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Am Standesamt

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Am Fuße der Treppe wartete der Junge. Das große Rathaus lag über ihm wie ein Schatten — Abteilungen für Geburten und Todesfälle, für Automobilscheine, für Gemeindesteuern —, irgendwo in irgendeinem langen Korridor des Standesamtes. Er sah auf die Uhr und sagte zu Herrn Prewitt: „Zum Kuckuck mit ihr. Sie ist unpünktlich.“

Prewitt gab zurück: „Das ist das Vorrecht der Braut.“

Der Junge sagte: „Ich und Dallow — wir wollen ihr 'n Stück entgegengehn.“

Prewitt rief hinter ihm her: „Wenn sie aber einen andern Weg kommt? Wenn Sie sie nicht treffen... Ich werde hier warten.“

Sie wandten sich nach links aus der Amtsstraße heraus. „Das is' nicht der richt'ge Weg“, sagte Dallow.

„Wozu sollten wir auf sie warten?“

„Jetzt kannst du nicht mehr davon loskommen. “

„Wer will denn das? Ich mache mir bloß 'n bißchen Bewegung, kann ich das nicht?“ Er blieb stehen und starrte in das Schaufenster eines kleinen Papierladens! Die Tageszeitungen aus London und von Brighton, ein Plakat mit den Schlagzeilen der heutigen Sensationen: Heftiger Auftritt in der Stadtratssitzung. Frau ertrinkt beim schwarzen Felsen. Zusammenstoß in der Clarencestraße. Eine Zeitschrift mit Wildwestgeschichten, eine Nummer von „Filmhumor“. Hinter den Tintenflaschen und Füllfedern, den Papiertellern für Ausflüge und den kleinen zotenhaften Spielwaren standen die Werke bekannter Sexualforscher. Der Junge starrte hinein.

„Ich weiß, wie dir's zumute ist“, sagte Dallow. „Ich bin selbst mal getraut worden. Es geht einem sozusagen auf den Magen. Nerven ganz einfach. Wenn du's wissen willst, ich bin sogar gegangen und hab mir eins von diesen Büchern gekauft, aber es stand nichts drin, was ich nicht schon wußte.“

Der Junge wandte sich und öffnete den Mund, um zu sprechen, doch seine Zähne klappten zu. Flehend und entsetzt sah er auf Dallow.

Wenn Kite hier gewesen wäre, dachte er, dann hätte er reden können — aber wenn Kite hier gewesen wäre, hätte er es nicht nötig gehabt, zu reden... dann wäre er nie in all das hineingeraten.

Seine Augen irrten weg, als sehe er etwas Grauenerregendes vor sich. Leise sagte er: „Als ich 'n kleiner Junge war, hab ich mir geschworen, ich wollte 'n Geistlicher werden.“

„Ein Geistlicher? Du ein Geistlicher? Das ist gut“, sagte Dallow. Er lachte gekünstelt, wechselte unruhig den Fuß, so daß er mitten in einen Haufen Kot trat.

„Warum soll einer nicht Priester werden?“ fragte der Junge. „Die wissen Bescheid. Die bleiben weg von...“ Sein Mund mitsamt dem Kiefer hing plötzlich lose herunter, man hätte meinen können, er werde gleich weinen, doch wütend hieb er mit den Händen nach dem Fenster — „Leidenschaft in der Ehe“, all das Grauen — „von dem da“.

„Wast hast du gegen 'n bißchen Ulk?“ widersprach Dallow, während er seinen Schuh am Straßenrand abkratzte. Das Wort Ulk schüttelte den Jungen wie Malanafieber. Er sagte: „Du hast wohl nicht die Annie Collins gekannt?“

„Nie von ihr gehört.“

„Sie ging in dieselbe Schule wie ich“, sagte der Junge. Er warf einen Blick die graue Straße hinunter, und dann spiegelte das Glas vor „Leidenschaft in der Ehe“ von neuem sein hoffnungsloses Gesicht. „Sie hat ihren Kopf auf die Schienen gelegt“, fuhr er fort, „oben bei Hassocks. Sie mußte zehn Minuten auf den Siebenuhrzug warten. Er hatte Verspätung wegen Nebels. Er riß ihr den Kopf weg. Fünfzehn war sie. Sie sollte ein Kind kriegen und wußte, wie das tat. Zwei Jahre vorher hatte sie schon eins gehabt.“

„Es kommt eben vor“, sagte Dallow. „Alles Glückssache.“

Die „Welt muß doch weitergehen“, sagte Dallow, dem unbehaglich zumute war.

