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Des Knechtes Ehre

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Schnee wechselte mit Kälte und, wenn der Föhn dazwischen kam, fand er noch gelbe Blätter, mit denen er nach Gelüst sein Spiel trieb. An solchen Tagen entstanden winzige Bächlein, die abends wieder zufroren und, hart und glatt, am nächsten Morgen den klaren Himmel wiederspiegelten.

„Ausgezeichnet“, sagte Onkel Anton, der bei uns zu Gast weilte. „Morgen schlendern wir in den Wald und erlegen ein schlankes Reh!“

Mein Schlaf war voll wirrer Träume. Immerfort sah ich das arme Reh, von Onkel und seinem Hund verfolgt und schließlich leblos zusammenbrechen. Doch dazu kam es nicht. In der Nacht war dichter Schnee gefallen, und in der reglosen Luft blieb jeder Zweig mit hochgehäufter Last beladen. Es war kalt und doch schien die helle Sonne. Ihr Glanz ließ die frostige Luft noch schneidender wirken. In herrlichem Schimmer schien die ganze Welt aus einem einzigen Mondstein geschnitzt. Inmitten unseres Gartens war der Tümpel bis auf den Grund hinab gefroren. Der Prozeß des Zufrierens war bei völliger Windstille in kürzester Zeit eingetreten. Trotz der arktischen Kälte flog ich heiter über den gläsernen Streifen und im Sausen zählte ich die Kieselsteinchen auf dem Grund, mit denen ich noch vor einigen Tagen hier gespielt hatte.

Ich liebte die eisige Kälte auf der weiten, weißen Ebene, die langen Zapfen an den Dachrinnen, das Wirrwarr der Blumen an den großen Fenstern des Hauses. Weiß und schwermütig war alles. Tiere und Dinge an den Scheiben glichen nicht ganz unserer Welt. Aber ich erriet sie. Ich will nicht die Namen aufzählen, die ich ihnen gab. Das ist eine lange Reihe kindlichen Unfugs. Aber wie herrlich ist es, etwas zu lieben, was rein, fern und ungreifbar ist und nur dem Kinde beschertI — Und durch das Zauberreich hindurch sah ich einen Vogel im Baume hängen, einen schwarzen, großen, in kristallfunkelnden Ästen. So war es im Märchen. Wie hieß es doch? Ich weiß es nicht mehr und wollte es auch nicht wissen. Denn es war sehr traurig, zu verhungern und zu erfrieren und keinen Funken menschlichen Mitleids zu wecken!

„Du wirst doch nicht eine Totenklage auf einen Vogel anstimmen, vielleicht noch eine Pjalmodie intonieren demütigen Flehens? Ein Glück, daß du fünfzig Jahre später auf die Welt kamst. Oder soll man in allem die vergangene Zeit loben? Es war auch eine böse Zeit damals, die eines gewaltigen Anrufs bedurfte, so gewaltig, daß selbst die Toten erwachen müßten, sich aufrichten und den Tyrannen entgegentreten, die Zeit ihres Lebens an wehrlosen Menschen sich versündigten!“

„Ist das ein Märchen, das du uns heute erzählen willst, Onkel?“

„Ein Märchen? O nein! Es gibt Wahrheiten, grausam genug, um grellster Phantasie standhalten zu können. Ich werde euch heute etwas erzählen, was sich wirklich zugetragen hat.“ Der Onkel blickte zu dem Baum hin, wo der arme Vogel,sein Seelchen ausgehaucht hatte. „Vielleicht fühle ich so wie du. Vielleicht tut mir das arme Tier leid. Aber dieses Gefühl reicht nicht mehr bis in mein Innerstes. Damit ist es aus, mein Kind, wohl seitdem ich Menschenelend gesehen habe.“

In der Wohnstube war es still und warm. Ich, die vorhin einen toten Vogel beweint hatte, ließ mich jetzt zu Füßen meiner Mutter nieder, ein wenig linkisch und beinahe stumm von einer wunderbaren Schüchternheit und Spannung. Noch war nichts gesagt, aber soviel war mir klar, es handelte sich um ein großes Erlebnis. Daß nicht alle Erlebnisse angenehm sind, fiel dem Kinde natürlich nicht ein.

