harald Braun, der größte religiöse Film der deutschen Nachkriegszeit, den nahezu zehn Millionen Menschen gesehen haben; „Nachtwache“ — nunmehr in Buchform, vom Regisseur erzählt („Nachtwache“. Von Harald Braun, Diana-Verlag, Wien, 147 Seiten), kein erweitertes „Drehbuch“, sondern eine eigenständige, starke literarische Leistung — der untenstehende Ausschnitt zeugt davon. — Die Personen: Lotte, das Mückchen, Pastor Hegers einziges Kind, das von der Schaukel gestürzt ist und sterbend im Krankenhaus von Heiliggeist liegt. An seinem Bette: die gottentfremdete Ärztin Cornelie und der jetzt an seinem Gott zweifelnde Pastor Heger. Und: der katholische Kaplan Imhoff. Und: dessen ehemaliger Kampffliegerkamerad Gorgas, Stefan Gorgas, der ewige Schauspieler, der am Vormittag schuldig-unschuldig den Absturz des Kindes mitverursacht hat, und nun am Abend, während das Opfer verlöscht, auf dem Kirchplatz von Burgdorf den Jedermann spielen muß. Jedermann ist zu Leid auigerufen, Jedermann zu Bewährung. Wird der Ruf ankommen? Das Spiel beginnt

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DER FENSTERVORHANG IM KRANKENZIMMER von Heiliggeist hebt sich sacht unter dem Anhauch des Windes. Es ist, als trieben ihn die fernen Rufe in den stillen Raum. Sie kommen nun auch hierher an das Bett des Kindes, zu Cornelie, zum Vater und zum Freund.

Lotte hat wie schlafend gelegen, aber jetzt, da sich draußen die Stimmen auf den Weg machen, öffnet sie wieder die Augen und lauscht.

„Spielen sie jetzt... das Theater? fragt sie stockend und sieht zum Fenster hin.

Cornelie nickt ihr zärtlich zu: „Ja, Mückchen, jetzt spielen sie es. Sie hält die kleine, heiße Hand, aber der Pulsschlag ist kaum noch zu fühlen.

Immer wieder ruft es über den Markt, über den Dächern und Straßen der Stadt: „Jedermann ...! Jedermann .. .11

„Das sind die Boten Gottes, die rufen , sagt Heger leise, „wir können sie nicht sehen, aber sie sind immer da!"

„Wie die Schutzengel, nicht?'

Heger verstummt. Gottes Engel, wo stehen sie in dieser Stunde? Wo haben sie die Hände erhoben, wen halten und behüten sie? Nichts anderes ist zu hören als die hallenden Stimmen und Lottes mühseliges Atemholen.

„Warum rufen sie denn immer: jeder Mann, Vati? Hörst du, jetzt wieder?"

„Sie rufen jedermann ... vor Gottes Angesicht.. . Hegers Stimme klingt heiser und leer.

Lotte nickt, das kann sie verstehen. Das weiß doch jeder: er kann alles sehen und hat alle lieb... Sie lächelt dem Vater zu, und ihre Stimme ist so schwach, wie ein verwehter Atemzug:

„Rufen sie... dich auch, Vati...?

Er sieht seine kleine Tochter an, ihre Augen glänzen fremd im Schatten der Lampe ... Gottes Engel, in welche Länder hat euch der Herr entsandt?

„Ja", sagt er ruhig, „mich rufen sie auch."

Lotte lächelt noch, die 'Stimmen vor dem Fenster schweigen, und nun nimmt eine ferne Hand den Hauch von ihren Lippen, behutsam, wie eine Kostbarkeit.

