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Mein Freund Svatoplulc

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An einem Frühlingsvormittag 1939, kaum zwei Wochen, bevor ich meine Prager Heimatstadt für immer verließ, begegnete ich in einem der vielen Winkel der alten Theingasse einem Mann mittlerer Jahre, der mit einem Stelzfuß über das Pflastęr hinklapperre und eine Zigarrenschachtel mit Streichhölzern und Schnürsenkeln vor sich hertrug. Dieser Mensch spielte in meinem Leben eine merkwürdige und, wie sich zeigen sollte, sehr wichtige Rolle.

Ich kannte ihn aus den Tagen meiner Kindheit. Er hieß Svatopluk Janda und hatte mit mir in der Volksschule auf der gleichen Bank gesessen. Bei unvorsichtigem Ballspiel war er von einem Straßenbahnwagen erfaßt worden. Er humpelte auf einem hölzernen Ersatzpfeiler, was ihm unter den sechs- und siebenjährigen Mitschülern einen gewissen Respekt eintrug, der an Bewunderung grenzte. Er war auch keineswegs bedrückt oder schwermütig, sondern eher temperamentvoll und herrisch.

Ich besuchte eine Prager Vorstadtschule mit deutscher Unterrichtssprache, in die fast ausschließlich Kinder armer Familien eingeschrieben waren. Obschon der Sohn eines gering besoldeten Beamten, galt ich bereits als wohlhabend und verzärtelt, wenn ich auch täglich nicht mehr als zwei Kreuzer Taschengeld erhielt.

Vier Jahre saß ich mit Svatopluk in einer Klasse. Dann kam ich ins Gymnasium, ein Umsturz, der in meinem Fall viel bedeutsamer war, als sonst dieser Uebergang zu sein pflegt. Denn aus einer Umwelt armer, abgehärteter Kinder kam ich plötzlich in einen Stadtteil und eine Anstalt zumeist reicher Muttersöhnchen, die seidene Halstücher gegen Zugluft urpgewickelt bekamen und denen man wohlverpackte Zehnuhrbrote in die Tasche steckte; behütete Kinder gutgestellter Leute. War ich in der Volksschule verächtlich „der Reiche” genannt worden, so wurde ich im Gymnasium, anfangs jedenfalls, verächtlich als „Armer” behandelt. Aber die Mitschüler der Volksschule hatten mich wenigstens in ihre armen Haushalte eingeführt, die vollgepfropft waren mit zahllosen aufbewahrten Dingen, für die man irgendeinmal noch eine Verwendung erhoffte. Später sollte ich wahrnehmen, daß die reichen Haushalte im Gegensatz hierzu leer erschienen.

Svatopluk Janda kam mir nach der Volksschule durch mehr als drei Jahrzehnte abhanden. Erst jetzt sah ich ihn wieder.

„Janda”, sagte ich, „Svatopluk! Wie geht’s dir?” Angesichts des Bildes, das er darbot, war dies eine überflüssige Frage. Er beantwortete sie auch nicht, sondern blickte mich eine Weile mit seinen dunklen, unverändert unheimlichen Augen an. Prüfend wanderte sein Blick dann meinen Anzug hinunter bis zu den Schuhen.

„Ich weiß schon”, sagte er, „du bist der

„Hör doch auf mit diesem Unsinn. Ich bin nicht reich. Ich bin es auch nie gewesen. Das habt ihr euch alle nur eingebildet.”

„Also, du bist nicht reich? Trägst du vielleicht nur eine Verkleidung und gehst sonst auch wie ich mit Schuhbandeln und Zündhölzern in den Gassen herum?”

„Das nicht gerade”, sagte ich verlegen. „Aber nur ganz zufällig nicht. Zwischen mir und einem Reichen ist aber trotzdem noch ein gewaltiger Unterschied.”

„Ist er so groß wie zwischen mir und dir… ? Antworte! Ist er so groß wie zwischen mir und dir?” Seine Augen wetterleuchteten, und ich duckte mich, als hätte ich einen Tritt von seinem Stelzfuß befürchten müssen. „Vielleicht hast du recht”, antwortete ich ängstlich. „Aber ich kann doch nichts dafür.”

,’,Das kann wahr sein”, bemerkte er nachdenklich. „Außerdem bist du ja blöd und hast wahrscheinlich deshalb irgendeinen guten Posten.”

