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Digital In Arbeit

Tag der Incorporation

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Der ältere Mann schob seinen Stuhl etwas von der Maschine zurück, nahm seine eingepackten Brote aus einem Fach und fing ganz ruhig an, mit dem jüngeren Arbeiter neben ihm zu sprechen.

So, wiederholen wir also. Du hast diese Leute gestern abend einfach aufgesucht. Und du bist ganz sicher, daß sie wirklich nicht wußten, was es für ein Tag war?“

Der junge Setzer dachte eine Minute lang nach. „Ganz sicher. Kennst du die Familiengeschichte? Der Vater ist vor einigen Jahren wegen angeblicher Sabotage in seiner Fabrik deportiert worden. Es hat damals lange gedauert, bis sich der Verdacht lüftete, der dann auf der übrigen Familie lag. Soviel ich aber erfahren habe, werden Sohn und Toditer jetzt als zuverlässig angesehen. Was in der Mutter vorgeht, weiß ich nicht. Sie haben ein paar — meist technische — Bücher in der Wohnung; alles .unbedenkliche' Werke, soweit ich sehen konnte. Es kommt mir deshalb höchst unwahrscheinlich vor, daß sie auch nur eine Ahnung vom Glauben haben. Wie könnten sie auch davon gehört haben?“

Der Ältere zog die Haut von einer dünnen Scheibe Wurst ab. „Soviel ich weiß, haben sie doch auch nie mit einem Mitglied unserer Gemeinschaft zu tun gehabt?"

Nein, bestimmt nicht. Und in dieser kleinen Siedlung trifft man nicht das geringste äußere Zeichen des Glaubens an. Wie sollten Leute in ihrer Lage also irgendwie damit in Berührung kommen? Dreihundert Jahre sind eine zu große Zeitspanne.“

„Sprich nicht so laut, mein Sohn“, sagte der andere. „Nein, ich glaube wirklich, daß du recht hast. Und da sie auch nichts vom alten Kalender wissen ..Hier verlor sich seine Stimme und wurde zu einem dem jungen Mann neben ihm fast unhörbaren Gemurmel, als die Druckmaschinen der Parteizeitung am anderen Ende der riesigen Werkhalle wieder angestellt wurden.

Die Mutter legte die halbtrockene Wäsche auf den Tisdi und ließ sich in einen Stuhl fallen. „In zehn Tagen ist Incorporation Day. Ich habe mir gerade überlegt, was wir nach den Aufmärschen tun können. Wie wär’s, wenn du und Willi die Kinder brächten, dann könnten wirjhier zu Abend essen.“

Die Tochter sah gelangweilt drein. „Ja, das könnten wir wohl. Und Tom soll auch seine Familie bringen? Dann wären wir doch zu viele.“

„Die Arbeit würde mir nichts ausmachen ..."

„Das wäre es nicht, was ich gemeint habe. Aber wir wären fünf Erwachsene, und dann die Kinder — wir müßten erst die Erlaubnis beantragen.“

„Selbstverständlich", sagte ihre Mutter schnell. „Es wäre mir sticht im Traum eingefallen, es anders vorzuschlagen — aber vielleicht könnte es Tom fertigbringen. Schließlich ist er gerade befördert worden und hat doch all seine Parteiverhöre ohne große Schwierigkeit bestanden."

Man möchte es den Kindern so schön wie mög.ich machen, dachte sie. Außerdem brauchen wir, wenn die da sind, nicht miteinander zu sprechen oder darüber zu grübeln, was wohl die anderen denken. Es ist viel besser, wenn man's läßt, man weiß doch nie, wozu das Reden führt.

Was macht die Mutter nur mit den kleinen Zweigen, dachte die Tochter und ging zu ihr herüber, unv ihr über die Schulter zu sehen.

„Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich da tue. Ich wollte nur eine Art Schmuck machen. Diese Zweige könnten, in einen Kreis geflochten, ganz hübsch aussehen. Vielleicht mit einem Silberband, um sie zusammenzuhalten. Wir könnten den Ring als Mittelstück auf den Tisch legen — oder ihn unter die Lampe hängen.

Der abwesende Blick der Tochter wurde wachsamer. „Unter die Lampe ..." Ihre Stimme verlor sich.

Der Schnee lag schwer auf den Tannen jensejts des schmalen Streifens gefrorenen Wassers. Wie Arme von Eisbären, dachte die Tochter, die Bäume sahen so nah aus. Wie die zwei Frauen hinausschauten, erhob sich ein warmer Wind von Südwesten, wuchs schnell zu größerer Stärke an, und innerhalb weniger Minuten hatte der Schnee über dem Eis zu schmelzen begonnen. Zuerst zeigten sich dunkle Streifen auf dem Weiß, dann wurde es eine zinnfarbene Oberfläche. Ein Stöhnen und Ächzen breitete sich im Wald aus, und hie und da wurden die Zweige einer freier stehenden Tanne gegen den Stamm gedrückt, entledigten sich in stäubender Verwirrung ihrer Last und sprangen wieder empor mit der Schnellkraft neugewonnener Freiheit.