WIEVIEL ZEIT IST VERGANGEN? Eine Stunde oder zwei? Heger weiß es nicht, er ist über den Stadt wall in die Vorstadt gelaufen, der Mond steht zwischen den Wolken, und es gibt keine Sterne. Die Hunde in den Häusern melden sich, für wenige Minuten gibt es ein wütendes Gekläff, dann ist wieder Ruhe über den Gärten. Kein Mensch begegnet ihm, er läuft am Fluß entlang, zum alten Friedhof. Es ist derselbe Weg, den Cornelie an dem wolkenlosen Nachmittag auf auf ihrem Rad gefahren kam, um Lotte zu besuchen. Hier gibt es keine Hügel mehr, die Kreuze sind verwittert und halb zerfallen.

Vor dem Zaun des Pfarrhausgartens macht er halt. Drüben im Haus ist noch Licht. Wahrscheinlich sitzen die Alten in der Diele und warten auf ihn, die wissen noch nicht, was geschehen ist...

Nein, er kann niemand sehen, er kann mit niemand sprechen!

Es war so gut, daß Imhoff kein Wort zu ihm sagte, als sie aus dem Zimmer gingen ... Cornelie blieb am Bett zurück, sie sah nicht auf, als sie die Tür öffneten. Dann saßen sie draußen in der dunklen Halle neben dem Blumenbrunnen, die Schwestern liefen an ihnen vorbei zum toten Kind, sie - standen flüsternd und ernst auf dem Gang, ohne ihn und Imhoff zu sehen. Aber dann holten sie den weißen Wagen, und dann kamen die Diakonissen vom Marktplatz zurück, und da lief er fort. Keine Worte jetzt und kein Händedrücken!

Heger steht noch hinter dem Zaun. Hier hat er auch damals gestanden, als Cornelie und Lotte drüben um den Rundlauf über den Rasen flogen, Mücke stolperte ein bißchen, als sie das Seil losließ und in seine Arme rannte. Dann haben sie oben das Lied gesungen, wie jeden Abend, und Cornelie sang nicht mit... „Dies Kind soll unverletzet sein . Das ist nun ausgesungen.

Warum denn nur? Warum das alles? Was will Gott damit, daß er ihm solches antut? Will er ihn strafen? Aber wofür? Und warum muß es dann das Kind erleiden? Oder hat der Tod es vor einem schweren Schicksal bewahrt? Armseliger Trost, verlogener Trost, denn liegt nicht des Kindes ganzes Schicksal in Gottes Hand...? Er hat an diese Hand geglaubt, er hat sich an ihr festgehalten und sich von ihr führen lassen, und nun hat sie sich ihm entzogen. „Gott weiß, was er tut..." Wie oft hat er es in seinem Leben gesagt! Er hat sich daran angeklammert, als ihm die Frau genommen wurde, er hat es an jenem Abend Cornelie lächelnd vorgehalten. Warum ist dieses Wort nun plötzlich stumm? Er möchte niederknien und Gott bedrängen, ihm ein Zeichen zu geben, ihn einen Blitzschlag lang am Wissen der Ewigkeit teilnehmen zu lassen... Aber er tut es nicht. „Haben Sie niemals Angst, daß Sie sich belügen könnten?" Daß er diese Frage Corneliens nicht vergessen kann! Und seine Antwort? „Eine Lüge kann einem nicht helfen, wenn es ernst wird.. . Aber was hilft ihm denn? Wer auf aller Welt und in allen Himmeln hilft ihm denn?! Kann das Glaube sein, in die Sinnlosigkeit einen Sinn zu dichten? Durchgefallen ... Schöne Worte... Sind es wirklich nur Worte?

Wie blind macht er kehrt. Den Hut hat er irgendwo verloren, der Mantel ist weit geöffnet, er läuft wieder in die Stadt zurück.

Der Marktplatz ist leer. Auf der Bühne sind noch die Kulissen des letzten Bildes zu erkennen, die Bänke stehen ungeordnet auf dem Pflaster, die Schaukeln hängen ruhig. Langsam und schläfrig drehen sich die Propeller im schwachen Wind, man hört sie kaum.

