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Das RotleeMdien

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Am Tage des heiligen Gregorius, Wundertäter

Welch Himmel! Welch klare Tage: es ist warm wie im Juni. Die Sonne gibt wohl ihre letzte Kraft her.

Nachts hatte ich es stürmen hören, dann war ich, als es still geworden, wieder eingeschlafen. Kaum erwacht, ging ich zum Fenster, gespannt, was wohl für ein Wetter sei.

Ich tauchte die Hand in den Wasserkrug und hielt sie zum Fenster hinaus, um zu sehen, ob sich die Luft noch immer rege, was an den nahen, unbelaubten Bäumen nicht recht auszunehmen war. Es war, wie mir geschienen hatte: ich spürte kein größeres- Kältegefühl, weder auf dem Rücken noch auf der Fläche der Hand.

Ich stieg hinunter, um die Kirchentür von innen zu öffnen.

Da war auch schon das Rotkehlchen,* der Vogel, dem ich seines zahmen Herumflatterns wegen besonders zugetan bin. Er vollführt es gerne um das Steinkreuz in der Kirchenmauer, wobei er in den Ruhepausen zwitschert.

Es läuteten die Glocken andrer Kirchen und ich zog mich zurück, um mit der Messe zu beginnen. Meine Schwester traf ich in der Sakristei.

Als ich hinaustrat, um mich an den Altar zu begeben, warf ich einen Blick auf die Bänke: kein Mensch war da.

Ich wollte eben die Stimme zum Vorbereitungsgebet erheben, als ich das Rotkehlchen auf der großen Kerze rechts der letzten Altarstufe bemerkte. Ich wartete, daß es auffliege und seine schwanken Freiübungen wieder aufnehme, damit ich die nötige Sammlung gewinne.

Ich wußte genau, die Tür war offen geblieben, nicht weil ich mich meiner Handlungen erinnerte —'■ ich erkannte es an dem in der Kirche herrschenden matten Licht. Schon wollte ich meine Schwester bitten, das -Rotkehlchen mit dem Löschhütchen zu verjagen, da es aber still und ruhig dasaß, nahm ich mir vor, nicht aufzublicken, ehe ich nicht auf den Altarstufen zum Schlußgebet der Messe niedergekniet wäre.

In dieser Stimmung fühlte ich mich eins mit dem heiligen Opfer, wie es mir in anderen — und ich wage es zu sagen— gerade in den besten Fällen auf ganz natürliche Weise gelungen war.

Als ich schließlich die Augen hob, sah ich das Rotkehlchen nicht mehr.

Ich habe ein schlechtes Gehör und meine Schwester schwache Augen. In die Sakristei zurückgekehrt, erwartete ich beim Ausziehen der Kirchengewänder, sie werde mir sagen, sie habe etwas durch die Kirche fliegen hören. Doch sprach sie von anderem, darunter zuletzt vom Frühstück. Ich bemerkte, damit habe es keine Eile: es war Samstag, da hatte ich meine Vorbereitungen für den kommenden Festtag zu treffen.

Ich wartete) bis ich ihre Schritte nicht mehr hörte, dann entfernte ich mich vom Tisch mit den Kirchengeräten.

Als ich am, Altar vorüberging, nahm ich das Glöckchen auf. In der Mitte der Kirche blieb ich stehen, sah um mich, schüttelte den Kopf und machte die Probe: anhaltend läutete ich das Glöckchen.

Ich trat auf den Kirchplatz hinaus, bis einen Schritt an das Kreuz heran. Der waagrechte Balken war schattenlos. Ich legte die Hände darauf, und tat so zuerst unwillkürlich, dann bedacht, was das fröhliche Rotkehlchen vor mir getan.

Am Tage des heiligen Bischof) Nikolaus

Ich sprach mit meinem Pächter, der auch mein Mesner ist und ab und zu die Kapelle auf der Anhöhe reinigt, die einstmals den heiligen Schutzengeln, j:tzt aber d*n armen Seelen im Fegefeuer geweiht ist. Am Tage dieser Feste lese ich dort eine Messe. Ich kam auf die Vögel zu sprechen. Mir fiel das Rotkehlchen ein, und so fragte ich ihn, ob es falsch sei, diese Art von Vögclchen für die zahmsten von allen zu halten. Er stimmte mir zu und steuerte dazu aus eigener Erfahrung bei: beim Nahen des Winters verlassen die Rotkehlchen die Wälder und Schlupfwinkel, wo sie im Frühling und im Sommer hausten; sie wählen dann zu ständigem Aufenthalt einen Baum in der Nähe eines Hauses, das sie aufsuchen, wenn der Schnee in der Luft liegt und sich auf der Erde gelegentliche Nahrung nicht mehr findet. Er fügte freilich hinzu, eines zu kennen, das habe eine recht trügerische Wahl getroffen. Er war bei der Kapelle gewesen und hatte ein Rotkehlchen zwischen deren kleinem Fenster und der Zypresse umherflattern sehen. Diese Mitteilung und die Gleichartigkeit der beiden Flüge gaben mir den Wunsch ein, allein zu sein, und so verabschiedete ich mich von dem Landmann.

In meinem Arbeitszimmer setzte ich mich in den Lehnstuhl und schlief so lang, als man zu einem Traume braucht.

Mir träumte, ich läse mein Brevier in der Kapelle und säße auf der einzigen Bank dort, mit der Lehne an der Wand links vom Eingang. Ich hob die Augen, sah die Türe zugeschlagen, legte Brevier und Brille auf meinen Platz in der Bank und öffnete sodann die Türflügel: da standen zwei Gestalten, die mir den Rücken kehrten. Ich näherte mich ihnen, bis ich sie fast mit meinem schwarzen Rocke streifte: es waren ein Engel und eine arme Seele. Es schneite allenthalben, nur nicht auf ihre offenen Hände. Von denen des Engels schien helles Licht auszugehen. Das Rotkehlchen flog von einer Hand zur andern.

