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Meine Tante Marie Ebner-Eschenbach

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Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, sehe ich mich als vier- bis fünfjährigen Jungen auf meinen Fußspitzen stehen, um irgend etwas zu Gesicht zu bekommen, was mich nichts anging.

Den Sommer verlebte ich alljährlich auf dem Gute meines Vaters in Mähren. Es war ein großes, mitten in einem Garten gelegenes Haus mit hellen Zimmern, von denen eines meine größte Aufmerksamkeit erregte. Es lag dem Teil des Gartens zugekehrt, der auf dieser Seite so hoch anstieg, daß er durch eine Brücke mit dem oberen Stockwerk in Verbindung gesetzt war, und erschien, wenn man es des Morgens oder Abends zum Guten- morgen- oder Gutenachtsagen betrat, wie alle anderen Zimmer, war sehr einfach, sehr hell, hatte einen großen, dicht ans Fenster gerückten Schreibtisch und einen Tisch mit vielen Büchern darauf… Dann stand eben Tante Marie darin, begrüßte einen, schloß einen in die Arme und entließ einen wieder.

Was aber ging dort in der Zwischenzeit vor, da es strenge verboten war, es ungerufen zu betreten? „Tante Marie arbeitet“, hieß es dann, „und darf nicht gestört werden.“ Worin bestand es wohl, dies geheimnisvolle Arbeiten, das mir als der Inbegriff alles Wissenswerten erschien, weil es keine Störung vertrug und sich immer hinter verschlossenen Türen abspielte?

Etwas sehr Wichtiges mußte es sein, denn selbst Papa, der große, strenge Papa, blieb oft horchend davor stehen, ehe er eintrat, und tat es nie, ohne vorher angeklopft zu haben. Wenn die Fenster offen standen und man sich recht streckte, sah man wohl von draußen tief in das Zimmer hinein. Dann saß Tante Marie über ihren Schreibtisch gebeugt und schrieb. Aber das war es wohl nicht. Deswegen hieß es in Erfahrung zu bringen, was dort geschah, wenn die Fenster geschlossen waren. Da blieb nichts übrig, als das Ohr an die Tür zu legen, wenn man gerade einen Augenblick unbeobachtet war, und zu lauschen … Endlich beschloß ich, einen gewaltsamen Versuch zu unternehmen. Eines Tages, ziemlich früh am Morgen, schlich ich mich aus meinem Zimmer und gelangte unbemerkt bis zu den Wohnräumen Tante Maries, die gegen den Gang zu durch eine Doppeltür abgeschlossen waren.

Nun galt es, die äußere Tür, die immer knarrte, so lautlos als nur möglich zu öffnen und dann so lange zu warten, bis drinnen jeder Verdacht, daß ein Besuch nahe, geschwunden sei — um dann plötzlich und überraschend einzutreten und damit dem Rätsel endlich auf die Spur zu kommen. So tat ich also, und nach einigen Augenblicken ängstlicher und hochgespannter Erwartung riß ich die Tür auf und trat ein.

Tante Marie hatte wieder an ihrem Schreibtisch gesessen. Ich mußte sie aber durch mein unerwartetes und stürmisches Erscheinen recht erschreckt haben, denn sie fragte mich ziemlich unwirsch, was ich denn wolle. Ich aber sah mich enttäuscht im Zimmer um und fragte ungehalten: „Wann tun Sie denn etwas?“ Da glitt ein Lächeln über ihr Gesicht, dann hieß sie mich wieder in ihrer gewohnten sanften und milden Art ihr gegenüber Platz zu nehmen und ihr zuzusehen. Sie nahm einen Bogen weißen Papiers zur Hand und schrieb etwas darauf nieder. Nach einiger Zeit rief sie mich zu sich heran und sprach: „Das macht die Tante Marie. — Schau her!“

Da waren auf einmal auf dem Blatt alle möglichen Dinge gezeichnet: Menschen und Tiere und weites Land und daneben standen einige Verse, die Geschichte eines kleinen Buben, der sehr neugierig war und alles kennenlernen wollte, was verboten war und was er nicht verstand, und der dabei so lange keine Ruhe fand, bis sich eines Tages eine gute Fee seiner erbarmte und ihm die Augen auftat, so daß er alles sehen konnte, was in der Welt vorging. Nun schmolz es vor seinen Blicken zusammen, wurde klein und geringfügig und war gar nicht mehr das, was er er wartet hatte. Da erkannte er, daß der Zauber an ihm selbst gelegen hatte, und war geheilt.

So habe ich Tante Maries Bekanntschaft gemacht. Von diesem Tage an kam ich zu ihr, wenn mich irgend etwas Besonderes beschäftigte.