Der Wohnwagen des Schaukelmannes steht nahe dabei. Der Alte sitzt auf der Treppe, raucht, hört auf die zehn Glockenschläge von Sankt Anton und denkt an das, was heute geschah ... Ein Tag wie ein Leben: Feier, Spiel und Tod;

in der Kirche, auf der Bühne und unter seiner Schaukel.

Drüben, am Zaun vor den Schiffen, steht Heger. Der alte Mann klopft die Pfeife aus und steigt die Stufen hinunter. Heger merkt es nicht. Er sieht auf das Tagende Gestänge, ein schwarzes Gerüst unter dem wolkigen Himmel. Welches von diesen vier Schiffen mag, es gewesen sein? Auf welchen Steinen hat sie gelegen: vielleicht gerade hier, wo er selber steht, lebendig und gesund und dazu bestimmt, Gottes Gnade zu verkünden ...

Die Augen des Schaukelmannes versuchen, in Pastor Hegers Gesicht zu lesen. Er legt ihm die Hand auf den Arm: „Ich weiß, Mann Gottes..Seine Stimme ist kehlig und ungelenk, woher mag ihn das Schicksal auf den Burgdorfer Markt geweht haben? Aus den Karpaten oder der Ukraine oder von der Wolga her?

Heger dreht sich nicht um. „Was weißt du?“ fragt er abwesend.

„Es ist schwer, allein sein ... Ich auch viel verloren, Heimat und Frau und Kind auch ... Nur noch Schaukel... Aber du bist nicht allein, du bist Pfarrer!“

Verzweifelt sieht ihn Heger an: „Pfarrer? Ja, in der Kirchei Hier war es, und drüben in der Kirche haben wir gesungen und gebetetl Zu wem denn nur? Wer hört uns denn?!“

Der Schaukelmann hebt fromm die Hand. „Gott!“ sagt er leise und feierlich.

„Aber er antwortet doch nicht! Ein Pfarrer, der betet, und Gott antwortet nicht!“

Der Alte lächelt: „Er redet immer! Er redet auch, wenn er schweigt. Man muß nur hören können! Ich höre immer...“

„Was denn?“

Der Schaukelmann wird emst. Worte! Was können Worte sagen... Er hebt den grauen Kopf, öffnet die Hände und schaut in den dunklen Burgdorfer Himmel, wie einer der Hirten vor zweitausend Jahren...

„Hörst du nicht?“

Heger schüttelt den Kopf. Der Himmel ist leer. Nein, er hört nichts, alles bleibt still dort oben.

Der Schaukelmann schüttelt mitleidig den Kopf: „Oh, das ist schlimm ... Ihn nicht mehr hören können, das ist wie Tod...!“

Das Wort trifft Heger wie ein Schlag aufs Herz. Er hat Gott verkündet, ohne ihn gehört zu haben! Meine Schuld ist es, denkt er, es gibt einen Glauben, er hat die Welt verändert, er hat Menschen lächelnd sterben lassen, er lebt in diesem alten Mann. Nur ich, ich habe ihn nicht halten können, ich war zu schwach dazu ...'

„Du hast recht', sagt er tonlos. „Gott nicht mehr hören können, das ist der Tod... Ohne Glauben leben kann man nicht!“

Er läuft fort, er rennt quer über den Markt, bis ihn die Dunkelheit aufnimmt.

IMHOFF ÖFFNET DIE TUR. Auf den Schminktischen brennen noch die Lampen, aber der Raum ist leer. Koffer und Kleider liegen herum, an den Wänden hängen bunte Hüte und goldene - Ketten ... Der Kaplan steht zwischen den Kostümen, er nimmt, eins der festlichen Gewänder nachdenklich in die Hand, der Stoff ist brüchig und abgetragen... Es ist seltsam, aus einem Sterbezimmer in diesen Dunst farbigen Lebens zu kommen. Aber weiß man, wo in Wirklichkeit der Tod und wo das Leben ist? Das eine sitzt im andern, wie der Kern in der Nuß.