„Warum?“

„Mich brauchst du nicht zu fragen. Du weist es ja selbst am besten. Du bist doch römisch, nicht? Du glaubst...

„Credo“, sagte der Junge.

„Lateinisch versteh' ich nicht. Ich weiß bloß...“

„Schieß los“, forderte ihn der Junge auf. „Laß hören. Dallows Glaubensbekenntnis.“

„Die Welt ist gar nicht so schlimm, wenn man's nicht zu toll treibt.“

„Ist das alles?“

„Es wird Zeit, daß du zum Standesamt gehst. Horch, es schlägt eben zwei.“ Ein Glockenspiel stellte sein blechernes Geläut ein und schlug — eins — zwei —

Das ganze Gesicht des Jungen entspannte sich wieder. Er legte die Hand auf Dallows Arm. „Du bist ein guter Kerl, Dallow, du weißt 'ne Menge. Sag mir —“, seine Hand glitt ab. Er sah an Dallow vorbei die Straße hinunter. Hoffnungslos sagte er: „Da ist sie. Was macht sie in dieser Straße hier?“

„Beeilen tut sie sich auch nicht gerade“, kommentierte Dallow, während er nach der langsam näherkommenden Gestalt sah. In dieser Entfernung sah sie nicht einmal so alt aus, wie sie war. „Da hat Prewitt wirklich ein Kunststück fertiggebracht“, setzte er hinzu, „daß er euch überhaupt die Heiratslizenz verschafft hat, wenn man es sich richtig überlegt.“

„Die Eltern haben eingewilligt“, erwiderte der Junge tonlos. „Der Moral weg'n ist es das beste.“ Er sah dem Mädchen entgegen, als sei sie eine Fremde, die er zum erstenmal treffen sollte. „Und dann, siehst du, war auch Glück dabei, weil ich nicht polizeilich angemeldet war. Nirgends konnten sie mich finden. Dann haben sie mich ein paar Jahre älter gemacht. Keine Eltern. Kein Vormund, 'ne rührende Geschichte hat der alte Prewitt ihnen vorerzählt.“

Sie hatte sich feingemacht für die Hochzeit, den alten Hut abgelegt, den er nicht leiden konnte, einen neuen Regenmantel, eine Spur Puder und billigen Lippenstift.

„Wo bleibst du?“ fragte der Junge. „Weißt du nicht, daß du zu spät kommst?“

Sie gaben sich nicht einmal die Hände. Eine schauderhafte Förmlichkeit kam über alle beide.

„Sei nicht böse, Pinkie. Siehst du“ — sie würgte die Tatsache beschämt heraus, als gestehe sie ein, mit seinem Feind verhandelt zu haben —, „ich war in der Kirche.“

.Wozu?“ wollte er wissen.

„Ich weiß nicht, Pinkie. Es war mir so wirr. Ich dachte, wenn ich zur Beichte ginge ...“

Er grinste plötzlich. „Beichte? Na, das ist großartig.“

„Siehst du, ich wollte ... ich dachte .. .

„Na was denn, ,zum Kuckuck?“

„Ich wollte im Stande der Gnade sein. wenn ich dich heirate.“ Sie schenkte Dallow keinerlei Beachtung. Der theologische Ausdruck lag sonderbar und schulmeisterlich auf ihrer Zunge. Sie waren zwei Katholiken, die miteinander auf der grauen Straße standen. Sie verstanden einander. Sie benutzten Ausdrücke, die Himmel und Hölle gemeinsam waren.

„Und hast du's getan?“ sagte der Junge.

„Nein. Ich ging hin und schellte und fragte nach Vater James. Aber dann fiel mir ein, daß es keinen Zweck hätte zu beichten. Deshalb ging ich wieder weg.“ Sie sagte es mit einem Gemisch von Furcht und Stolz. „Wir begehen Todsünde.“

„Solange wir beide am Leben sind“, sagte der Junge mit bittrer und unglücklicher Befriedigung, „hat es keinen Zweck, daß wir jemals zur Beichte gehen.“ Er hatte sich seine Sporen im Bereiten von Schmerz vertiient: erst in der Schule, mit dem Zirkel, dann mit dem Rasiermesser; über beides war er hinaus. Jetzt war ihm, als seien die Morde an Haie und Spicer geringfügige Taten, das reihste Knabenspiel gewesen, als habe er solch kindisches Beginnen hinter sich gelassen. Das Morden hatte nur zu diesem geführt — zu dieser Fäulnis. Ehrfurcht vor seinen eigenen Kräften erfüllte ihn. „Wir machen besser, daß wir weiterkommen“, sagte er, und berührte ihren Arm mit einer Geste, die an Zärtlichkeit grenzte. Wie schon früher einmal hatte er das Gefühl, sie zu brauchen.

