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Der Aufsatz wurde nicht geschrieben

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Wahrscheinlich wird der Klassenvorstand eine Schularbeit über die Ferien machen lassen. Wenn nicht, werden wir etwas erzählen müssen. Und dabei komme ich immer daran. Erst der Gams-jäger, weil er in Cattolica war. Dann der Reiter, weil er der Liebling ist. Vielleicht kommt noch einer vor mir. Dann aber wird er sagen: „Und nun kommen wir zu unserem Kurt, der sicher auch schöne Ferien erlebte.“ Genau so wird er sagen. „Zu unserem Kurt“, wird er sagen, anders als zu den andern. Weil man zu Kriegswaisen vielleicht besonders nett ein muß, mit Vornamen und so.

Deshalb habe ich das Aufsatzheft vom vorigen Jahr herausgesucht. Ich beredte mich auf meine Ferienerzählung vor. Ich mache die Augen fest zu, bis ich mir das Gesicht vom Herrn Katecheten vorstellen kann (der nur ein halbes Jahr da war und mich wie die anderen immer nur „Wallner“ gerufen und am Pfingstmontag mit seinen beiden Neffen auf einen Ausflug mitgenommen hat). Oder ich stelle mir die Frau vor mit dem kleinen, weißen Hut, die manchmal mit Onkel Herbert im Auto sitzt und gar nichts sagt, wenn er mit mir redet, sondern einen nur anschaut. Was aber gar nichts macht, sondern schön ist. Denn immer, wenn der Onkel weiterfährt, lacht sie zu mir hin, ganz wenig und nur mit den Augen. So kommt es mir jedenfalls vor.

Ihr oder dem Herrn Katecheten würde ich es so sagen: Es hat schon mit dem Zeugnis angefangen. Ich hatte doch keines, aber ich bin zusammen mit den andern nach Hause gegangen. Dem Reiter seine Mutter war auf dem Balkon und lief ihm auf die Stiege entgegen und rief ganz laut hinunter: „Fritzl, na, wie ist es ausgegangen? Latein? Geschichte? Komm schnell, ich bin schon ganz durcheinander den Vormittag ...“ Die Mama hatte inzwischen aufgesperrt. Eine alte Frau stand neben ihr im Gang und die erzählte etwas von Gelegenheitskäufen. Und die Mama hatte ihre Lockenwickel noch alle am Kopf, was andere Mütter nie haben, weil man sowas bei Dauerwellen nicht mehr braucht, sagt dem Reiter seine Schwester, und weil die anderen Mütter auch früher aufstehen müssen und auf den Markt oder ins Geschäft, wo man gekämmt sein muß. Als die alte Frau weg war, ging die Mama gleich mit und schrie nur in die Küche herein, sie müsse ums Fleisch, es sei gleich 12 Uhr. Um 13 Uhr war sie noch nicht da, aber die Frau Reiter läutete und sagte, die Mama ließe bestellen, sie wäre zur' Großmutter hinausgefahren wegen der Ribisel und ich sollte 'einfach den Rest von gestern aufwärmen. Da bin ich dann mit dem Rad ins Jugendbad gefahren.

Am nächsten Morgen hat die Mama immer noch nicht nach dem Zeugnis gefragt, das ich nicht hatte. Abends auch nicht, denn da war sie im Kino, in das ich erst mitdurfte, aber dann war Jugendverbot und sie ging allein und gab mir einen Schilling fürs Eis.

Erst am Montag fragte sie. Mitten beim Einkochen fiel es ihr ein. Da machte es mir aber längst nichts mehr. Ich sagte, ich hätte kein Zeugnis. Nur als Anfang. Aber weil es so heiß war beim Herd, was sie nicht vertragen kann, schrie sie gleich, ganz laut, obwohl das Fenster offen war zum Hof, daß ich ein Kreuz sei und eine Schande, denn in der Zweiten bleibe niemand sitzen außer mir. Und dann weinte sie und redete wieder vom Papa, der ein so guter Schüler war und der sich in Grund und Boden schämen müßte mit einem solchen Sohn. Sie redete immer weiter, die alten Sachen. Ich konnte gar nichts erklären. Sie schickte mich nämlich gleich mit dem Rad zur Großmutter, damit die mir eine Strafpredigt halten sollte.

Die Großmutter pflückte die letzten Ribisel draußen im Garten. Sie sagte gleich: „Greif in meine Schürzentasche, Kurti, da sind zehn Schilling für das Zeugnis.“ Und dann zwinkerte sie und meinte, so schlecht würde es wohl nicht geworden sein. Und ihr sagte ich dann, daß ich keines hätte, weil der Klassenvorstand erst die 40 Schilling wollte für den Gamsjäger seine Radlampe, die kaputt war durch meine Schuld. Absicht war's natürlich nicht, meine Lenkstange ist nur draufgefallen. Natürlich hatte ich keine 40 Schilling. Natürlich war die Großmutter ein wenig böse. Aber sie gab mir dann das Geld aus der Küchenlade und nachher einen Kuß und sagte, ich dürfe nichts davon sagen, weil der Onkel Herbert böse würde, weil sie mir immer Geld gäbe für die Konditorei.