„Geben Sie sich keine Mühe, Imhoff. Jedermanns Kleider passen Ihnen nicht!"

Der Priester sieht auf, Gorgas sitzt in der Nische, tief in einen Lehnstuhl gedrückt. Er ist schon wieder uiúgekleidet, auf dem Tisch vor ihm stehen Gläser und Flaschen.

Imhoff legt das Kostüm langsam wieder zurück. „Was machen Sie denn noch hier?“ fragt er ruhig.

„Ich habe auf Sie gewartet! Sie kommen aufs Stichwort!"

Gorgas lacht, sein Gesicht ist unbeherrscht und erregt. Seit zwei Stunden sitzt er hier und versucht, mit diesem Abend fertig zu werden... Das Leben ist ein großartiger Regisseur, es spart nicht mit Effekten! Um halb zehn soll drüben in Heiliggeist das Kind gestorben sein. Als man von der Bühne kam, wußten és alle schon, die Kollegen haben an ihm vorbeigesehen, als wäre er gar nicht da! Um halb zehn also... Fast genau in der gleichen Minute, als im Jedermann-Spiel der Tod zu ihm auf die Bühne kam... Gut arrangiert, man könnte darüber lachen! „Was will mein Gott von mir?" hatte er als Jedermaňn den Tod fragen müssen, ein bißchen geschraubt, aber so steht es im Text, und dafür ist Hofmannsthal ein großer Dichter... Und dann die Antwort. „Abrechnung will er halten mit dir!" Möglich, daß im gleichen Moment das Kind drüben gestorben ist! Wenn das keine Dramaturgie ist...!

Er greift nach dem Glas und trinkt hastig aus. „Abrechnung halten, Imhoff, Ihr Stichwort! Also bitte, schießen Sie los! Spielen Sie mit! Aber keine frommen Sprüche und keinen Trost!"

„Brauchen Sie Trost?" fragt Imhoff aufmerksam und gelassen. „Bisher sind Sie doch mit allem fertig geworden!“

Gorgas springt auf: „Stimmt, Imhoff! Ich habe schon viele Tote an meinem Wege liegen gelassen... Wichtigkeit, Imhoff, Menschen! Zwölf auf ein Dutzend! Aber als ich das Kind vor mir sah, da hab ich begriffen, was das heißt: Sterben und Sterbenlassen ... Reden Sie jetzt nicht von Zufall oder von Fahrlässigkeit, das sind Kleinigkeiten, die kann man bezahlen oder schuldig bleiben ... Aber schuldig sein, Imhoff, das nimmt uns keiner ab! Auch Sie nicht!“

Ist es Gorgas, der hier vor Imhoff steht, oder ist es Jedermann, der die Boten Gottes rufen hört?

Imhoff schüttelt den Kopf: „Nein, Gorgas!“

„Sehen Sie, Sie können mir auch nicht helfen!“

Der Kaplan sieht in das Gesicht Stefans ... Dies ist nun endlich keine Rolle mehr, die Gorgas spielt, es ist ein ungeschminktes Gesicht.

Langsam wiederholt er: „Helfen? Nein, ich nicht. Oder nur ganz wenig... Es ist gut, wenn man auch als Priester immer daran denkt!“

„Und? Was ist es, womit Sie mir helfen können?!“

Imhoff antwortet nicht. Er senkt den Blick, als müsse er lange nach der Antwort suchen, dann verläßt er leise den Raum.

Gorgas sieht ihm nach. Wenn es emst wird, müssen sie schweigen, denkt er. Sie wickeln sich in ihren Glauben wie in einen Mantel und drehen uns den Rücken zu ... Also gut. Erledigt. Salü. Müde macht er sich auf den Weg.

