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EINEN SOMMER LANG

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Ich weiß nicht, wer von uns beiden das kleine Gasthaus neben der Brücke entdeckte. Ich hatte sie in der Trambahn (oder wie man in Wien sagt, In der Elektrischen) kennengelernt. Sie hatte es eilig gehabt und so war schon nach den ersten Worten die Frage aufgetaucht, wo wir einander treffen sollten. Vor der Oper, beim Eislaufverein, auf dem Stephansplatz, in einem Cafe? Aber zu allem hatte Alma den Kopf geschüttelt. „Ach nein“, hatte sie mit einem schüchternen Lächeln gesagt, „nicht an so feinen Orten, nicht drinnen in der Stadt, aber“ — sie zögerte ein wenig, obwohl sie gewiß schon wußte, was sie vorschlagen wollte —, „aber könnten wir uns nicht unten bei der Brücke treffen?“ „Wo ist denn das?“ hatte ich etwas erstaunt und innerlich abwehrend gefragt. Da erklärte sie es genau, die Entfernung, den Wagen, den ich benutzen mußte, die Steile, an der. ich sie finden würde. „Und dann“, schloß sie einfach, als ob dies erst alles verständlich machte, „bin Ich nämlich dort in der Nähe zu Hause.“

Es war ein Sommerabend, als ich Alma zum erstenmal erwartete. Die Brücke war eine Eisenlbrücke wie hundert andere. Das Wasser zog lautlos unter ihr dahin. Es sah schwarz und glatt aus. Die Lichter des Ufers spiegelten sich darin in langen schwebenden Bändern. Aber was dem ganzen einen seltsamen Reiz verlieh, war die Ungleichheit der' beiden Ufer. Am rechten lag die Stadt, die hier ihr Ende zu haben schien. Kleine und große Häuser standen nebeneinander und dazwischen reckten sich Schlote auf. Weiter stromauf aber sah man nur eine ungeheure dunkle Masse, über der eine Wolke feurigen Atems stand. Zur Linken war alles dunkel und still. Da schlief der Prater mit seinen hundertjährigen Bäumen. Nur fern, erstaunlich fern, tauchte das Riesenrad aus den Blätterkronen auf wie ein buntes Diadem über einem Lockenhaupt. Drei Straßen mündeten in einen halbrunden Platz vor der Brücke. Sie waren spärlich erleuchtet. Junge Leute in Hemdärmeln standen in kleinen Gruppen beisammen. Aus dem Prater über die Brücke kamen langsamen Schrittes Liebespaare und groß und rot wie ein kupferner Schild erhob sich der Mond aus dem Dunstkreis der Erde. Irgendwoher erklang ein Lied, eine menschliche Stimme und eine Zither. Fahrräder flitzten vorbei und ließen ihre Glocken ertönen, und von Zeit zu Zeit kam die Straßenbahn kreischend in ihren Geleisen und streute Licht nach allen Seiten in die Finsternis, wie die Sprengwagen tagsüber Wasser in den Staub.