Das Geld brachte ich gleich dem Gamsjäger, und der Hausmeister in der Schule hatte auch mein Zeugnis. Die Mama aber fragte nicht mehr darnach, sie hatte ganz darauf vergessen. Mir machte es an sich nichts, weil ich sechs Dreier hatte und nicht nur drei, wie ich hoffte.

In der Woche darauf sind dann der Reiter und die anderen Freunde in die Ferien gefahren. Der Gamsjäger als Letzter. Vorher traf ich ihn beim Sportgeschäft, wo er sich gerade Schwimmflossen gekauft hatte. Er erzählte eine Menge von Haifischen und Korallen und was es alles zu essen geben würde in Cattolica, und dann fragte er, wohin ich eigentlich fahre. Da habe ich ihn dann angelogen und gesagt, ich fahre mit den Pfadfindern nach NiederösterTeich — dort war niemand aus unserer Klasse —, Schlösser anschauen, Zelten. Und dann erzählte ich weiter, daß ich ein eigenes Zelt hätte, orange, und eine Luftmatratze, blau, alles neu. Er fragte, wieviel sowas koste und woher meine Mutter das Geld habe. Daraufhin sagte ich, das zahle alles der Onkel Herbert, denn den kannte er, das heißt sein Auto, das ich ihm jedesmal zeige, wenn wir es in der Stadt irgendwo parken sehen.

Im Jugendbad habe ich mich dann an ein paar Buben herangemacht, die bei den Pfadfindern sind, und habe mir alles genau erzählen lassen, was sie so machen. Leider hat einer geglaubt, ich wollte beitreten. Ich habe daraufhin einfach gesagt: Nein, das ist nichts für mich, die sind mir zu katholisch und die andern sind fad. (Es ist nicht wahr, aber mir ist sonst nichts eingefallen und der Reiter hat es einmal so gesagt.) Als die Mama einmal ganz gut aufgelegt war, weil eine Freundin sie nach Berchtesgaden eingeladen hatte, fragte ich sie, ob ich nicht auch bei den Pfadfindern eintreten könnte. Aber obwohl sie gut aufgelegt war, hat sie sofort wieder mit ihrem Weinen angefangen und von Rente und Kriegerwitwe und Faxen und davon, daß ich ein Kavalier werden solle, der ihr den Mann ersetze.

In den folgenden Tagen habe ich am Bahnhof mir die Züge herausgesucht nach Heiden-reichstein — das habe ich nämlich gewählt — und nach dem Fahrpreis gefragt. Und am nächsten Schalter nach den Schiffen in die Wachau. Ich war dann bei ein paar Zügen, nachschauen, ob Kinder drinnen sind oder Pfadfinder. Einmal war ich auch auf dem Campingplatz und einer hat mich helfen lassen beim Zeltaufstellen. Man kann es gleich, auch allein. Leider war in der Nähe nirgends ein Pfadfinderlager auszukundschaften.

Dann ist der scheußliche Tag aber bald gekommen. Ich mußte der Großmutter ein Paket hinausfahren und zufällig war der Onkel Herbert da. Und er hatte Zeit. Wenn er aber Zeit hat, ladet er mich immer auf ein Coca-Cola ein oder was ich sonst will. Dabei erzählte er, daß er nun auf Urlaub fahre. Ich fragte ihn, ob die Dame mit dem komischen weißen Hut dabei wäre. Er wurde dabei aber böse und sagte, das ginge mich nichts an. Es wäre viel gescheiter, ich würde eine anständige Verbeugung machen, wenn ich die Dame irgendwo sähe. Ich wollte schon sagen, daß die Dame bestimmt nicht wolle, daß ich eine Verbeugung mache, aber dann hätte ich es ihm erklären müssen, und das ging ja nicht.

Er selbst war schuld, weil er fragte. Er fragte: „Was machst du so in deinen Ferien, Kurti! Warum fahrst du denn nicht irgendwohin in ein Jugendlager, mit den Pfadfindern oder so.“ Da erzählte ich es ihm einfach. Ich würde Mittwoch fahren — da war er schon weg — nach Heiden-reichstein. Mit Zelten, Schlafsäcken, Luftmatratzen, Schlösser anschauen. Er fragte gar nichts weiter, sondern war ganz freundlich und nett und erzählte von seinen Lagerferien, als er noch in die Schule ging. Und zum Schluß gab er mir hundert Schilling und sagte: „Die sind ganz allein für dich, Kurti, vielleicht brauchst du etwas für dein Ferienlager. Ich habe leider keine Zeit mehr zum Einkaufen mit dir.“

Mit den hundert Schilling wollte ich zuerst etwas ganz Großartiges machen, für das ich ein paar Tage nachdenken mußte. Aber dann kaufte ich mir eine Karte von Niederösterreich und ein Buch antiquarisch, auf dem „Kunstführer“ stand. Ich habe mir so viele Sachen gemerkt, daß man eine Stunde leicht erzählen kann, mit allen anderen Erlebnissen zusammengerechnet: Fischen und in der Nacht aufbleiben, Lagerfeuer und Geländespiel und alles mögliche.

