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Als ich nach Emmaus zog

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Am Ostermontag, wenn der Gottesdienst vorüber ist und im Waldlande die Leute beim Mittagsmahle sitzen, kommt es vor, daß einer sagt: „Heut ist Ostermontag, heut sollen wir nach Em-maus gehen." Und fast allemal entgegnet ein anderer: „Nach Eb'naus gehen, das ist bei uns im Gebirg' eine Kunst." Aber der strenge Hausvater verweist: „Gescheiterweis' reden! Heilige Sach' ist kein Spaß!"

Zur Zeit, als ich ein Knabe von etwa zehn Jahren war, wollte mein Vater einmal in der Fasten einen eingewanderten vazierenden Tagwerker aufnehmen; es gab zu solcher Zeit eigentlich nicht mehr Arbeit in der Wirtschaft, als wir mit unserem Gesinde selbst verrichten konnten, doch mein Vater meinte: „Arbeitet er schon nicht viel, so soll er uns wenigstens fasten helfen. Wo will er denn sonst hingehen, jetzt? Hat auch schon einen grauen Bart."

Also blieb der alte, graubärtige Bursch über das Osterfest in unserem Hause, aß sich gewissenhaft satt und führte gern christliche Gespräche. So sagte er am Ostermontag beim Mittagsmahle: „Heut sollen wir nach Em-maus gehen. Gehst mit, Bübel?"

Die Frage war an mich gerichtet. „Ja, nach Emmaus ginge ich mit!"

„Versteht sich!" begehrte die Mutter auf, „Kinder ins Wirtshaus!"

„Waldbäuerin", versetzte der Tritzel ernsthaft, „vom Wirtshaus ist keine Red'. Bei mir schaut das Christentum anders aus. Der Gang nach Emmaus ist ein heiliger Gang. Ein heiliger Gang, meine liebe Waldbäuerin! Wir gehen zu der Kreuzkapelle hinauf, dort werden wir den Heiland sicherer finden als im Wirtshaus - will ich meinen."

„'s selb' war' eh wahr", gab mein Vater bei, und ich durfte mit dem Tritzel gehen.

Die Kreuzkapelle stand etwa eine Stunde von uns weiter oben im Gebirge, auf einem Waldanger. Wenn der Wetterwind ging im Sommer und dort das Glöcklein geläutet wurde, konnte man bei uns im Hof den Klang hören. In der Fastenzeit war die Kapelle ein beliebter Wallfahrtsort, kamen an jedem Freitag aus nah und fern Andächtige herbei, zündeten vor dem lebensgroßen Kreuzbilde, das in der Kapelle über dem Altare stand, Lichter an, beteten, legten bescheidene Opfergaben hin und gingen erleichterten Herzens wieder nach Hause. Da in der Nähe dieses Andachtsortes keine Menschenwohnung war, so ging täglich von den Waldbauernhäusern ein altes Weiblein hinauf, um die Kapelle zu öffnen, zu schließen und das Glöcklein zu läuten.

Das war also unser Emmaus, zu welchem der alte Tagwerker Tritzel und ich auszogen - ein heiliger Gang, wie der Alte unterwegs wiederholt versicherte.

Endlich kamen wir auf den Waldanger. Da lag der Schatten, nur die Baumwipfel standen im Sonnenschein. Auf dem Anger gab es noch Schnee, auch auf dem Dache der Kapelle lag er und ließ am Rande tropfende Eiszäpfchen herabhängen. Als wir dem Eingange nahe kamen, zog der alte Tritzel den Hut vom Haupte und glättete mit der anderen Hand sein graues Haar. Dann drückte er an der Türklinke. Da gab nichts nach, und er blickte mich betroffen an.

Er ging rings um die Kapelle, als suche er einen zweiten Eingang. „Schau du!" rief er plötzlich, „da ist ein Fenster. Der Laden geht auf, so! Er ist zwar nicht groß, aber eine Spindel wie du kann hinein!"