Ich überging diese Aeußerung. Ich kannte zu viele dumme Menschen- mit erheblichem Einkommen. Uebrigens war ich meiner eigenen Intelligenz gerade damals nicht so unbedingt sicher. Ich antwortete also nicht. Ich getraute mich aber auch nicht, Geld hervorzuziehen und es Svatopluk anzubieten. Daß meine Unterredung mit ihm auf offener Straße Vorübergehenden oder gar Bekannten auffällig erscheinen mußte, kam mir nicht in den Sinn. Vielleicht, ich muß es zu meiner Schande gestehen, hätte ich- zu anderen Zeiten ein solches Gespräch vermieden. Aber in jenen Tagen des Zusammenbruches der Dimensionen, in jenen letzten Tagen im alten Prag war das anders geworden.

„Steh’ ich dir für ein Mittagessen?” fragte er und überhob mich so meiner Verlegenheit. „Ich esse nämlich gern”, setzte er augenzwinkernd hinzu.

„Selbstverständlich”, beeilte ich mich zu sagen, „selbstverständlich. Ich auch. Wohin wollen wir gehen?”

„Zu mir natürlich”, sagte er. „Ich wohne hier ganz nahe. Ein feines Herrchen wie du kann sich doch nicht mit mir in einem Gasthaus zeigen. Wo ich außerdem noch vorbestraft bin. Macht dir das etwas?”

„Nein. Gewiß nicht. Ich meine, heutzutage sind viele . .. Also warte ein wenig. Ich werde rasch etwas einkaufen.”

„Einkäufen? Ganz überflüssig. Ich habe genug zu Hause. Ich habe Brot und eine Masse Wurst. Es ist allerdings Pferdewurst. Hast du schon einmal Pferdewurst gegessen?”

„Pferdewurst? Ich glaube nicht.”

„Also, da haben wir’s. Und du sagst, daß du kein Reicher bist. Nicht einmal Pferdewurst hast du gegessen. Ich kann dir sagen, daß sie besser schmeckt, als du glaubst.”

Er humpelte vorwärts durch das enge Thein- gäßchen, in dem man jetzt gegen Mittag nur wenige Menschen sah. Vor einem der alten, kleinen Häuser blieb er stehen, stieß mit dem Ellbogen die Tür auf und trat vor mir her in einen dunklen, muffigen Hausflur, an dessen Ende eine Kellertreppe zu einem Raum führte. / der nur durch ein niedriges, vergittertes und dazu noch’ blindes Fenster von einem darüber liegenden Hof aus spärliches Licht empfing.

„Hab nur keine Angst. Es ist ganz gemütlich”, bemerkte er.

Es roch säuerlich nach alten Abfällen. Mich gruselte, aber ich überwand mich. Svatopluk , zündete eine kleine Petroleumlampe an, und ich konnte jetzt unterscheiden, was die Einrichtung des Raumes bildete, dessen Mauerverputz zur Hälfte abgefallen war. Ich erkannte eine aus Kisten zusammengeschobene Lagerstätte mit ein paar angefetzten Pferdedecken und einem gebauschten Zwilchsatz, der vermuthch mit Lumpen gestopft war und als Polster diente. Eine größere Kiste fand als Tisch Verwendung, zwei kleinere als Sitzgelegenheiten. Auf einem dręibeinigen, in zweifelhafter Balance schwebenden Gestell standen alte Teller, Gläser, eine Blechkanne und einige in Zeitungen verpackte undefinierbare Objekte.

„Ein feines Quartier”, erklärte Svatopluk. Ich hab’ schon schlechter gewohnt.”

Der Pferdewurst, die Svatopluk brachte, hatte an der Schnittfläche einen metallisch irisierenden Schimmer und schmeckte süßlich. Das Brot war vertrocknet. Ich aß, denn ich wollte um nichts in der Welt das Mißfallen oder gar den Zorn meines Gastgebers hervorrufen. Ich fühlte mich wie in der Höhle Polyphems, ängstlich erwartend, was nun als Nächstes geschehen würde. Svatopluk aß herzhaft und schweigend große Wurststücke.

„Jetzt wäre ein Bier gut”, sagte er, nachdem er zu Ende gegessen hatte.

„Ich könnte ja welches holen”, schlug ich vor.

„Nicht nötig. Ich werd’ schon eines verschaffen. Das heißt: wenn du es bezahlst. Geld hab’ ich nämlich nicht.”