„Sicher hast du vom Zaren Alexander dem Zweiten gehört, der unsern Leibeigenen die Freiheit gesellenkt hatte?“ begann mein Onkel. „Kaum, daß er gestorben war, meinten schon viele Leute, daß er schnurstracks den Weg in den Himmel gekommen sei. Zum Beweis .seiner Güte und Gerechtigkeit. Ich war damals jung, etwas älter als du jetzt, so alt, daß ich schon das Gute vom Bösen zu trennen vermochte. Auf jeden Fall war mein Stiefvater anderen Sinnes. Es gibt eben verschiedenartige Menschen, gewisse große Herren, die zu verzeihen auf der Welt sind, dann gibt es solche, die stets aufspringen; diese muß man behutsam an die Hand nehmen und ihnen sagen, daß sie noch lange nicht den Mond aufzufressen brauchen. Dann sind noch die ärgeren, besessenen, denen nichts im Wege steht. Diese gelten allgemein als Despoten. Zu dieser Sorte gehörte mein Stiefvater.

Sein schönes Dorf lag am Fuße sanfter, mit uralten Riesenbäumen bewaldeter Hügel, umgeben von reichen Weingärten, deren Gelbgrün siäh lebhaft von dem Dunkelgrün des nahen Meeres abzeichnete. Eine breite Treppe aus edlem Holz führte in steiler Flut in die oberen Gemächer. Vom Fenster meiner Mansarde konnte ich das Kreuz der Kirche erblicken. Es funkelte goldig gegen den blauen Himmel, gleichsam als Mahner an das Zeitlose. — Nikolai Sawitsch war sogar der Spender dieses Kreuzes. Es hatte ihm viel Geld gekostet und war tatsächlich vergoldet. Auch die kostbaren Glasmalereien in den hohen Kirchenfenstern waren ihm zu verdanken. Denn aus dem satten Grün seiner Gärten und Felder quollen immer neue Reichtümer, die mit den Händen seiner Leibeigenen aus der Erde gefördert wurden.

Aber Sawitsch blickte über all das hinweg. Unruhe plagte ihn. Ich allein wußte, wie sehr er es liebte, die Höhen und die Tiefen aller Erlebnisse auszukosten. Aber Sensationen gibt es auf dem Lande nicht. Es bedurfte schon zuweilen schmerzlicher Erschütterung, um den Geist meines Stiefvaters zu beleben. Manchmal rief er ein paar Mägde herbei, ließ sie am Boden auf Erbsen knien.'Die Weiber wimmerten und klagten, flehten den Despoten um Gnade an. Das erheiterte ihn für Augenblicke. Er lachte, bis ihm Tränen kamen und — bis er Nikita traf. Dieser war der Sohn einer Kuhmagd, die, schon sehr alt und halb erblindet, das Gnadenbrot des Herrn aß. Sawitsch hatte überhaupt vergessen, daß sie noch lebte. Nikita kannte er aber, der schon als Knabe bei der Arbeit mithalf und schon damals die meisten Peitschenhiebe erhielt.

,Du läßt dir zu viel gefallen', murrten die andern. .Nikita, du bist ein Feigling!'

.Geduldet euch, meine Lieben', erwiderte er, .vielleicht werdet ihr noch rechtzeitig erfahren, warum ich alles ruhig hinnehme. Oder soll ich etwa zum Mörder werden?' Er blickte empor. Alle Sanftmut und Ergebenheit schien sich in seinen Augen zu sammeln. Das war es wohl, was seinen Herrn so rasend machte.