Eines Tages verreisten meine Eltern, und ich setzte es mir in den Kopf, daß ich während ihrer Abwesenheit der Hausherr sei. Da man mich durch gütliches Zureden von dieser Ansicht abzubringen suchte, beschloß ich, einen augenfälligen Beweis dafür zu liefern. Bei uns wurde immer um ein Uhr zu Mittag gegessen. Nun hatte ich die Beobachtung gemacht, daß auf meinen Vater und auf meine Mutter gewartet wurde, wenn sie sich zufällig verspäteten, und daß niemand bei Tische Platz nahm, bevor sie körnen. Einmal also, als es ein Uhr schlug, verbarg ich mich, um nicht mit den anderen zum Speisen geführt zu werden, und begab mich in ein Fremdenzimmer, das gerade unbewohnt war und leer stand. Dort setzte ich mich in einen Lehnstuhl und wartete. Bald merkte ich denn auch, daß ich gesucht wurde. Ich hörte Schritte und Stimmen, die meinen Namen riefen, rührte mich aber nicht. Endlich wurde mir die Zeit doch zu lang, und als jemand an der Tür meines Verstecks vorüberging, blieb ich zwar sitzen wie bisher, aber ich hustete. Zufällig war es gerade Tante Marie, die nun eintrat und mich fragte, was ich hier treibe. Da sah ich sie im Bewußtsein meines Sieges lange an und gab ihr, so nachlässig als ich nur konnte, zur Antwort: „Nichts! Ich lasse warten!“

Da aber habe ich Tante Marie zum ersten Male in meinem Leben ernstlich böse gesehen. Mit einer Strenge, deren ich sie nicht für fähig gehalten hätte, rief sie mir zu: „Wer bist denn du, daß du alte Leute auf dich warten lassen willst? Ein Knirps, der von der Liebe seiner Eltern lebt und nichts wäre ohne diese Liebe.“ — Für diesmal war ich kleinlaut geworden und schlich davon. Im Innern aber war mein Trotz erwacht. Ich wollte schon zeigen, wer ich sei, und gerade Tante Marie sollte mich kennenlernen. Deshalb benahm ich mich von nun an ihr gegenüber äußerst zurückhaltend und kühl. Wenn sie mit mir sprach, hörte ich zwar zu — ging aber nicht weiter darauf ein, sondern dachte mir meinen Teil, und gar, wenn sie etwas an mir rügte. Anlaß dazu gab ich ihr freilich mehr als genug, aber alle ihre liebreichen Ermahnungen waren in den Wind gesprochen. Weil sie selbst überaus bescheiden war und immer und bei jeder Gelegenheit zurückstehen wollte, suchte ich ihr zum Trotz meine eigene Person in den Vordergrund zu stellen, wo es nur anging. Wenn es mir gelang, nahm ich bei Tisch das Beste für mich und fand es ganz natürlich, daß alle, die nach mir kamen, sich bescheiden mußten. So trieb ich vielerlei Unarten, und je mehr Tante Marie sie mißbilligte, je mehr sie im Verein mit meinen Eltern mit wahrer Engelsgeduld mich davon abzubringen suchte — um so stütziger hielt ich daran fest. Außerdem hatte ich oft genug Gelegenheit gehabt, ihre Nächstenliebe wahrzunehmen. Mit allen Armen im Dorfe lebte sie, kannte jeden einzelnen von ihnen, seine Wünsche, seine Hoffnungen und seine Sorgen, und half, sooft es nur anging. Nie hat einer von ihnen ihre Schwelle betreten, ohne getröstet und reich beschenkt von dannen zu gehen. Deshalb begann ich, ihr zum Trotz, ein übermütiges und selbstbewußtes Benehmen zur Schau zu tragen und mir einzubilden, daß ich etwas viel Besseres sei als diese Leute, mit denen sich Tante Marie zwar auf eine Stufe stellte, die aber doch nur einfache Bauern waren und in ärmlichen Hütten lebten, während ich in einem Schloß aufwuchs. So hochmütig, als ich nur konnte, sah ich auf sie herab, sooft ich ihnen begegnete. Milde und strenge Ermahnungen Tante Maries und meiner Eltern halfen da nichts. Ich blieb dabei. So war ich neun Jahre alt geworden, als ich mich einmal in meiner ganzen Herrlichkeit zu zeigen beschloß.

Unsere damalige Köchin war eine Frau, die Kindern gegenüber ein weiches Herz haben mußte, denn sie ließ sich tausenderlei Ungezogenheiten von mir gefallen, ohne sich jemals ernstlich dagegen aufzulehnen. Ich hatte dies natürlich mit meinem Selbstbewußtsein in Verbindung gebracht und mir eingeredet, daß sie sich mir einfach nicht zu widersetzen wage, weil ihr meine Geburt den nötigen Respekt einflöße. Deshalb erwählte ich ihr Bereich, um die Sache einmal auf die Spitze zu treiben und mir damit einen augenfälligen Beweis meiner Macht über eine dienende Person zu verschaffen.