Herr Prewitt begrüßte sie mit offizieller Wohlgelauntheit. Es war, als äußere er all seine Scherze im Gerichtssaal, um etwas Bestimmtes zu erreichen, das Ohr des Richters zu gewinnen. In der großen städtischen Halle, aus der nach allen Seiten Gänge zu Geburt und Tod liefen, roch es nach Desinfektionsmitteln. Die Wände waren gekachelt wie in einem öffentlichen Abort. Eine weiche, hohle Hand dirigierte den Jungen am Ellbogen: „Nein, nein, nicht dorthin. Das ist das Steuerbüro. Das kommt erst später.“ Er führte sie die große Steintreppe hinauf. Ein Beamter mit gedruckten Formularen in der Hand kam an ihnen vorbei.

In der Kirche durften nur Bräutigam und Braut die Stufen zum Hochaltar emporsteigen, hinter den Schranken niederknien, wo der Priester mit der Hostie sie erwartete.

„Kommen die Eltern?“ fragte Herr Prewitt. Sie schüttelte den Kopf. „Das Gute daran ist“, sagte Herr Prewitt, „daß es schnell vorbei ist. Nur die Namen an der vorgezeichneten Stelle sind zu unterzeichnen. Nehmen Sie hier Platz. Wir müssen natürlich warten, bis wir an der Reihe sind.“

Sie setzten sich. In einer Ecke lehnte ein Besen an der Kachelwand. Die Fußtritte eines Beamten quietschten auf der eisigen Pflasterung einen anderen Gang hinunter. Nach kurzer Zeit öffnete sich eine große braune Tür; sie sahen innen eine Reihe von Beamten, die jedoch nicht aufsahen; ein Mann und eine Frau traten auf den Korridor hinaus. Ihnen folgte eine Putzfrau und ergriff den Besen. Der Mann — er war in mittlerem Alter — sagte „danke“, gab ihr ein Trinkgeld. „Wir können doch noch den Zug um drei Uhr fünfzehn erreichen“, sagte er dann. Auf dem Gesicht der Frau konnte man eine gewisses ungläubiges Erstaunen lesen, zu unbestimmt, als daß man es hätte Enttäuschung nennen können. Sie hatte einen braunen Strohhut auf und trug eine Aktenmappe in der Hand. Sie war ebenfalls im mittleren Alter. Es war, als ob sie dächte: Ist das alles, was dran ist — nach all diesen Jahren? Sie gingen die breite Treppe hinab, ein wenig voneinander entfernt, gleich Fremden in einem Warenhaus.

„Wir sind dran“, sagte Herr Prewitt, und erhob sich flink und energisch. Er ging voraus, durch das Zimmer, wo die Beamten saßen und arbeiteten. Keiner hob auch nur den Kopf, sie fuhren ungestört fort, ihre Zahlen auf Papier zu setzen. In einem kleinen inneren Raum mit grüngestrichenen Wänden, wie in einem Krankenhaus, erwartete sie der Standesbeamte. Ein Tisch, drei oder vier Stühle an der Wand. So hatte sie sich das Heiraten nicht gedacht — einen Augenblick lang erschreckte sie die kalte Armut dieser Handlung nach staatlicher Vorschrift.

„Guten Morgen“, begrüßte sie der Standesbeamte. „Vielleicht setzen sich die Zeugen einen Moment, und Sie beide...“, er winkte sie zu sich an den Schreibtisch und starrte sie mit goldumränderter, glasiger Wichtigkeit an — es war, als sehe er in seinem Amt eine fast priesterliche Funktion. Das Herz des Jungen schlug, die Wirklichkeit des Augenblickes machte ihn ganz elend. Er zeigte einen Ausdruck von mürrischem Eigensinn und Stumpfsinn.

„Sie sind beide sehr jung“, sagte der Beamte.

