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Das Mädchen Paloma

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Wer dem Leid den Rücken kehren möchte, soll diese Geschichte nicht lesen. Und doch muß sie erzählt werden. Begonnen hat alles damit, daß der über sechzig jährige Gaston B. bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Seine um mehr als zwanzig Jahre jüngere Frau Paulette blieb allein zurück. Kinder hatten sie keine gehabt. Sie war das Kind im Haus gewesen, behütet, verwöhnt und in der sachlichen und korrekten Art ihres Mannes auch geliebt. Sie war keine triumphierende Schönheit. In ihrem Gesicht fielen nur die sanften Augen auf, die Gestalt der Vierzigjährigen war aber die eines jungen Mädchens und ihre hohen, vollen Brüste waren geradezu vollendet schön. Ob ihr Mann das bemerkt hat, läßt sich schwer sagen. Jedenfalls hat er es ihr nie zum Bewußtsein gebracht.

Wie die meisten Fremden in Rom hatten die B.s dort unzählige Bekannte, aber nur wenige Freunde. Paulette hatte eine einzige Freundin und das war Franca R. Zur Hälfte Venezianerin, zur Hälfte Engländerin, aufgewachsen zwischen vier Brüdern, loyal, klug, ohne Alter und als Frau weder sehr interessant noch sehr interessiert, war Franca die geborene Freundin für die durch und durch weibliche Paulette. Und da sie obendrein ihre einzige Vertraute war, wurde sie zu ihrem zweiten Ich. „Du bist nicht nur mein Tagebuch“, sagte ihr Paulette einmal, „du bist mein Computer. Ich füttere in dich hinein, was ich erlebe, und du sagst mir, was mit mir los ist.“ Als Paulette sich entschlossen hatte, auch nach dem Tode ihres Mannes in Rom zu bleiben, meinten viele, sie könne sich von Franca nicht trennen. Andere sagten, sie fürchte sich vor den Scherereien einer Übersiedlung/ Wahrscheinlich hatten beide Parteien recht.

*

Eine Zeit nachdem der Vaiä&aifig über die Tragödie Paulettes gefallen war, bat Franca mich um eine Aussprache. Sie zog es vor, zu mir zu kommen, und bat mich, mit einem langen Abend und einem größeren Konsum von Whisky und Zigaretten zu rechnen. Ich muß gestehen, daß sie mich neugierig machte. Ich hab die britische Dogentochter gern und ich ahnte, daß sie von Paulette sprechen werde, für die ich viel Zärtlichkeit gehabt habe. Schon bei der Begrüßung sah ich, daß Franca ungemein bewegt war. „Ich hab mich nicht leicht entschlossen, zu kommen. Aber ich hab es nicht mehr ausgehalten. Ich will beichten. Muß ich niederknien? Obwohl, wissen Sie, wenn einer etwas Ernstes zu berichten hat, geht es vielleicht leichter in einem tiefen Fauteuil mit einem Glas Whisky in der Hand. Es handelt sich natürlich um Paulette. Sie wissen, was alle wissen, oder besser, Sie glauben, was alle glauben: daß dieser unglückselige Cor-rado die Paulette in Stich gelassen und sie den Lebensmut verloren hat usw. Lauter Unsinn! Mein Lieber, lauter Unsinn! Wenn jemand schuldig ist an ihrem Tod, so bin es ich. Sie hat mir nichts gesagt. Ich habe nichts gewußt. Aber ich habe alles geahnt und ich habe geschwiegen. Denn ich habe sie verstanden. Ja, ich habe sie beneidet, ich habe sie so lange beneidet, bis wir beide geheult und um Erlösung gebetet haben, sie von ihren Schmerzen und ich von meiner Schuld.

Ich will Ihnen jetzt alles erzählen. Von allem Anfang an und ich muß alles aussprechen, denn wenn ich nicht alles sage, so verstehen Sie gar nichts. Und in der Beichte muß man doch alles sagen, nicht wahr? Also hören Sie zu. Sie erinnern sich, daß Paulette im Trauerjahr sehr zurückgezogen gelebt hat. Niemand konnte ahnen, daß der Tod ihres Mannes für sie eine Befreiung war. Ja, sie hat um ihn getrauert, denn sie hat ihn respektiert, und sie war ihm dankbar dafür, daß er sie respektiert und auf Händen getragen hat. Und doch war sein Tod für sie eine Befreiung. Mit einemmal lag das Leben offen vor ihr. Das Leben mit allen seinen Möglichkeiten, mit seinen hellen Straßen und seinen dunklen Winkeln. Und dieses Leben zog

sie an. Sie wollte es leben und bangte davor, daß es sich ihr entziehen könnte. Einmal sagte sie mir: ,Das Leben liegt vor mir. Aber es liegt so weit vor mir, daß ich nicht weiß, ob ich es erreichen kann.'

*

Eines Morgens fand ich sie zu ungewöhnlich später Stunde noch bei der Toilette. Sie war strahlend und wurde ganz rot, als ich sie ansah. Sie wissen ja, wie lieb sie erröten konnte. Dann sagte sie: ,Du, heut nacht hab ich etwas Närrisches gemacht. Du weißt, ich war bei den C.s zum Diner, und wie ich dann heimgekommen bin, hab ich lang in den Spiegel geschaut: Augen, Mund, Nase, alles ganz genau. Dann bin ich aufgestanden und hab die Kleider fallen lassen.' Ich fragte nur: ,Wer ist es?' ,Corrado. Wenn er mich anschaut, fühl ich mich schön. In seinem Blick liegt so viel Freude. Er nennt mich Mädchen Paloma und sagt dazu: Mädchen wegen Ihrer Gestalt und Paloma wegen Ihrer sanften Augen.'