„Eine Spindel wie ich", war mein Aufbegehren; „nein, da schlief ich nicht hinein!"

„Ei freilich schliefst hinein, Buberl. Nachher scheibst von innen an der Tür den Riegel weg und laßt mich ein; wir knien uns hin vor das Kreuz und beten eins miteinand'."

Vor das Kreuz hinknien und beten, das war freilich verlockend, denn ich hatte den gekreuzigten Jesus sehr lieb und wollte ihm mit dem Gebet eine Freude machen. Ich ließ es also geschehen, als der Tritzel mich emporhob, ins Fenster steckte und tapfer nachschob, weil es doch ein bißchen eng herging an diesem Himmelspförtlein. Ein Ruck, und ich kollerte drinnen hinab. Auf einen Schrei, den ich ausgestoßen, fragte er draußen: „Hast du dir weh getan?"

„Weiß nicht, es ist ganz finster", war die Antwort, denn ich konnte es nicht sehen, ob das Nasse an den Nüstern Blut war oder etwas anderes. Hernach machte ich mich an die Tür. „Schieb den Riegel zurück!" rief draußen der Tritzel.

„Es ist kein Riegel", berichtete ich nach längerem Umhertasten.

„Lalli! Wird doch ein Riegel sein. Jedes Schloß hat einen Riegel."

„Aber das ist ein eisernes Schloß, und man kann nicht dazu."

„Ein eisernes? - Du verdammt! hätt' ich bald gesagt, christlich Weih' ausgenommen." Also er draußen. Und fuhr fort: „Wart, Buberl, greif ans Fenster. Da hast eine Zündholzschachtel. Damit zündst die Kerzen an, die auf dem Altar stehen. - Du, Buberl, weil du schon drinnen bist, geh schau, siehst auf dem Altar kein zinnernes Schüsserl nicht stehen?"

„Ja", antwortete ich, „und sind mächtig viel Kreuzer und Groschen drin."

„Hat 's die Alte akkurat wieder stehen lassen!" sagte der Tritzel draußen in grollendem Tone. „Wenn man halt nicht überall nachschaut! Auf die alten Weiber ist hell kein Verlaß. Für was geht sie denn Brot sammeln bei den Bauern, wegen Kapellendienst, wenn sie doch aufs Geld nicht schaut! Schandbare Leichtsinnigkeit! Mach, Bub, gib's heraus! Das Schüsserl sollst mir herausgeben, das zinnerne Geldschüsserl!"

Jetzt, das kam mir nicht ganz richtig vor.

„Kirchen ausrauben?" sagte ich endlich.

„So ist's! Kirchen ausrauben kunn-ten sie, die Schelm', wenn man das Geld tat' stehen lassen da in der Kapellen!" sprach der Tritzel. „Kirchengut muß man wahren. Geh, Buberl, gib's heraus, schau, ich g'lang schon." Reckte den Arm zum Fensterchen herein und krabbelte mit den langen, hageren Fingern in der Luft umher.

„O nein", war mein Bescheid, „Kirchen ausrauben - das tu' ich nicht."

„Kindisch, wer redet denn von so was! Bei dem heiligen Gang so dumm reden! Dich wird unser Herrgott noch einmal recht strafen! Dem Herrn Pfarrer tragen wir das Geld hinab. Der Herr Pfarrer hat mich gebeten, daß ich ihm von der Kreuzkapelle das Geld möcht' holen."

„So hol's, Tritzel!"

„Wenn ich aber nicht hineinkann. Und du bist schon drinnen. Willst in den Himmel kommen?"

„Ja freilich."

„So gib mir das Geld heraus!" Ein kleines Weilchen überlegte ich, da war's, als flüsterte irgendwo jemand:

„Tu's nicht! Tu's nicht!" Und laut mein Schrei: „Nun, ich tu's nicht!"

