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Cyrillus Piwodas großer Tag

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Cyrillus Piwoda war in einem der äußersten Bezirke der Haupt- und Residenzstadt Postamtsgehilfe. Als solcher war er unterernährt und schmächtig. Er lebte Tag für Tag im engen Raum seiner Familie, über den er nicht hinaussah und hinausdachte. Nur einmal im Monat geschah etwas Besonderes. Jedesmal am Monatsletzten ging er aus. Das war sozusagen ungeschrieben in den Ehepakten. In Wirklichkeit hing es mit dem Besoldungsgesetz zusammen, demzufolge die Vertragsangestellten zum Unterschied von den Beamten das Gehalt im nachhinein am Letzten des Monats erhielten. Da behob er sein armseliges Monatsgehalt und fuhr dann, mit dem Sonntagsanzug angetan, in die Innere Stadt. Dort mengte er sich zunächst unter die vornehmen Müßiggänger, und wenn es dann später wurde, ging er in ein kleines Gasthaus eines angrenzenden Bezirkes, „Zum lustigen Fuhrmann“! und trank dort ein Glas Abzugbier, das er seiner Frau nicht verschwieg, wenngleich sie diese Ausgabe für überflüssig hielt, besonders wenn man in Betracht zog, daß auch die Fahrt in die Innere Stadt Geld kostete. Vielleicht war sie eine kluge Frau, die wußte, daß die Männer zwar ganz gut ohne Freiheit, aber 'nicht ohne den Wahn der Freiheit leben können.

Der letzte Juni war ein brütend heißer Tag, ein Samstag. Er hatte sein Gehalt behoben und begab sich zeitig in die Innere Stadt. Er war schon müde vom Gehen und Stehen und wollte sich sehen auf den Weg „Zum lustigen Fuhrmann“ machen, als ihm ein Lokal auffiel, dessen Fenster bis zum Fußboden reichten und von dem er nicht recht wußte, war es ein Kaffeehaus oder ein Restaurant. Was mochten die Männer sein, die da drinnen bei eleganten Damen saßen und Kognak oder ähnliches vor sich stehen hatten? Hatten die einen Beruf? Er wußte natürlich, daß es Minister gab und dergleichen. Aber die konnte man offenbar nicht so in der Auslage sehen. Der höchstangestellte berufstätige Mensch, den er im Leben in der Nähe gesehen hatte, war der Postamtsinspizierende. Aber es war schwer, ihn von den anderen Postbeamten zu unterscheiden. Er hatte sorgenvolle Züge und abgetragene Kleider, und wenn er auch ein ansehnliches Gehalt haben mochte, so hatte er auch größere Verpflichtungen. Nein, zu dieser Art höhergestellter Menschen gehören die da drinnen nicht. Das war eine ganz andere Schichte. Und es überkam ihn ein großes Verlangen, in dieses Lokal einzutreten. Allerdings, wer da drinnen saß, war von der Schuhsohle bis zum Scheitel kontrollierbar. Warum machte man solche Fenster? Er sah an seinem Anzug hinab. Er war neu und hatte eine tadellose Bügelfalte. Die Anzüge da drinnen mochten von besserer Qualität sein, aber konnte man das so auf den ersten Blick feststellen? Das Getränk konnte kein Vermögen kosten. Was ihm fehlte, war nur der Mut zum Ungewohnten. Doch was war daran? Es handelte sich nur darum, von der Tür bis zum nächsten Tisch aufrecht zu gehen, natürlich langsam und gemessen, und sich niederzusetzen. Dort würde er sitzen, allein, ohne Gesellschaft. Die Damen würden ihn interessant finden. Ein Einsamer, würden sie denken. (Dieser Gedanke war aus einem billigen Roman, wie er sie gerne las, in seinem Gedächtnis zurückgeblieben.) Er maß noch einmal den Raum von der Tür bis zum nächsten Tischchen. Der Kellner würde glauben, er sei... Da merkte er, wie der Blick eines der schwarzbefrackten Kellner mißbilligend auf ihm ruhte: „Schauen Sie, daß Sie fortkommen!“ Und er ging eilig weg. — Das nächste Mal, in einem Monat, will ich hineingehen, dachte er. Da ist die Sommersaison schon vorgeschritten. Da ist das Lokal leer. Dann habe ich den Mut.