Eines Tages also drang ich ungebeten in die Küche ein und begann dort alles in Unordnung zu bringen, was mir gerade unter die Hände kam.

Die Arme hat es lange ertragen. Endlich wurde es aber auch ihr zuviel. Mit einem Ruck, der ihre schmächtige Gestalt erzittern machte, trat sie vom Herd, an dem sie gerade gestanden war, zurück und — mit einer wahrhaft majestätischen Gebärde wies sie mir die Tür. Da muß ich wohl einige Augenblicke lang starr vor Staunen gestanden haben. Dann aber streckte ich mich, so hoch ich nur konnte, und rief in voller Entrüstung: „Sie ist ja eine gemeine Person!"

.Die Wirkung dieser Worte war eine unerwartete. Ohne sich weiter um mich zu kümmern, band sie sich eine reine Schürze um, rückte ihr Häubchen zurecht und sprach, als sie damit zu Ende war: „So, jetzt geh’ ich zur Mama!“

Da habe ich einen Fall getan, der um so tiefer war, je höher ich vorhin gestanden hatte. Die Angst vor dem nun herannahenden Strafgericht blies meinen Stolz hinweg wie Spreu. Ich vergaß mein Vorhaben, den Beweis, den ich mir schuldig zu sein glaubte, vergaß die ganze Würde meiner Person und rannte der guten Alten nach, die mir bereits ein Stück Weges voran war, klammerte mich an sie, hielt mich mit beiden Händen an ihren Röcken fest und suchte sie mit aller Kraft zum Stehen zu bringen. Doch vergebens. Sie war unerbittlich geworden und schleppte mich, da ich nicht losließ,' wie einen Ball hinter sich her.

So trafen wir Mama, die zufällig gerade in Tante Maries Begleitung war. Nun erhielt ich meine Strafe, sah aber mein Unrecht ganz und gar nicht ein, sondern blieb genau derselbe, der ich war — bis ich eines Tages erfuhr, Tante Marie habe aus Anlaß dieser Begebenheit etwas geschrieben, das sie mir demnächst selbst vorlesen wolle, weil es mir meine Fehler vor Augen führen und mich bessern würde. Vielleicht!

Bald wurde ich denn auch zu ihr gerufen, mußte mich niedersetzen und zuhören, und sie las. Anfangs nahm ich eine möglichst gleichgültige und geringschätzige Miene an, denn es interessierte mich gar nicht, was ich da zu hören bekam. Es war das Hirzepinz- chen, die Geschichte eines kleinen Jungen, der sehr keck und selbstbewußt war und die Liebe seiner Umgebung als etwas Selbstverständliches hinnahm, sie schlecht vergalt und in seinem Uebermut sogar eine leibhaftige Fee als gemeine Person bezeichnete. Da bemerkte ich auf einmal: das war ja ich, ich selbst, und so lebendig gezeichnet, daß ich mich vor mir sah wie in einem Spiegel. Und nun lauschte ich, lauschte gespannt und immer gespannter, und als das Hirzepinzchen verzaubert war und die mächtige Fee die Liebe zu ihm aus allen Herzen getilgt hatte, da verstand ich auf einmal, daß es wirklich nur die Liebe der anderen gewesen war, die meinem Leben Gehalt verliehen hatte. Da schmolz etwas in meinem Innern. Und als das Hirzepinzchen das Gut, das es verscherzt hatte, durch Arbeit zurückgewinnen mußte und es wirklich wieder zurückgewann, beschloß ich, mich den Weg führen zu lassen, den Tante Marie mich da wies. Ich hatte zum erstenmal eine Kraft und eine Ueberlegenheit verspürt, der ich mich unterwarf, ohne mir Rechenschaft zu geben, weshalb es geschah. An dem nächsten darauffolgenden Weihnachtsabend, als ich schöne, vergoldete Aepfel und Nüsse zum Geschenk bekam, habe ich einen schweren inneren Kampf mit mir selbst gekämpft und dann diese Aepfel und Nüsse Tante Marie, deren Leben Wohltun und Nächstenliebe war, in der Absicht, es ihr gleichzutun, mit den Worten überbracht: „Da! Nimm Sie, damit Sie auch etwas hat!“ Zwar muß ich meine Großmut bedauert haben, denn ich fügte unmittelbar hinzu: „Essen kann Sie sie auch, aber schade wär’s halt.“ Aber Tante Marie schloß mich dafür in die Arme …, und diesmal war ich stolz darauf, ihr Gefallen erregt zu haben. Ich wurde es aber noch weit mehr, als ich erfuhr, sie hätte diese meine Aeußerung in einer Novelle verwertet und mich darin so brav geschildert, als ich nun werden müsse: in „Fräulein Susannes Weihnachtsabend“.

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