„Es ist abgemacht“, erwiderte der Junge, „Sie brauchen nicht darüber zu reden. Es ist abgemacht.“

Der Standesbeamte warf ihm einen Blick tiefen Mißfallens zu. Dann sagte er: „Sprechen Sie mir nach“, und leierte so schnell die Worte „Ich erkläre feierlich, daß mir kein gesetzlicher Hintergrund bekannt ist“ herunter, daß der Junge nicht zu folgen vermochte. Der Beamte sagte scharf: „Es ist ganz einfach. Sie brauchen es nur nachzusagen.“

„Sprechen Sie langsamer“, sagte der Junge. Er hätte gern seine Hand auf den Hebel gelegt, um der Schnelligkeit Einhalt zu tun, aber es ging weiter: ehe er sich versah, nur wenige Sekunden waren verstrichen, da wiederholte er die zweite Formel: „Zu meiner mir gesetzlich angetrauten Ehefrau.“ Er versuchte es lässig hinzusagen und vermied es, Rose anzusehen, aber die Worte waren schwer von Schmach.

„Kein Ring?“ fragte der Standesbeamte schneidend.

„Wir brauchen keine Ringe“, entgegnete der Junge. „Hier ist doch keine Kirche“, und er fühlte, nie mehr könne er sein Gedächtnis von dem kalten grünen Büro und dem glasigen Gesicht losreißen. Er hörte, wie Rose neben ihm wiederholte: „Ich fordere die hier Anwesenden zu Zeugen auf...“, und dann das Wort „Ehemann“, und er sah sie scharf an. Hätte er die geringste Selbstgefälligkeit auf ihrem Gesicht gefunden,, er hätte hineingeschlagen. Doch nur Erstaunen stand darauf, als lese sie aus einem Buche vor und sei auf eine verkehrte Seite geraten.

„Sie unterzeichnen hier“, zeigte der Standesbeamte. „Die Gebühr ist sieben und einen halben Schilling.“ Er trug eine Miene amtlicher Unbekümmertheit zur Schau, während der Anwalt herun-kramte.

„Die hier Anwesenden“, sagte der Junge und ließ ein gebrochenes Lachen hören, „das seid ihr, Prewitt und Dal-low.“ Er nahm den Halter, und die harte Amtsfeder kratzte ins Papier hinein, so daß die Fasern daran hängenblieben. In alten Zeiten, fiel ihm ein, unterzeichnete man einen solchen Pakt mit seinem Blute. Er trat zurück und sah zu, wie Rose unbeholfen ihren Namen hinschrieb — seine zeitliche Sicherheit im Austausch gegen zwei Ewigkeiten der Höllenpein. Er hatte nicht den aller-mindesten Zweifel, daß sie Todsünde auf sich luden, und eine Art düsteren Frohlockens und Stolzes erfüllte ihn. Jetzt füllte er sich als vollgereifter Mann, um den die Engel wehklagten.

„Ihr hier Anwesenden“, wiederholte er, ohne sich im geringsten um den Beamten zu kümmern, „kommt mit, wir wollen was trinken gehen.“

„Nanu“, versetzte Herr Prewitt, „das überrascht mich von Ihnen.“

„Ach, der Dallow kann Ihnen sagen, daß ich jetzt gern eins trinke“, sagte der Junge und sah zu Rose hinüber. „Alles tu' ich jetzt.“ Er nahm sie beim Ellbogen und ging voran auf den gekachelten Gang hinaus und ins Treppenhaus. Der Besen war fort, und jemand hatte die Blume aufgehoben. Ein Paar stand auf, als sie herauskamen: Der Markt war fest. „Das war 'ne Hochzeit“, sagte er. „Habt ihr schon sowas gesehn? Jetzt sind wir--“ er wollte sagen „Mann und

Frau“, doch sein Inneres schreckte vor der Definition zurück. „Jetzt müssen wir feiern“, sagte er, und wie ein alter Verwandter, der stets todsicher auf die richtige Taktlosigkeit verfällt, fuhr sein Kopf fort: „Was feiern?“

Sie gingen in die Kneipe an der Ecke. Es war beinahe die mittägige Polizeistunde, und er ließ allen große Gläser Bitterbier vorsetzen, nur Rose bekam einen Portwein. Sie hatte den Mund nicht aufgemacht, seit der Standesbeamte ihr die Formel abverlangt hatte. Herr Prewitt sah sich rasch im Kreise um und steckte seine Brieftasche an eine sichere Stelle. Mit seinen dunkelgestreiften Hosen hätte er wirklich auf einer Hochzeit sein können. „Die Braut soll leben“, sagte er in scherzhaftem Ton, der jedoch vollkommen ins Leere fiel — es war, als habe er versucht, im Gerichtssaal einen Witz zu machen, und den stummen Verweis des Richters gespürt: geschwind faltete sein altes Gesicht sich wieder zu ernstem Ausdruck, und ehrerbietig sagte er: „Auf Ihr Glück, liebes Kind.“

Sie erwiderte nichts; sie betrachtete sich selber in einem Spiegel mit der Aufschrift „Extrastarkes Braunbier“. In der neuartigen Umgebung mit einem Vordergrund von Bierseideln war es ein ihr fremdes Gesicht. Es schien eine ungeheure Last von Verantwortung zu tragen.