Thomas Martin entfernte sorgfältig eine Fischschuppe von seinem hochgeschlossenen Rock und lehnte sidi in seinen Stuhl am Kopf des Tisches zurück. Die anderen blickten in seiner Richtung und verspürten plötzlich ein schwer definierbares Gefühl von Unbehagen.

„Eigentlich ist mir eine ganze Menge nicht klar“, sagte er endlich. „Dieses Essen zum Beispiel — nein, es ist köstlich —, es ist nicht'die Güte, die mir einen solchen Eindruck macht. Aber, Mutter, sag einmal, was für einen Grund hattest du, uns Karpfen zu geben?"

„Grund?" wiederholte diese mit einer gewissen Schärfe. „Grund hatte ich, glaube ich, keinen. Das heißt — nein. Tatsächlich habe ich den Fisch einem alten Mann abgekauft, der ihn im See fing", schloß sie mit einem recht ärgerlichen Blick auf ihre Tochter.

mit einem recht ärgerlichen Blick auf ihre Tochter.

„Aber in dem See gibt es doch keinen einzigen Karpfen“ — und Tom schoß in seinem Stuhl hoch, als er das sagte. „Es hat hier seit Generationen keine gegeben. Nur Hechte, ein paar Schleie und so weiter."

„Das kann ich nicht ändern", sagte die Mutter. „Der alte Mann sagte, daß er ihn von dort hatte.“

„Es ist ja egal. Es ist ja egal", unterbrach er sie. „Aber dieser Baum — was hat dich eigentlich veranlaßt; einen Zweig hereinzubringen? Und ihn so zu schmük- kä?"

„Er ist ja nur klein."

Plötzlich lächelte er, und als er wieder anhub zu sprechen, hatte seine Stimme ihren ungeduldigen Oberton verloren, war ruhiger geworden; und mit dem offensichtlichen Wechsel in seiner Stimmung ließ die Spannung um den Tisch nach. „Ich wollte nichts sagen, bis die Kinder im Bett waren. Aber jetzt: es hat eine Weile gedauert, bis ich gemerkt habe, daß etwas vorgeht. Dann fiel mir an euch allen dreien etwas auf — besonders an dir, Mutter, und Millie, Ihr wart eigentlich fast immer wie sonst, aber hin und wieder erschient ihr geistesabwesend, und ihr wart mit Dingen beschäftigt, die ich euch noch nie hatte tun sehen. Ich konnte es nicht verstehen. Du hast manchmal so ausgesehen", wandte er sich an seine Frau, „als ob du lauschtest, vielleicht einer Musik in deinem Innern zuhörtest."

Millie sah ihren Mann erstaunt an, so als ob sie ihm solche Einsicht kaum zugetraut hätte, lächelte aber ein wenig, saß ganz still und versuchte, sich zu erinnern.

„Du siehst mich an, Tom“, sagte die Mutter. „Nun — hier nahm sie einen halbfertigen Strumpf vom Arbeitstischchen neben ihr, strickte ein paar Maschen, während sie versuchte, sich zu sammeln, gab es auf und legte den Strumpf mit einer ungeduldigen Geste wieder hin. „Ich glaube, du gibst zu, daß ich im großen und ganzen eine vernünftige Person bin, die sich nicht viel mit Phantasterei oder Grübeln abgibt. Aber in der letzten Zeit habe ich mich dabei ertappt, wie ich zwischen meiner üblichen Arbeit Dinge getan habe, die ich mir nicht erklären konnte. Meist waren es kleine Dinge, aber sie geschahen immer unter einem inneren Zwang; und ich weiß nur, daß sich meine Gedanken und Handlungen zu einer Art Muster zu fügen begannen. Als die Zeit näherrückte, merkte ich, daß es alles etwas mit heute abend zu tun hatte.“

Tom blickte sie alle der Reihe nach gedankenvoll an. „Das heißt also, daß etwas —“ er schien eine Wendung, zu wählen, eine andere zu verwerfen, „sich unser bemächtigt hat. Ich weiß noch nicht, was in euch allen am Werk ist, aber daß irgendein Element in uns allen lebendig ist, ist nur allzu klar.“

Sein Schwager unterbrach ihn. „Tom, verzeihe mir — wir können dir doch vertrauen? Du bist nicht darauf aus, uns zu verderben?" Die Gestalt in dem Rock sank ein wenig in sich zusammen, aber die Stimme blieb unverändert. „Verderben? Nein.“