Der übrige Sommer war sehr langweilig. Außer dem Jugendbad war nichts und dafür hat es meist zuviel geregnet. Ich habe einmal ein Autounglück gesehen mit einem Toten. Am Papa seinem Namenstag mußte ich mit der Großmutter in die Messe und bekam fünf Schilling. Die Mama hat mir einen Pullover gestrickt, der schon zu Weihnachten fertig sein sollte. Jetzt ist er natürlich viel zu heiß, aber sie wollte, daß ich ihn anziehen sollte. Eigent' lieh war es mir aber egal, weil die anderen Buben sowieso noch nicht wieder in der Stadt waren.

Eines Tages war dann der Reiter da. Ihm erzählte ich natürlich nichts von Niederösterreich. Aber eines Tages passierte es doch. Der Onkel war zurückgekommen und mußte wohl die Großmutter gefragt haben, ob ich schon wieder da wäre. Jedenfalls saß er dann zu Mittag in der Küche. Ich wußte gleich, warum er auf mich gewartet hatte. Aber er war anders als sonst. Er fragte nämlich gar nichts. Er sagte nur, ich wüßte wohl, daß ich eine Tracht Prügel verdient hätte. Aber er hätte keine Lust dazu. Buben, die lügen, sind für mich das Schlimmste, das es gibt, sagte er nur. Die Mama war dabei und weinte natürlich gleich und redete wieder vom Papa, aber sie fragte auch nach nichts. Einen Augenblick lang wollte ich den Onkel bitten, ihn begleiten zu dürfen. Ich wollte ihm alles erklären, er aber redete wieder vom Internat und von der einzigen Hoffnung für mich, und die Mama sagte wieder, das wäre zu teuer, die alte Geschichte. Den Kunstführer von Niederösterreich habe ich auf den Abfallhaufen am Gemüsemarkt geworfen, weil es gerade ein Donnerstag war. Selbstverständlich habe ich nicht geheult.

Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, wann ich das letztemal geheult habe. Das heißt, ja, ich erinnere mich an einmal. Ich glaube, es war in der dritten Volksschule. Ich hatte gerade das alte Rad vom Onkel Herbert bekommen und wollte mit dem Reiter weg. Dem seine Mutter war auf dem Balkon gestanden und einen Stock tiefer meine. Und dem Reiter seine Mutter rief: „Daß du aber nicht spät nach Hause kommst, Fritzl. Punkt 19 Uhr ist Abendessen und damit basta. Du kennst den Va'ter!“ Wahrscheinlich weil über ihr die Frau Reiter stand, rief meine Mutter zum erstenmal (und dann später nie mehr übrigens) auch: „Daß du mir pünktlich zum Abendessen daheim bist, Kurti, Punkt 19 Uhr, daß du es weißt I“ Und weil die Frau Reiter winkte, winkte die Mama auch und wir winkten zurück. Geweint habe ich aber erst abends im Bett. Aber nicht, weil um 19 Uhr, als wir zurückkamen, ein Zettel an der Tür war: Bin ich Kaffeehaus, mache dir ein Brot zurecht, sondern weil mir etwas eingefallen war. Was gar nicht mit der Mama zusammenhing. Mit der Großmutter hängt es zusammen. Ich war irgendeinmal am Nachmittag hinausgefahren, sie war am Gartentor gestanden mit einer Nachbarin und die hatte sie etwas über mich gefragt. Ich hatte nur verstanden, daß

die Großmutter sagte: ..... Ja, ja, er schaut ihm ähnlich“ (dem Papa natürlich), und dann: „Er hatte einen Spitznamen als Bub, .Rollwagerl' riefen wir ihn, weil er nicht daherkam oder lief, sondern irgendwie rollte.“ Und dann verstand ich noch einen Satz: „Jahrelang wollte er nicht einschlafen als Bub. Ich mußte ihm immer den Rücken streicheln, oft eine Viertelstunde oder noch länger kam's mir vor. Und genau so fand ich ihn dann in der Früh, lang ausgestreckt, auf dem Bauch liegend, das Pyjamajäckchen hochgeschoben ...“ Natürlich war das auch kein Grund zum Losheulen. Sicher war der Papa damals auch noch eher ein kleines Kind. Sonst erinnere ich mich nur, daß ich sehr lange geheult und beschlossen habe, an keiner Hima-lajaexpedition teilzunehmen, später. Ich werde überhaupt keine Pläne machen. Höchstens wenn die andern von ihren reden, dann werde ich mir etwas einfallen lassen, damit die nicht glauben ...

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