„'n Penny für Ihre Gedanken“, brachte

Dallow die alte Redensart vor. Der Junge setzte sein Glas Bitterbier an den Mund und kostete zum zweitenmal — die Übelkeit von anderer Leute Vergnügen blieb ihm in der Kehle stecken. Er betrachtete sie säuerlich, wie sie so wortlos die Blicke seiner Gefährten zurückgab; und wiederum empfand er, wie sie ihn ergänze. E r kannte ihre Gedanken: sie schlugen unbeachtet in seinen eigenen Nerven. Mit giftigem Triumph in der Stimme sagte er: „Ich kann dir sagen, was sie denkt, 'ne schöne Hochzeit, denkt sie. Sie denkt: So hart' ich mir's nicht vorgestellt. Das stimmt. Wie?“

Sie nickte, hielt ihr Glas Portwein so, als hätte sie nicht gelernt, wie man trinke.

„Mit meinem Körper zoll' ich die Ehre“, begann er zu ihr hin zu zitieren, „mit all meinem weltlichen Gut... und dann“, sagte er zu Prewitt gewandt, „geb' ich ihr ein Goldstück.“

„Schluß, meine Herrschaften“, rief der Kellner und spülte noch nicht völlig geleerte Gläser in seinen Bleitrog, wischte mit einem in Schaum getränkten Lappen über die Bar.

„Wir stehen mit dem Priester oben beim Hochaltar, sehen Sie...“

„Trinken Sie aus, meine Herrschaften.“

Herrn Prewitt wurde es ungemütlich: „Eine Heirat ist so gut wie eine andere in den Augen des Gesetzes“, und er nickte dem Mädchen, das sie alle mit verhungerten, unerwachsenen Augen ansah, ermutigend zu. „Sie sind ganz regelrecht verheiratet. Glauben Sie mir.“

„Verheiratet?“ fragte der Junge. „Nennen Sie das verheiratet?“ Er ließ das Bier über die Zunge laufen.

„Nur sachte“, redete Dallow ihm zu, „nur sachte. Mach's doch dem Mädchen nicht so schwer. Du gehst auch wirklich zu weit.“

„Wir schließen, meine Herren, trinken Sie ausl“

„Verheiratet!“ wiederholte der Junge. „Fragt bloß sie.“ Die beiden Männer tranken mit erschrockenen, zur Seite gekehrten Augen aus, und Herr Prewitt sagte: „Nun, ich muß weiter.“ Verächtlich sah der Junge sie an: nichts verstanden sie. Mit rauher Freundlichkeit sagte er: „Komm. Wir wollen gehen“, und hob die Hand, um sie ihr auf den Arm zu legen — sah dann das Doppelbildnis im Spiegel (Extrastarkes Braunbier) und ließ sie wieder fallen: Ein Ehepaar, blinkte das Bild ihm zu.

„Wohin?“ fragte Rose.

Wohin? Daran hatte er nicht gedacht — daß man sie irgendwohin bringen mußte —, Flitterwochen, ein Wochenende an der See, das Geschenk aus Mar-gate, das seine Mutter auf dem Kamin stehen gehabt hatte; von einem Seebad ins andere, nur die Landebrücke war verschieden.

„Auf Wiedersehen“, sagte Dallow; er blieb einen Augenblick an der Tür stehen, fing den Blick des Jungen auf, die Frage, die Bitte, verstand nichts und trabte mit fröhlichem Winken hinter Herrn Prewitt drein, ließ sie allein miteinander.

Es war, als seien sie noch nie zuvor allein gewesen, obwohl der Kellner da war und Gläser abtrocknete: nicht richtig allein, weder in der Kammer im Cafe Snow noch über dem Meer in Peace-haven — nicht allein, so wie sie jetzt allein waren.

„Wir müssen gehen“, sagte Rose.

Sie standen auf dem Gehsteig und hörten, wie die Tür der „Krone“ sich hinter ihnen schloß und abgeriegelt wurde. Es war ihnen, als würden sie aus dem Garten Eden des Nichtwissens ausgestoßen.

(Aus dem Roman „Brighton Rock“ mit Bewilligung des Paul-Zsolnay-Verlages, Wien.)

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