Als er durch die Kirche auf die Straße hinaus will, bleibt er im Mittelgang plötzlich stehen... Der große Raum ist leer, in den Seitennischen brennen Kerzen, und vor der großen Madonna am Hauptaltar schwebt die Ewige Lampe. Dort, zwischen den vordersten Bankreihen, kniet Imhoff im Gang, das Gesicht über die gefalteten Hände geneigt.

Ist das die Antwort? Die einzige Hilfe, die er weiß? Finster sieht Gorgas auf den Knienden; er will keinen Weihrauch, kein Mitleid und keine Güte, die ihn wortlos macht! Er will das klare Gegenüber, die Rechnung auf den Tisch, schuldig oder frei gesprochen! Nein, er will das Schuldig hören ...

Seine eiligen Schritte hallen durch den leeren Raum, das schwere Tor schlägt hinter ihm zu.

AUF DEM HÖLZERNEN UMGANG VON HEILIGGEIST, hoch über dem zerstörten Kirchendach, steht Heger, über ihm rollt mahlend und knarrend das Uhrwerk ab. Es ist windig geworden, die Wolken schieben sich vor den Mond hin und her, das schwache Licht, das auf den Dächern liegt, glimmt auf und verlischt wieder, wie ein mattes, unregelmäßiges Atemholen... t

Tief unter ihm, durch den Raum der Kirche, bewegt sich ein Schatten. Es ist Gorgas, er streift an den Bänken vorbei und sucht nach dem Treppenaufgang, aber Heger sieht ihn nicht. Er sieht auch nicht Comelie über den Markt kommen, mit dem Schaukelmann sprechen und weiterlaufen. Seine Augen sind weit geöffnet und doch wie blind.

Gott hat ihn verlassen. Er wird auch keinen Engel senden, wenn er sich über diese Brüstung" schwingt! Ist Gott taub und blind geworden? Halten die Menschen ihn irgendwo gefangen? Oder ist er tot, im letzten Krieg umgekommen, und wir wissen es nur noch nicht und haben immer noch seine verblaßten Bilder in den Händen...? Ohne Glauben leben kann man nicht... Lottes Schaukel mag sie hoch hinauf getragen haben, aber nicht so hoch, wie dieser Umgang ist! Es ist tröstlich, denselben Flug zu tun, wie sie. Wer zu hoch fliegt, wer sich zu sicher wähnt, wer von keines Menschen oder Engel Hand gehalten wird, muß stürzen...

Der Zeiger auf der Turmuhr rückt in die halbe Stunde, mühsam holt das Uhrwerk aus, und dicht über Hegers Kopf dröhnt der Glockenschlag.

Er sieht in den Turm zurück. Gestern, als er mit Imhoff unter der Glocke stand, wollte sie ihm keine Antwort geben. Inzwischen hat man sie aus dem Schlaf gerissen, und sie hat am Morgen den Lobpreis eingeläutet... Oder war es ein Rufen aus Angst?

Halb im Traum geht Heger in den Glockenstuhl zurück, er hebt, wie gestern im hellen Licht, die Faust und schlägt an den schwarzen, Rand ...

Ein Echo, eine rufende Stimme kommt: „Hallo ... Pastor Heger!“

Das ist Gorgas. Er steigt die Leiter hinauf, sieht sich um und erkennt den Mann, der unter dėt Glocke steht: „Also doch! Ein alter Krieger hat die Nase dafür, wo der Feind zu finden ist!“

Heger sieht ihn müde an: „Ich bin nicht Ihr Feind ...'

Der andere lacht:

„Wollen auch Sie für mich beten? Machen Sie sich doch nichts vor! Ich habe heute Ihrer Tochter das Fliegen beigebracht, ich bin schuld daran, verstehen Sie? Es muß mal ein Strich gezogen werden, ein Urteil gefällt werden! Deshalb bin ich zu Ihnen heraufgekommen, Sie sind der richtige Mann dafür!“ Warum antwortet der Pfarrer nicht! denkt Gorgas. Hat der Tod des Kindes ihn so sehr getroffen? Um so besser, dann wird es ein männliches Gericht, ohne sanftes Gesäusel und milde Sprüche!