So wanderte er bedrückt und gedemütigt der kleinen Kneipe „Zum lustigen Fuhrmann“ zu. Da kam ihm der Gedanke, daß er auch einmal in ein anderes Restaurant gehen könne. Etwa in das, an dem er gerade vorbeikam. Da saßen Männer drinnen wie er, aber auch andere, offensichtlich aus besseren Kreisen.

Alle Tische waren besetzt mit Ausnahme eines einzigen, größeren, auf dem eine Tafel stand „Reserviert“. Er wollte schon wieder gehen. Da sagte der Kellner: „Sie können hier ruhig Platz nehmen. Die Herren kommen heute nicht“, fügte er hinzu. „Es sind Studenten. Die gehen am Letzten nicht aus.“

Piwoda fühlte sich gehoben. Wie mochte er in den Augen des Kellners dastehen, als ein Mann, für den es keinen Letzten gab. Fast hätte er seine Position untergraben, als er Abzugbier bestellen 'wollte. Der Kellner aber war ihm zuvorgekommen: , Ein Glas Starkbier“, sagte er und ging. Starkbier war dreimal so leuer wie Abzugbier. Das war nicht zu übersehen. Und das andere auch nicht: der Mehrbetrag war nicht hereinzubringen. Die monatlichen Ausgaben waren bis auf den letzten Heller festgelegt.

Starkbier schmeckte herrlich. Schon nach dem ersten Schluck war er etwas benommen. Da gab es Menschen, die sich das jeden -Tag leisten konnten! Es gab viel Ungerechtigkeit auf der Welt. Es gefiel ihm hier. Er nahm sich vor, in kleinen Schlucken zu trinken, damit er länger bleiben könne.

Da sah er, wie draußen vor dem Fenster zwei offenbar über ihn redeten. Dann kamen sie herein. Sie fragten, ob hier nicht eine Karte gewesen sei „Reserviert“. Er kam sich vor wie einer, der bei etwas ertappt worden ist. Er wollte sich erheben. Nein, sagte da der eine, er störe nicht. Er fühlte etwas wie Dankbarkeit oder Rührung. Wer weiß, wofür ihn die Herren Studenten hielten. Schließlich kamen noch andere. Sie sahen alle zuerst durchs Fenster, gaben sich Zeichen und traten ein. Sie steckten die Köpfe zusammen. Dann, wie auf Kommando, stellten sie sich alle vor. Er verstand ihre Namen nicht, so wenig.wie sie den seinen. Dann zogen sie ihn ins Gespräch.

„Ja“, sagte einer der sieben Studenten, „das ist eine böse Sache, daß jeder Monat einen Letzten hat.“ Piwoda lächelte. Der Letzte des Monats konnte ihm nichts anhaben. „Davon wissen Sie offenbar nichts“, fuhr der Wortführer fort, „für Sie ist der Letzte wie der Erste.“ Auch das konnte er, ohne zu lügen, bejahen. Sie stießen untereinander und alle mit ihm an. Einen Augenblick versuchte er, etwas auszurechnen. Es gelang ihm nicht. Es war auch gleich. Heute hatte er eine Uberstundenzulage bekommen, die er verschweigen konnte.

„Darf ich die Herren auf ein Glas einladen“, sagte er. Das klang noch ein wenig schüchtern.

„Ja“, sagte einer, „das dürfen Sie schon, Herr Rat (Rat hatte er gesagt?). Aber können wir das annehmen? “In Ihrem Budget spielt das wohl keine Rolle?“

So kam das Bier, acht schäumende Gläser. Der Kellner bediente zuerst ihn. Alle tranken dem edlen Spender kommentmäßig zu. Es war ein wenig feierlich.

Wie die Burschen tranken! Jeder gleich ein halbes Glas. Als sie absetzten, erhoben sie wieder die Gläser gegen ihn! Er sah sich um, ob der Kellner es bemerkte. Der Kellner hatte es bemerkt und lächelte.

„Darf ich noch einmal bestellen?“ fragte einer. Piwoda erschrak. Aber er beeilte sich, zu bejahen. Daraufhin bestellten alle noch einmal.

Ein kleiner Schwindel kam ihn an. Er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen. Aber jetzt vergaß er darauf. Er dachte auch dann nicht daran, als alle zu essen bestellten.

Dann hörte er, wie einer an das Bierglas klopfte: „Silentium!“ Alle schwiegen.

Der Sprecher erhob sich. Er war dick und gedrungen und hatte einen Baß. Er verneigte sich leicht gegen Piwoda.