„Waldbauern-Bübel, mach keine Geschichten!" schmeichelte er draußen. „Dem Herrn Pfarrer muß man das Wort halten. Kannst ihn auch einmal zu brauchen haben. Steig nur auf die Betbank und gib's heraus. Verstreu nichts, jeder blutige Kreuzer ist heilig! Na, mach, Bürschel, mach! Kriegst nachher was von mir."

Es half ihm aber nichts. Und als er das endlich einsah, ging er fluchend von dannen. Der Boden knarrte, da er über den Schnee hinschritt gegen den Wald.

Ich war in eine trotzige Stimmung gekommen, ohne eigentlich recht zu wissen, warum. Als es jetzt aber ganz stille war in der dämmerigen Kapelle und die zwei von mir angezündeten Kerzen wie Totenlichter brannten vor dem Kreuzbilde, da begann mir unheimlich zu werden. Das Blut sah ich an den Händen und Füßen des Gekreuzigten, und als ich so hinaufstarrte zum blassen, dornengekrönten Antlitz mit dem gebrochenen Aug', da war's, als bewegte sich ein wenig das Haupt. Nur ein einzigmal - und dann war's wieder wie früher.

Mein Versuch, vermittels eines Betpultes zum Fenster wieder hinauszukriechen, mißlang; so faßte ich den vom Türmchen niederhängenden Glockenstrick und hub an zu ziehen, aber nicht gleichmäßig, sondern mit heftigen Zügen und in Absätzen, wie man die Feuerglocke läutet. Als die Erschöpfung kam, setzte ich mich an die Altarstufen und wartete auf einen Retter. Neu erwachende Angst gab mir zugleich neuen Mut; ich kletterte wieder auf die Betbank, zwängte mich durch das Fenster, diesmal zuerst den Kopf und den rechten Arm hinaus, und jetzt ging es. Ich fiel in den Schnee, blieb aber nicht lange in demselben liegen, sondern lief wegshin. Der Boden war gefroren, der Himmel sternenbesät. Was ich bei all diesen Unternehmungen gedacht habe, weiß ich nicht - sehr viel kaum; wenn der Mensch so viel tut, hat er nicht Zeit zum Denken. Nun aber, als ich über die Felder hinablief und von weitem ein zuckendes Lichtlein sah, das immer näher kam, dachte ich: Am Ende kommt mir jetzt der liebe Heiland entgegen. - Und er war's. Voran schritt ein Knecht vom Schützenhof mit Laterne und Glöcklein, hinter ihm drein der Pfarrer in Chorrock und Stola, an seinem Busen das Sakrament bergend. Alsogleich kniete ich am Wegrande nieder, wie es Sitte ist, und bat um den Segen.

Der Pfarrer blieb stehen und sagte: „Das ist ja der Waldbauernbub. Warum bist du noch auf so spät in der Nacht?"

Hab' ich denn erzählt, daß der Tagwerker Tritzel mich in die Kreuzkapelle gesteckt hat, um ihm das Opfergeld herauszulangen, und weil ich es nicht tun wollen, er mich im Stiche gelassen hätte.

„Oh, dieser Spitzbub!" rief der Knecht vom Schützenhofe aus. „Aber heut ist sein Krügel 'brochen. Hat den Ostermontag, wo die Leut' im Wirtshaus sitzen, nicht unbenutzt lassen wollen. Von der Kreuzkapellen in den Schützenhof, dort beim Bodenfenster einsteigen, Kästen ausrauben, vom Bauer derwischt und niedergeschlagen werden. - Ja, mein lieber Waldbauernbub, das sind Geschichten! Und jetzt ist der Tritzel just beim Sterben. Um den Geistlichen geht's ihm, ich glaub', diesmal ist's sein Ernst. Und so bin ich halt gelaufen bei der Nacht. Jetzt rucken wir wieder an, er wird hart warten."

Der Pfarrer gab mir den Segen, dann schritten sie weiter. Noch lange sah ich das Lichtlein dahingleiten, bis es endlich zuckend zwischen dem Gestämme des Waldes verschwunden war.

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