„Herrgott, so sagen Sie doch ein Wort! Glauben Sie mir, ich weiß, wie Ihnen jetzt zumute ist!"

Heger sieht an Gorgas vorbei, tief hinunter auf die Dächer und Straßen und auf Lottes steinernes Pflaster. „Ja", sagt er verloren, „da hinunter ist es nicht weit.. ."

Gorgas folgt seinem Blick. „Da hinunter", soll das sein Urteil sein? Spähend starrt er in Hegers Augen.

„Ich kann Ihnen nicht helfen, Gorgas ... Und mir uch nicht..."

Sie sehen sich beide an, wie ein rasselnder Herzschlag steht das Ticken der Turmuhr über ihnen.

Gut, erledigt, das ist eine Antwort, die sich hören läßt... Jedermann hatte geschrien, als der Tod ihn in die Arme nahm, aber die Zeiten sind anders geworden. Wenn man nicht beten kann, stirbt man wortlos oder mit einem Witz. Gorgas fährt salutierend mit der Hand an die Stirn ... Klarer Auftrag. Von diesem Flug gibt es keine Wiederkehr, die Maschine ist kaputt, und alle Fallschirme sind verbrannt. Glatte Rechnung, gerechte Rechnung...

Er stürzt auf den Umgang hinaus.

Heger fährt auf: „Gorgas!" Er rennt ihm nach, die Bretter des schmalen Umgangs zittern unter den Schritten der beiden Männer, jetzt hält er ihn und reißt ihn zurück, sie ringen fast miteinander... Dann stehen sie sich schwer atmend gegenüber. -

„Das ... dürfen Sie nicht...!

Der Flieger lacht, die Haare hängen über seinen Augen.

„Warum kommen Sie nicht mit?!" ruft er erbittert.

Heger schweigt. Warum halte ich ihn zurück? denkt er. War ich nicht selbst dabei, den Sprung zu tun? Ist es nichts anderes, als ein unbewußtes Zugreifen, ein Mensch, der nicht zusehen kann, wie ein anderer in den Tod will?

„Unser Leben gehört uns nicht..

„Sondern? Wem? Unserem Volk? Dem Vaterland? Der Zukunft? Dem lieben Gott?!"

Heger schūttęlt den Kopf.

„Hören Sie gut zu, Gorgas, es gibt nur eins: die Augen zumachen und sich fallen lassen! Nein, nicht dort hinunter, das wäre einfach. Aber sich in die Hände Gottes fallen lassen. Ohne zu fragen! Damit wir frei werden, damit wir Frieden haben!"

Gorgas hebt den Kopf und sieht in den nächtlichen Himmel. Frieden ... Seine Augen schimmern. Damals, vor zweitausend Jahren, da öffnete sich wohl die Nacht, und Engel fuhren auf das Feld hernieder, aber heute fährt nur der Wind um den Turm und treibt die Wolken durcheinander.

„Entweder müßte ich es annehmen ...", sagt er verzweifelnd, „ich müßte es Ihnen glauben, Heger, Wort für Wort, alles... Oder nichts. Ich müßte es annehmen, und ich wollte, ich könnte es. Aber ich kann nicht. Es bleibt alles ... dunkel und leer..."

Heger legt beide Arme um Stefans Schulter. „Gerade in der Dunkelheit wartet er auf uns..." sagt er leise, von einer Gemeinsamkeit ergriffen, die unendlich ist. Was wollte er lieber, als dem anderen helfen, aber über die letzte Strecke hinweg, über dieses Niemandsland hinaus führen keine Worte.

Schweigend, brüderlich nebeneinander, treten sie wieder in den Turm.

Die Schritte verklingen, die Geräusche der Nacht steigen auf, und nur das mühselige Ticken des Uhrwerks ist noch da, wie der unaufhörliche Schlag des Herzens.

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