Ich reichte ihm meine Geldbörse, die er öffnete. Er betrachtete eingehend den Inhalt, schüttelte den Kopf, nahm dann soviel heraus, wie ihm nötig schien, und reichte mir die Geldbörse zurück. Dann humpelte er zur Tür,

„Frau Döbrohlawek, Bier!” rief er in den Hausflur.

„Erst Geld”, kam eine scheppernde Frauenstimme zurück.

„Gieriges Luder”, knurrte Svatopluk, schleppte sich hinaus und kam nach kurzem mit einer Flasche wieder. „Sogar eine Einlage für die Flasche hat sie mir abgenommen. Sie hat’s nämlich zu Hause. In den Ausschank geht sie nicht’ Und ich schon gar nicht. Nusler Bier. Trinkst du Nusler?”

Ich bejahte. Er tat einen tiefen Zug und bot mir dann die Flasche an, nachdem er ihren Hals an seinem Aermel abgewischt hatte. Ich trank.

„Ja, das ist einmal ein Festtag”, sagte er zufrieden. „Wie bei Matthäi.” (Matthäi war eine alljährliche Prager Kirchweih.)

„Und was für eine Art von Unsinn treibst du?” fragte er dann.

Ich konnte keine klare Antwort geben. Im Augenblick war ich berufslos. Es war ein Glück, daß ich nichts angeben konnte. Ein Hinweis auf Erwerb und irgendeine Tätigkeit hätte ihn doch nur bitter oder vielleicht gar zornig machen müssen. Ich war damals drauf jind dran, aus dem Lande zu fliehen, auf irgend-, feine Weise, die. jijir AVorderlwnd-noch nicht klar war.

„Ich muß fort von hier”, sagte ich. „Ich meine: von Prag oder vielmehr aus dem Lande.’” „Aha”, sagte er. „Wahrscheinlich bist du so irgendein Politischer. Von solchen Sachen hab’ ich auch schon gehört. Na, mich geht das ja alles nichts an.” Er setzte sich auf, betrachtete mich eihe Weile und sagte dann: „Also, da hast du’s! Du hast doch bestimmt gar nichts angestellt. Du hast sicher nicht einmal irgendeinen dreckigen Hunderter gestohlen, nein, du siehst mir nicht so tüchtig aus. Und trotzdem lassen sie dich nicht in Ruh’, deine eigenen Leute.”

Es waren zwar durchaus nicht meine eigenen Leute, aber ich schwieg.

„Siehst du”, fuhr er fort, „deine eigenen Leute! Lind sie lassen dich auch nicht in Ruh’. Ich hab’ hier wenigstens mein Zuhause. Da kann mich niemand wegjagen. Den möcht’ ich sehen! Davonlaufen muß ich vor niemandem.” Er faßte mich scharf ins Auge. „Mir scheint, du bist wirklich ein armer Hund. Na, wenn du etwas brauchst, ich helf’ dir. Ich kann noch manche Sache drehen. Geld hab’ ich freilich nicht…”

„Janda”, sagte ich, „wenn du Geld brauchst, ich meine für dich selbst…”

„Untersteh dich!” rief er, „du hast das noch nötiger als ich, du Trottel. Das soll keine Beleidigung sein.”

Er stand auf, ging zu dem dreibeinigen Gestell und wickelte eines der in Zeitungspapier gehüllten Pakete auf.

„Das ist mein Archiv”, sagte er dann. „Da will ich dir etwas schenken. Ich hab’ nämlich noch etwas von dir aus der Schulzeit.”

„Was? Jetzt, nach 30 Jahren?”

„Ja. Komisch, nicht wahr? Es hat sich mit mir herumgeschleppt. Da, ein Zettel von dir. Den hat dir der Petrak einmal aufgesalzen. .Vorn Vater Unterschrieben bringen: Ich soll nicht schwätzen und nicht einsagen.’ “

Es war wirklich ein Zettel, auf dem ich die besagten Gebote zwanzigmal hintereinander hatte aufschreiben müssen. Die Unterschrift meines Vaters aber, dessen entsann ich mich genau, die Unterschrift hatte ich gefälscht. Selbstverständlich hatte das der Lehrer Petrak sogleich erkannt und hatte meinen Vater in die Schule kommen lassen. „Unterschriftenfälscher”, schrie mein Vater und schmierte mir eine ins Gesicht. „Unterschriftenfälscher, das Aergste, was es auf Gottes Erdboden gibt!” Ich war damals zehn Jahre alt.