Als ich mich umwandte, stand Alma vor mir. Klein sah sie aus und schmächtig, beinahe wie ein Kind. Sie hatte ein leichtes Tuch um die Schulter genommen, aber sie trug keinen Hut. Gewiß hatte sie sich davongestohlen, vielleicht unter der Wohnungstür etwas zurückgerufen von Hitze und Luftschöpfenwollen und war zu mir geeilt. Langsam und wie selbstverständlich schritten wir über die Brücke dem nächtlichen Praterwald entgegen. Als wir aber das andere Ufer erreicht hatten, hielt Alma ah. Ich begriff ihr Zögern und blickte um mich. Da entdeckte ich (oder war sie es) das kleine Gasthaus. Eigentlich war es nur ein Garten, den wir sahen. „Wollen wir uns ein wenig hineinsetzen?“ fragte ich Alma und sie nickte. Als wir eintraten, war der Garten wie ein großes grünes Zimmer. Die Wände bildete nach drei Seiten hin eine dichte Hecke, und über diese Wände neigte sich ein Gewölbe aus vollbelaubten Zweigen. Die braunen Stämme ragten wie dunkle Säulen aus dem Boden empor, und zwischen den Blättern halb verborgen hingen kleine Lampen und warfen breitwallende Schatten über Tische und Bänke. Von dem Wasser war nichts zu sehen, das niedrige Wirtshaus lag davor. Nur wenige Gäste waren anwesend und ich weiß nicht, ob wir ihnen Beachtung schenkten. Wir sprachen von vielerlei, tastend, fragend, oft weit ausholend. Denn solche Gespräche sind wie ein Netz, das man knüpft, um den anderen darin zu halten. Von einem lässig geschlungenen Knoten aus kann das Ganze sich lösen. Alma — so schien es mir wenigstens — hatte nicht viel zu berichten. Um so aufmerksamer lauschte sie allem, was ich erzählte. Und wieviel hatte ich zu erzählen! Zwanzig Jahre war ich alt und hatte große Pläne. Reisen wollte ich machen, die Welt sehen, alles das aufschreiben, was ich dachte, erleben wollte ich. Hier und da kam die Kellnerin und fragte, ob wir etwas zu trinken wünschten. Aber wir hatten noch kaum etwas von unseren Gläsern genippt. Hier und da kam eine Gelse mit feinem Gesumme, ließ sich mit gelockerten Hinterbeinen auf

meine Hand oder Almas Wange nieder und wollte ein wenig von unserem Blut nippen. Das gab mir ein Recht, Almas Antlitz zu berühren. Plötzlich war es spät geworden. Hatte eine Uhr geschlagen? Alma sprang auf. Als wir über die Brücke gingen, stand der Mond hoch über uns, groß und weiß, als habe der Himmel ihn reingewaschen von dem dumpfen Rot der Erde.

Von da ab trafen wir einander beinahe jeden Abend an der Brücke und dann — ohne zu fragen — traten wir in unser Blätterzimmer ein und saßen dort Hand in Hand und sprachen von unserem Leben, das heißt von der Zukunft. Denn die Jugend ist sich der Gegenwart niemals bewußt. Allmählich war uns alles in unserer luftigen Gaststube vertraut geworden. Die Kellnerin kannten wir, die immer außer Atem, leere oder volle Gläser in der Hand, von Tisch zu Tisch lief. Nach kurzer Zeit wußte sie, was wir wünschten und kümmerte sich nicht mehr um uns. Und dann saßen Liebespaare da wie wir (uns erschienen sie natürlich himmelweit verschieden). Es waren nicht immer dieselben, aber sie glichen einander Sarin, daß1 sie nicht viel sprachen, einander an der Hand hielten (heimlich oder offen) und hin und wieder den Wein einander von den Lippen tranken. Und dann saß da jeden Abend ein altes Ehepaar. Er hatte immer einen Humpen goldgelben Weines vor sich stehen und sie ein kleines Glas. Er war sehr alt, vielleicht siebzig, vielleicht achtzig. Auf einen knotigen Stock gestützt saß er da und beugte den Kopf lauschend vor wie ein Vogel, Denn die Alte las ihm, so gut sie es durch ihre dicke Brille und bei dem halben Licht vermochte, aus der Zeitung vor. Sie war vielleicht nicht jünger als er. Ihre Stimme war brüchig und von Zeit zu Zeit mußte sie sich räuspern. Sie las laut und langsam, hochdeutsch und feierlich. Wenn von hochgestellten Persönlichkelten die Rede war, machte sie nach jedem Namen eine Pause, als Ob sie sich und den anderen Zeit lassen wollte, sich von dem überwältigenden Eindruck zu erholen. Bei Eisenbahnunglücken und sonstigen Unfällen zitterte ihre Stimme, war aber von Bösewichten und Unholden die Rede (von Dieben, Räubern, Verführern und Hochstaplern), begleitete sie ihre Worte mit einem Schlag ihres alten knochigen Zeigefingers auf die Tischplatte. Dann mochte es wohl geschehen, daß der Alte seine eine Hand vom Griff des Stockes löste, sie zitternd wie etwas Fremdes, Schweres nach ihr ausstreckte und begütigend ein-, zweimal über ihren Arm strich. Sie murmelte dann etwas wie „es ist schon gut“ und trank einen kleinen Schluck aus ihrem nie geleerten Glas. Einmal meinte Alma, ob wir zwei wohl auch eines Tages so aussehen würden. Da mußten wir beide laut lachen. — Und dann kam manchmal ein älterer Herr. Vielleicht war er noch gar nicht so alt, nur sein Haar war an den Schläfen weiß. Er saß jedesmal allein in derselben Ecke. Er war uns nicht angenehm. Alma nicht, weil er sie von Zeit zu Zeit fest und unverwandt anblickte, nicht wie man ein schönes Mädchen anblickt, sondern wie man einen Schmetterling anschaut oder eine Blüte mit kaltem, wissenschaftlichem Interesse. Mir nicht, weil er wie eine lebendige Verbindung zu meiner übrigen Welt dasaß, gut gekleidet, wenn auch überaus, mir wollte scheinen, absichtlich einfach. Manchmal fing ich einen forschenden Blick von ihm auf, der mich unruhig machte. Er sah klug und wissend aus. Und einmal — freilich ohne jede Begründung — kam mir der Einfall, daß er_viel-leicht weit gereist sei und viel über die Welt und das Leben nachgedacht habe.