Einmal fand ich ihn am Wege neben einem Zaun sitzen und ganz verloren in die Ferne starren. Eine Stunde vorher hatte man ihn mächtig ausgepeitscht. Sein Hemd klebte noch am Rücken.

,Du Ärmster', sagte ich von Mitleid erfüllt. ,Fahr weg, Nikita, weit weg von hier', riet ich altklug.

Er reckte sich zuerst, führte langsam die Hand an seine Stirn. Ein wenig seufzend, hob er den Blick, so daß er in mein Gesicht schauen konnte und zu meiner größten Verblüffung zu lächeln begann. .Flüchten? Das geht nicht! Unser Herr ist reich und mächtig. Wir sind viele, aber klein und hilflos. Er findet uns überall — Und dann! Wo seine Faust hinhaut, da wächst kein Gras. Flüchten? Das wäre gut! Aber was bist du dann, wo gehörst du hin? Ins Gefängnis oder über den Ural... Abwarten, guter Herr! Sie wissen doch auch, daß wir bald befreit werden. Nein — es kommt ja von selbst.'

Alle Schmerzen gehen vorüber, alle schweren Tage werden von ruhigen Nächten abgelöst, nach stürmenden, kalten oder schwülen, schlaflosen. Eine solche Nacht war über dem Meer, dem Land und den Bergen angebrochen, legte ihren samtdunklen, sternenübersäten Mantel auch über Dorf und Haus des Herrn Sawitsch.

Dunkle Gestalten schlichen umher. Da und dort fiel eine Tür leise ins Schloß. Nur die kleinen Öllampen hinter den winzigen Fenstern verrieten reges Leben in den Hütten.

Es war im Sommer 1861. Alexander, unser Väterchen Zar, hatte endgültig die Freiheit der Leibeigenen diktiert. Es mochten Tage oder Wochen verstrichen sein, bis diese Nachricht in Sawitschs Dorf gelangte. Und so wanderten die Leute von Haus zu Haus, umarmten einander und küßten sich dreimal auf die Wange. Stumm und ohne viel Worte zunächst, nur mit Tränen der Freude und der Hoffnung. ,Ein Wunder ist geschehen', flüsterten sie. ,Wir sind jetzt frei!' —

Auch bei Sawitsch änderte sich manches. Er ging soweit, daß er Nikita zum Aufseher ernannte, ihm zehn Rubel und eine bessere Hütte gewährte. Aber mit ihm selbst war eine Wandlung vorgegangen. Er hatte an nichts mehr richtige Freude, flüsterte Gebete oder Flüche und drohte mit den Fäusten, wenn er sich allein dünkte. Ich wußte, daß ihm die völlige Herrschaft über seine Bauern fehlte, die Prügeljustiz, die er so sinnvoll und gern auszuüben verstand. Manchmal sah ich ihn zu Katharina eilen, einem jungen Mädchen, das sein Mündel war, dem er auch eine schöne Hütte samt Garten, Feld und Vieh geschenkt hatte.

Eines Sonntags kam ich mit Sawitsch aus dem Wald von einer Jagd. ,DoH kommt Nikita', sagte mein Stiefvater. ,Und woher, was meiijst du? Sicherlich war er bei Katharina!' Unglücklicherweise lief er uns gerade in den Weg.

,Du kommst von Katja, Kerl! Aber mein Lieber, ist das nicht dumm? Was gedenkst du mit ihr anzufangen?'

.Heiraten', knurrte Nikita und sah den Himmel an.

.Trottel! Oder nein, du bist um einen Kopf schlauer als eine Schlange, einer von den — Erlösten, Befreiten, die nun nach fremdem Eigentum trachten. Ich kann dir sagen, du spekulierst daneben, .Freundchen. Denn zum Heiraten gehören zwei — Katharina hab ich schon einem andern bestimmt.' Und voll Verachtung für den Knecht, den er nicht mehr nach

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