„Verehrter Gönner der studierenden Jugend! Sie haben es unterlassen, uns Ihren Namen zu nennen. Sie werden Ihren Grund dafür haben. Es mag ein klingender Name sein in der Gesellschaft. Vielleicht sind Sie Exzellenz, vielleicht vom hohen Adel. Wir respektieren Ihr Inkognito. Vielleicht wollten Sie einen Ausflug machen in das Jugendland Ihrer Erinnerungen und haben uns auserkoren, Sie auf diesem Wege zu begleiten zurück in die Tage, da Sie selbst noch am Busen der Alma mater sogen. Ich glaube, im Namen aller Kommilitonen zu sprechen, wenn ich Sie auffordere, sich von Ihren Sitzen zu erheben und ein Volles auf das Wohl unseres erlauchten Gastes zu trinken. Sodann steigt ihm zu Ehren der Kantus ,Wenn alle untreu werden'.“

Sie stießen an, sie tranken und sangen. Alles zu Piwodas Ehren in dem vollen Lokal.

Jetzt spielte er nicht mehr eine Rolle, er erlebte sie. Er kehrte in seine Jugend zurück, um jung zu sein mit Jungen. Es fiel ihm nicht auf, daß es kein weiter Weg zurück war, da er kaum älter war als der Sprecher von vorhin. Ein Gefühl leiser Wehmut umflorte seinen Blick. Er war noch nie in seinem Leben so aufgewühlt und glücklich gewesen.

Er wurde aus seinen Gedanken aufgerissen. Es wurde ihm der Vorschlag unterbreitet, den so herrlich angebrochenen Abend in einem Weinkeller fortzusetzen. Er sagte etwas, daß er hier bleiben wolle. Sie achteten nicht darauf. Der Kellner legte die Rechnung vor ihn hin. Er konnte die Zahlen nicht mehr lesen. Sie waren ihm behilflich beim Zahlen. Dann halfen sie ihm in den Mantel, den ihm seine Frau trotz des schönen Wetters aus Angst um den schönen Anzug mitgegeben hatte.

Während die Pfropfen knallten, suchte er sich zurückzuerinnern, warum er eben noch so glücklich gewesen war. Es gelang ihm nicht.

Kaum glaubte er. einen Gedanken gefaßt zu haben, als er ihm auch schon wieder entflohen war. Aber er merkte, daß die Studenten sich nicht mehr um ihn so kümmerten wie früher. Er bemühte sich, in einen Satz zu bringen, daß er öfter in ihre Runde kommen werde.

Wieder lag eine Rechnung vor ihm. Der Inhalt seiner Brieftasche reichte nicht aus, sie zu begleichen. Er erfaßte es nicht. Er wollte Wein bestellen. Der Kellner lehnte brüsk ab. Es sei genug für heute. Er hörte es nicht. Er fühlte sich plötzlich sehr unglücklich. Die Tränen rollten ihm über die Wangen. Er fand sein Taschentuch nicht. Dann fühlte er noch, daß er sank, irgendwie seitwärts in die Tiefe sank. Dann war alles aus.

Bis in die Mittagsstunde des nächsten Tages, wo Piwoda mit furchtbaren Kopfschmerzen für einige Augenblicke zum Bewußtsein kam. Seine Frau war ins Schlafzimmer getreten und wollte wissen, wer die Kerle gewesen waren, die ihn gegen Morgen an die Vorzimmertür gelehnt hatten und was sie ihm zu trinken gegeben hätten. Er versuchte nachzudenken. Nein, er wußte es wirklich nicht. Und das Gehalt habe er auch nicht geholt, sie habe'schon alle seine Taschen durchsucht. Morgen in aller Früh müsse er das- Geld holen. Sie brauche es notwendig. Und die Stimme versank wieder wie eine Gestalt im Nebel.

Später, als er schon lange Postamtsobergehilfe war und einen Postamtsgehilfen unter sich hatte, erzählte er manchmal beim Stammtisch, den er allwöchentlich in seiner Vorstadt aufsuchte, die Geschichte — nicht immer ganz gleich —, wie er einem Dutzend Doktoren, die sich weiß Gott wie klug dünkten, einen Exzellenzher-rn vorgespielt hatte, so täuschend, daß sie alle nur so den Mund offen gehabt hätten.

„Ja“, sagte dann der Bäcker, „du hättest halt eben ein Schauspieler werden sollen, Piwoda. Schade um so viel Talent.“ Und alle nickten ein wenig.

Und im Laufe der langen Jahre glaubte es schließlich Cyrillus Piwoda selber.

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