So hatte ich es ohne viel Mühe zuwege gebracht, mit Alma ein eigenes, meinem übrigen Dasein fremdes Leben zu führen. Der Mond, den wir über dem Fluß sahen, war nicht der Mond, zu dem ich aus meinem Schlafzimmerfenster aufblickte, die Brücke kam nirgends sonst in meinem Leben vor und die Menschen, die uns begegneten, blieben immer nur Schatten für uns, Schatten mit glänzenden Augen. Niemals hatte ich Platz und Brücke bei Tag gesehen und ich glaube, daß ich mich geweigert hätte, sie zu betreten aus Angst, sie fremd und anders und entweiht zu finden. Ja, dieser halbrunde Platz mit seinen ungleichen Häusern, der Fluß, die Stadt, der feurige und dunkle Himmel und das strahlende Riesenrad über dem Praterwald, dies alles war Almas und meine Welt und die kleine Gastwirtschaft war unsere Heimat. Und der nahe Prater? Wenn jetzt eine Gelse kam, Alma zu stechen, dann überlegte ich nicht lange und war sie schneller als ich, dann versöhnte ich wenigstens mit meinen Lippen die schmerzende Stelle. Früher brachen wir jetzt auf. Aber es war nicht Alma, die erschreckt aufsprang. Ich rief der Kellnerin. Und dann gingen wir, die Hände ineinander verschlungen, mit kleinen und doch so ungeduldigen Schritten in den nachtverhängten Wald hinein. Wie ein großer rauschender Vorhang schlug er sich auseinander, ließ uns ein und fiel hinter uns wallend zusammen. War man aber in seinem Inneren, zerfloß die Finsternis. Sterne schimmerten durch die Blätterkronen und tausend unerklärliche Laute machten die Stüle lebendig und geheimnisvoll. Almas Antlitz, nun nur wie ein heller Schein, blickte angstvoll zu mir empor. Und ich beugte mich zu ihr nieder, ich zog sie eng an mich. Ich war ihr Freund, ihr Beschützer. Ich war stolz und glücklich und voll Ernst und Eifer, ihr zu beweisen, wie sehr ich sie liebte. Ach, wie fern war diese Welt aller anderen. Und nicht nur der meinen, auch der Almas, die doch in dieser Nachbarschaft aufgewachsen war. Einmal, als ich sie fragte, ob sie mich lieb habe, sagte sie: „Weißt du, ich hätte niemals gedacht, daß man unter diesen Bäumen so glücklich sein kann.“ — Und gerade das war es, was auch ich empfand. i