„Warum hast du dir denn diesen Zettel aufgehoben?” fragte ich staunend.

„Warum? Du hast mir doch eingesagt, und geschwätzt hast du auch mit mir. Petrak hat den Zettel nachher fortgeworfen, und ich hab’ ihn aufgeklaubt. Warum, weiß ich nicht. Seither hab’ ich ihn. Da hast du ihn jetzt, zum Andenken. Damals hast du dich wenigstens getraut, etwas zu machen.” Ich nahm den Zettel und steckte ihn ein.

„Na also”, sagte Svatopluk. „Jeder hat irgend etwas für jeden. Jetzt will ich aber meinen Nachmittagsnatzer machen.” Er streckte sich wieder auf seinem Lager aus. Ich stand auf.

„Wenn du etwas brauchst, so komm”, rief er mir noch nach, und es schien mir, daß ich noch nie im Leben eine ehrlichere Einladung erhalten hatte.

Ich wunderte mich, daß es noch für irgend jemanden einen Nachmittagsschlaf geben könne in jener beklemmenden Phase der Besetzung. Auch der Schlaf der Nächte hatte sich auf eine ganz kurze Spanne zusammengedrängt. Nur die wenigsten schliefen von selbst ein oder erwachten von selbst. Der Zustand der Furcht ist die niedrigste und beklagenswerteste Stufe der Seelenverfassung, durch das Erregen von Furcht seine Zwecke zu erreichen, das ärgste Verbrechen an der Menschenwürde. Denn Furcht, selbst in ihren leisesten Aeußerungen, ist der Ansatz des Irrsinns. Dies ist Urerkenntnis.

Ich hielt mich in jenen Tagen wenig zu Hause auf; denn Heim bedeutete Erreichbarkeit für gefährlichen Zugriff. Auf meinen Wegen vermied ich die Hauptstraßen; denn viele, die mich kannten und nun der Gewalt dienten, mochten mir begegnen und mich preisgeben. Aber auch in kleinen Gassen war ja Gefahr. Ich hielt mich in den Wohnungen anderer auf, aber auch sie waren nicht sicherer als ich, ja, ihre Unsicherheit mochte durch meine Anwesenheit noch größer sein. Auch sie schraken zusammen, wenn die Türklingel tönte oder das Telephon läutete. War man allein, suchte man Gemeinschaft; war man mit anderen, wollte man allein sein. Man ging zu Menschen, zu denen man früher nie gegangen wäre, zu flüchtigen Bekannten, nur um nicht daheim sein zu müssen. Einmal in der Nacht, als ich von einem solchen Besuch fortging, schlepüte man gerade einen Menschen aus einer Nachbarwohnung ab. Das Treppenlicht spiegelte sich in den polierten Schaftstiefeln der schwarzen Kohorte, die rund um den Mann die Stockwerke hinuntertrampelte. Er sah zu mir herüber, aber ich stand und regte mich nicht.

Ich ging auf Friedhöfe. In ihren Labyrinthen von Grüften und Gräbern mochte man noch am ehesten unbeachtet bleiben. Die Heere von Toten, die schon alles erlitten hatten, wirkten besänftigend. Ich begleitete fremde Menschen auf ihrem letzten Weg, stand mit Trauergästen vor fremden Gräbern, und als gehörte ich mit dazu, warf ich den Toten wohl auch eine Schaufel Sand nach.

Wie kommt man aus der Falle? Zahllose warteten naiv in langen Reihen vor Amtstüren auf Erlaubnisscheine, die sie niemals erhielten. Einige schlugen sich über einsame Grenzhalden, durch Grenzwälder öder auch durch Bergwerke, deren Stollen jenseits der Grenzen mündeten; manche schwammen durch Grenzflüsse, andere schwindelten sich mit gefälschten Papieren durch, etliche wurden erwischt und mit hämischem Triumph wieder eingebracht. Manche blieben auf dem Weg. Manche waren zu erschöpft, die Mühsal auch nur zu versuchen, und endeten freiwillig. Ein grausiger Totentanz wirbelte rundum in grotesken Rhythmen.