Mehrmals schon hatte ich meine Schwester ermahnt, auf Träume nicht zu achten, nun aber, da sich zufällig Gelegenheit ergibt, genau zu unterscheiden, will ich es mit gebührender Klarheit sagen: es gibt Träume und Träume: eine Unterscheidung, die man wohl besser ohne Frauen vornimmt, die in ihrer Mehrheit nur geringe Denkfähigkeit besitzen und daher im Hinblick auf die Folgerungen unberechenbar sind.

In der Erregung dieses Traumes faßte ich den Entschluß, zur Kapelle zu gehen, dort für das Futter des Rotkehlchens vorzusorgen, im Fall es schneien sollte — ob es nun jenes gewesen war, das ich im Auge hatte, oder nicht.

Am Tage der heiligen Jungfrau und Märtyrerin Lucia

Ich sah auf die Uhr, bevor ich den Fuß auf die kleine Anhöhe setzte: es war genau zehn Uhr. Dies ist jene Stunde, der ich vor allen anderen den Vorzug gebe, ja ich 'denke sie mir gern als Kuppel des Tages.

Lauschend blieb ich -neben der kleinen Zypresse stehen, in der Erwartung, das Rotkehlchen zu hören. Alles blieb still. Ich steckte eine Hand ins Laub. Nichts flog empor. So ging ich weiter, doch bevor ich den Schlüssel abzog, warf ich einen Blick auf das Fensterchen, von dem das Innere der Kapelle sein Licht erhält.

Ich öffnete die Tür und ließ die Flügel weit offen. Aus der Tasche nahm ich eine Schnur, die ich eingesteckt hatte, trat ans Fensterchen und band dessen Flügel derart fest, daß ständig ein Spalt offen blieb, damit das Rotkehlchen hindurchschlüpfen könne. Dann holte ich zwei kleine Näpfe vom Altar, die wohl seit vielen Jahren leergestanden waren. Ich füllte sie mit Futter bis zum Rande und steckte die Päckchen mit dem Rest wieder in die Tasche. Jeden der beiden kleinen Näpfe stellte ich auf ein Ende der Bank.

Es war noch nicht Zeit, zu gehen, auch hatte ich das Rotkehlchen weder gesehen noch gehört. So dachte ich, es wäre hinuntergeflogen ins flache Land zum Wasser. Ich hätte gerne draußen gewartet, aber ich begriff: es war möglich, daß es mich von weitem sah und sich daher scheute, zurückzukehren. Ich setzte mich in die Mitte der Bank, um mich der Lektüre des Breviers zu befleißigen, und legte das Lesezeichen dort ein, bis wohin ich kommen wollte, der vermutlichen “Wartezeit entsprechend.

Ich hatte das Lesen aufgenommen, brach es aber plötzlich unter dem Eindruck ab, bei den Näpfen stünden nun auch die im Traum gesehenen Gestalten. Daß ich den Kopf nicht sogleich hob, geschah allein aus tiefster Ehrfurcht. Scheu wandte ich mich nach der einen, nach der andern Seite: da war nicht Engel und nicht arme Seele zu erblicken. Für eine Weile sammelte ich meine Aufmerksamkeit auf das Stück Himmel im Türrahmen und erlebte eine solche Ueberraschung, daß ich mich erhob und auf die Schwelle trat. Das Wetter hatte sich verändert.

• Eine Wolke, zartgewandet und von Naß geschwellt, wie sie im Bersten Schnee entläßt, stieg dort im Westen hoch. Ein kalter Wind strich über mein Gesicht.

Was vom Futter übrig war, streute ich zwischen der Zypresse und dem Fensterchen aus. Ein Häufchen davon legte ich vor dem Spalt aufs Fensterbrett.

Ich schloß die Tür der Kapelle und begann d.:i Abstieg nach Hause.

Am Tage des keiligen Papstes Sylvester

Vorhin begab ich mich zur Tür, um noch einen Blick zurück auf den letzten Weg des Jahres zu werfen.

Der Frühling hat sich plötzlich eingestellt, am Höhepunkt des Winters. Der Schnee, der im Kommen war, ist nun ein weißer Streifen auf den Bergen.

Ich kam von meinen gewohnten Wetterbeobachtungen ab, weil ich das Rotkehlchen singen hörte. Es war nirgends zu sehen. So lauschte ich, den Blick fest auf das Kreuz gerichtet. Und versäumte nicht das Stelldichein mit ihm, das sich zu seinen anmutigen und natürlichen Uebungen einfand.

Plötzlich flog es hoch empor und dann langsam zur Kapelle weiter.

Ich trat ins Haus zurück und machte meiner Schwester einen Vorschlag, doch ohne vom Rotkehlchen zu sprechen: wir sollten zum Jahresende zwei kleine Lichter auf die Kreuzesarme stellen. Da sie zögerte, weil sie keinen Zusammenhang mit dem Festkalender sehen konnte, sagte ich ihr, das wäre auch ein sichtbarliches Flehen um einen glücklichen Verlauf des neuen Jahres.

Wir gingen mit Lichtchen aus dem Haus: ich stellte meines rechts und sie das ihre links, wie es sich bei Geschwistern ziemt, von denen eines Priester ist.

Wir hatten berechnet, daß sie in einer windstillen Nacht wie dieser erst nach Mitternacht heruntergebrannt sein würden.

Aus „Erde, preise den Herrn“. Aus dem Italienischen übersetzt von Harms von Winter. Verlag

Herold, Wien.

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