Es war ein langer Sommer. Der Mond kam als kleine Sichel hervor, wenn wir nach Hause gingen, er hing als unförmige Frucht am Rand der Erde, wenn wir einander trafen, er stand als strahlende Scheibe mitten im Himmel,wenn wir unsere Schritte dem Wald zu lenkten. Aber auch dieser Sommer hatte ein Ende. Es wurde kühl, es wurde Herbst. Ich sollte fortreisen, weit fort, nach dem Süden, ans Meer. Oh, wieviel ich Alma davon erzählt hatte, oft voll Begeisterung, oft mit leiser Ungeduld, weil sie so gar nicht teilzunehmen schien an all den Herrlichkeiten, die ich ihr ausmalte. Arme Alma! Den letzten Abend, als wir einander trafen, ging ein feiner Regen nieder. Aber wir saßen wie immer auf unserer Bank im Blätterzimmer, nur daß die Decke schon anfing, da und dort eine Lücke zu zeigen, die Lichter dringlicher leuchteten und aus der dichten Heckenwand die braunen Blätter über unsern Tisch hinwehten. „Bald wird es so sein“, sagte ich, „daß niemand mehr ahnt, daß hier unser grünes Zimmer war.“ Almas Hand lag In der meinen. Wir waren die einzigen Gäste im Garten. Die Kellnerin kam, aber sie sah nicht mehr erhitzt aus und in ihrer Hand schwankten keine Gläser. Und dann standen wir auf und schritten noch einmal in den Wald. Unter dem Baum, der uns immer beschützt hatte, nestelte Alma etwas aus Ihrer Tasche. Bei dem halben Licht sah ich, daß es eine dünne, silberne Kette mit einem Kreuz war. „Willst du es tragen?“ sagte sie mit ihrem lieben schüchternen Lächeln. „Solange du es trägst, wirst du mich nicht ganz vergessen.“ — Und dann gingen wir zurück über die Brücke, jedes in sein wirkliches Leben.

Zwanzig Jahre und mehr sind seitdem vergangen. Ich Weiß nicht, warum mir heute in diesem kleinen Gasthausgarten das alles einfällt. Vielleicht weil ich allein dasitze bei einem Glas Wein, vielleicht weil es Spätsommer ist? Ich blicke um mich. Aber ich sehe nicht weit. Eine dichte grüne Hecke schließt den kleinen Garten ein und die großblättrigen Kastanien mit ihren glatten säulenhaften Stämmen schließen den Himmel aus. Dafür leuchten ein paar Lampen durchs Laub. Es sind nicht viele Gäste da, ein paar junge Leute, die miteinander flüstern, eine alte aisthmaitische Kellnerin mit bellender Stimme und dort im Winkel ein altes Paar. Sie liest in der Zeitung, aber sie liest ihm nicht vor und er sitzt und sinnt vor sich hin in die Vergangenheit (denn das ist die einzige Zeit, in der das Alter noch lebt). Und jetzt, wird nicht sogleich der Herr erscheinen mit dem scharfen Blick und den weißen Schläfen? Ich hebe mein Glas. Und plötzlich sehe ich ihn vor mir, im Spiegel des Weines, mich selbst. Die silberne Kette habe ich niemals getragen. Und Alma? Alma habe ich vergessen. Bis heute, bis jetzt. Ich rufe die Kellnerin. Ich stehe schwerfällig auf. Und dann — mit einmal weiß ich alles, alles ist wieder, wie es war — dann gehe ich mit kleinen und doch so ungeduldigen Schritten in den Wald. Da ich zurückkehre, hängt zwischen Wolken ein sonderbar halbreifer Mond. Vom Wasser steigt eine seltsame Kühle auf. Die Lichter in dem grünen Zimmer sind erloschen. Und es beginnt fein und still zu regnen wie im Herbst.

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