Ich wußte schließlich nur noch von einer Stelle, die das Zeitalter nicht erreichen konnte. Es war das Kellerloch meines Svatopluk. Aber eines Tages saß ich doch in einem Zug, und der rollte aus dem Bahnhof, und die Schatten vertrauter’ Häuser fielen endgültig in sich zusammen. Wer wird, wenn ich nicht da bin, das Lied der Häuser und Gassen singen, den späten Sonnenblitz in den Turmknäufen, die Nachdenklichkeit der Karyatiden, wer das leise Summen der alten Brezelweiber im Park, die Schicksale der beiden Ufer und die Hoheit der Brücken? Der Zug arbeitete sich durch die Nacht gegen die Grenze. Ich kannte dieses Grenzland; ich kannte die sanften Berge und die mütterlichen Wälder, die Hänge, die jetzt schwarz dalagen, aber deren Farbigkeit ich wußte und die sich jetzt für ihren Sommer rüsteten wie jedes Jahr. Schlaf lagerte schwer in den Tälern. Wer begreift, wenn ich nicht da bin, das goldene Aufspringen der Morgenknospen, wer den Drosselschrei und das Leuchten der Quarze? Wer wird die wilde Wirtschaft des Windes in den Wipfeln feiern und die end- losen Regengüsse, wer die Verzweigungen des Bärlapps am Waldgrund enträtseln, mit den Wegwarten Zwiesprache halten und den kupferroten Wanderkäfern folgen? Sei ruhig! Irgend jemand wird es tun. Noch viele werden es tun. Wer bist denn du?

Der Zug hielt mit einem Ruck. Es war drei Uhr früh. Die Grenze! Um diese Zeit ist vielleicht auch der hartnäckigste Grenzbeamte schläfrig. Um diese Zeit mag er möglicherweise übersehen, daß etwas nicht stimmt. Darauf hoffte ich. Aber es kann auch sein, daß er besonders übellaunig ist wegen seines Nachtdienstes, besonders scharf auf alles und böse auf jeden, mit dem er zu tun hat.

„Grenzkontrolle! Ausreisegenehmigungen! “

Ich griff in die Tasche und zog Papiere hervor. Der Beamte war ein älterer Mensch. Er blickte auf die Papiere.

„Was? Das soll eine Ausreisegenehmigung sein?”

Jetzt hatte er es bemerkt. Jetzt ging es an den Kragen.

„Ja”, sagte ich mit angenommener Festigkeit, „das ist die Genehmigung, die man mir erteilt hat.”

„Sie sind wohl nicht ganz recht im Kopf”, sagte er. „Ich soll nicht schwätzen und nicht einsagen. Was soll denn das heißen?”

Erschrocken blickte ich auf den Zettel.

„Entschuldigen Sie”, sagte ich dann, „da ist mir ein alter Zettel unter die Papiere geraten. Ein alter Zettel aus der Schulzeit.” Ich suchte in meinen Taschen. „Hier, hier ist der Ausreiseschein.”

Die Augen des Beamten leuchteten auf. „Natürlich”, sagte er, „das ist er”, und er begann zu lachen. „Ich soll nicht schwätzen und einsagen, so was hab’ ich auch einmal abschreiben müssen, fünfzigmal sogar, das gibt’s immer wieder”, und er schüttelte sich vor Lachen, daß ihm die Tränen kamen, während er auf meinen gefälschten Ausreiseschein seinen Stempel setzte. „Ich soll nicht schwätzen und einsagen! Na, so was! Und mitten in der Nacht!” Und er lachte sich in den Waggongang.

Der Zug fuhr an. Die Grenze wich zurück. Die Nacht löste sich von den Gebilden.

Die Sonne stieg auf und tönte nach alter Weise. Ich blickte in das einzige Buch, das ich mitgenommen hatte. „Wer ist es, der den Ratschluß verdunkelt mit Worten ohne Verstand? Wo warst du, da Ich die Erde gründete? Sage an, bist du so klug? Da Mich die Morgensterne priesen und alle Engel jubelten.”

Der Zug stieß vor in beleuchtetes Flachland. Fachwerkhäuser sprangen hoch und vorüber; Wege glitten heran und huschten hinweg ins Unbekannte; Menschen und Fuhrwerke bewegten sich in den Tag. Es lebte ringsum.

„Haben sich dir die Tore des Todes je aufgetan oder sähest du jemals die Tore der Finsternis?”

Bei dieser Frage schloß ich das Buch.

Aus „Die verlorene Geliebte”, Verlag Herder, Freiburg i. B.

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