„Ich habe einen Traum gehabt“, begann der andere mit seiner langsamen, schwerfälligen Stimme. „Ich hatte mehrmals denselben Traum. Ich sah einen Stern, heller als alle anderen, der über den Himmel zog. Und ich hörte eine Stimme..." Er zögerte, blickte sich um, fuhr aber, als er in den Augen seiner Zuhörer keinen Spott gewahrte, fort: „Ich hörte eine Stimme, die sprach: .Fürchtet euch nicht...' Danach ist es mir jedesmal erschienen, als ob die Stimme in einer anderen Sprache fortfährt, die ich nicht verstehen kann. Vielleicht soll ich es nicht."

„Ich habe keine Träume gehabt", sagte Millie gedankenvoll. „Aber ich habe eineLeichtigkeit verspürt, ein Gefühl, das ich nur schwer beschreiben kann — eine Heiterkeit, die ich bis jetzt nur in den Gesichtern einiger ganz weniger Menschen gesehen und niemals verstanden habe.“

Thomas Martin atmete auf, und es war, als ob die Angst ihn verließe. .Als ich heute nach der Parade heimwärts ging“, sagte er, „überquerte ich den Fußballplatz. Am Waldesrand erschien es mir plötzlich, als ob die ganze Natur regungslos würde. Jedes Geräusch verstummte, und konkrete Gegenstände wurden merkwürdig durchsichtig. Da bemerkte ich einen Mann. Er fiel mir sofort auf, weil er einen Bart trug; und doch war er ganz jung und aufrecht, nur stützte er sich leicht auf einen Stab. Bei ihm war eine Frau, müde und gebeugt.“

„Konntest du ihr Gesicht sehen?" fragte Millie.

„Nein. Ich hatte Angst, und mir war so, als ob ich nicht hinschauen sollte — noch nicht." Er hielt inne und starrte auf den Tisch. „Sie war schwanger.“

„Das kommt mir alles ungereimt vor", sagte die Mutter. „Vielleicht werden wir nie wissen, was in uns am Werk ist. Ich habe von Stammeserinnerungen gehört und vom kollektiven Unbewußten. Wahrscheinlich ist das ungefähr dasselbe. Aber heute abend brachte ich die Kinder ins Bett und will euch sagen, was euer Jüngster sagte. Er hat wohl schon fast geschlafen — sie waren ja sehr müde —, aber plötzlich tat er seine Augen auf und sagte ganz deutlich: ,Heute nacht kommt das Kind.'“

Sie hörten Schritte im Flur, und es klopfte an der Tür. Die Familie um den Tisch wurde von Angst ergriffen, aber bevor auch nur einer sprechen konnte, tat sich die Tür auf, eine Gestalt trat ein und schloß sie schnell hinter sich. Der junge Setzer blickte sich im Zimmer um, lächelte und hatte sanfte Augen.

„Der Friede sei mit euch“, sagte er.

„Auf Sie haben wir also gewartet", sagte die Mutter fast unhörbar. „Vielleicht werden wir jetzt erfahren — setzen Sie sich hier, dicht bei uns allen, hin und sagen Sie, was von uns Besitz ergriffen hat. Wir haben alle Dinge gehört, irrationale Gedanken gehabt, Träume geträumt, Gesichte gehabt. Wozu wird uns das alles führen?“

Das Lächeln hatte den jungen Mann verlassen, als die Mutter anfing zu sprechen. „Wer weiß“, antwortete er. „Vielleicht zum Martyrium."

„Aber wir können doch nicht sterben“, rief Thomas Martin aus. „Wie können wir für eine unbekannte Sache sterben, für eine Vision auf dem Fußballplatz, eine Stimme, die in einer fremden Zunge spricht? Sagt uns zum mindesten, was es alles bedeutet, womit es angefangen hat. Denn wenn wir einmal den Anfang kennen, werden wir das Ende sehen.“

Der Jüngling brachte seine Pfeife aus der Tasche hervor, stopfte sie und zündete sie sorgfältig an. Und dann begann er zu sprechen. y

Die Bäume des Waldes hatten ihren Glanz verloren, fast unmerklich wurde es licht. Die Mutter erhob sich und löschte die letzte der vier Kerzen auf dem Kranz. „Sie sagten ,das Wort ward Fleisch". Das ist das Wort, das jetzt seit Jahrhunderten unter Paraden und Aufzügen in der ganzen Welt begraben war, unter Schulen, Hochschulen und Arbeitslagern. Nach der Unterdrückung kam das Fast-Vergessen. Und doch ist das Wort noch bei uns, und seine Stunde wird kommen. Heute ist Weihnacht: der Tag der Inkarnation.“

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