Daß die beiden unzertrennlich waren, wissen Sie. Sie können aber nicht ahnen, wie glücklich sie war. Da war nun endlich das Leben. Und ein Leben, in dem sie das Prinzeßchen war. Je inniger sie seine Liebe fühlte, desto schöner wurde sie. Und je schöner sie wurde, desto inniger liebte er sie. .Weißt du', sagte sie mir, ,er ist vernarrt in alles Schöne und das Schönste ist für ihn die Frau, und er findet, daß mein Körper ...' Und da wurde sie wieder über und über rot und lachte über sich selbst und lachte, weil sie glücklich war.

Sie können sich denken, wie verwundert ich war, als ich schon bald an ihr eine gewisse Unruhe bemerkte. Sie lachte so oft wie früher, aber ihr Lachen klang nicht echt. Und in ihren Blicken flackerte etwas wie Angst. Ich tat lange so, als ob ich nichts merken Würde. Aber schließlich fragte ich doch: ,Was ist los?' — .Nichts.' Und dieses Nichts klang so entschieden und gleichzeitig so beklommen, daß es mich wie ein Schlag traf. Und die Zeit verging und sie wurde immer unruhiger. Sie klammerte sich an ihren Corrado und wollte ihn jeden Tag so ganz und gar in sich hineinziehen, als ob es kein Morgen gäbe. Einmal sagte ich ihr: .Morgen ist auch noch ein Tag.' — .Wer weiß.' Und wieder verging die Zeit. Immer greller wurde die Glut und immer dunkler wurden die Schatten in Paulette. Eines Tages sagte sie: ,Es gäbe nichts Schöneres, als auf der Höhe des Lebens hinweggerafft zu werden.' Sie sagte das mit einer dunklen Stimme, die ich nie zuvor an ihr gehört hatte. Da platzte ich heraus: .Paulette, du bist krank. Du mußt zu einem Arzt gehen.' — ,Um nichts in der Welt.' Und sie griff sich an die rechte Brust und schrie mich an: ,Weißt du, daß Corrado jubelt, wenn er mir die Kleider vom Leib reißt.' Von diesem Augenblick an hab' ich es geahnt. Und ich habe sie beneidet und ich habe geschwiegen und habe ihr Leben mit ihr gelebt. Und das war ein bachantischer Tanz. Und die Zeit verging.

*

Eines Abends fand ich sie leichenblaß auf dem Diwan liegen. .Corrado wird nach Bangkok geschickt. Er wollte mich heiraten. Ich habe nein gesagt. Jetzt ist er wütend. Wir haben gebrochen.' Mehr sagte sie nicht und ich stellte keine Frage. Ich wußte alles. Ein schneidender Schmerz überwältigte mich, aber ich beneidete sie um ihre Größe. Erst nachdem Corrado abgereist war, sagte sie: ,Ich werde sterben. Gestern war ich beim Arzt. Eine Operation ist nicht mehr möglich. Drittes Stadium. Vor einem Jahr wäre ich so gut wie sicher zu retten gewesen. Aber um einen Preis, den ich nicht zahlen konnte. Jetzt will man mich mit Bestrahlungen quälen. Das muß ich mit Humor tragen.* *

Und nun der Leidensweg: Sie hatte nur mich eingeweiht, und ich mußte ihr beim Leben aller meiner Lieben schwören, nichts zu sagen. Corrado durfte es nicht wissen. Also durfte niemand es wissen. Wir gingen nach

London, um dort die Bestrahlungen diskret durchführen zu lassen. Dort konnten wir bei meinen Verwandten wohnen und hier schien es plausibel, daß Paulette eine Luftveränderung suchte, nachdem Corrado sie verlassen hatte. Wissen Sie, was das ist, diese Bestrahlungen? Wer es nicht miterlebt hat, kann es sich nicht vorstellen. Nicht nur, daß das Zerschießen der kranken Zellen dem Menschen alle Kraft abfordert, nein, in einer Zeit äußerster seelischer Belastung wirkt das obendrein schwer deprimierend. Ich hätte nie gedacht, was für gewaltige Reserven Paulette hatte. Sie hat es nie gesagt, aber

im Innersten hat sie felsenfest gehofft, daß die Bestrahlungen sie gesund machen werden. Ohne Operation! Und dann werde Corrado verstehen, warum sie ihm damals nicht ,ja' sagen wollte.

Sie wurde immer schwächer. Wenn einer meiner Verwandten oder der Arzt da waren, zeigte sie eine geradezu unglaubliche Haltung. Sie interessierte sich für alles, freute sich über jede Blume und lachte über jeden Witz. Und wenn wir dann allein waren, brach sie zusammen. Sie schluchzte und schluchzte und bat mich in abgehackten Sätzen um Verzeihung für ihre Schwäche und schluchzte, bis sie in völliger Erschöpfung da lag, mit offenen Augen und offenen Händen. Manchmal sagte sie dann ganz leise: ,Ich habe Angst.' So ging es acht Wochen. Der Arzt fürchtete, sie würde nicht die volle Dosis der Bestrahlungen aushalten, aber mit übermenschlicher Anstrengung ertrug sie alles. Schließlich sagte ihr der Doktor, sie habe eine gute Chance, gesund zu werden, doch könne die Besserungerst in drei bis sechs Monaten eintreten. Ich saß an ihrem Bett und sah ihre Augen aufleuchten.

Im Londoner Nebel wollten wir nicht bleiben, nach Rom wollte Paulette nicht gehen. Und da sie nur in einem Krankenhaus oder einem gut funktionierenden Haushalt entsprechend gepflegt werden konnte, gingen wir in das gerade leer stehende

Haus meiner Eltern in Venedig. Dort konnten wir uns nicht verstecken, aber wir hatten keine Wahl. ,Ich muß mir ein Ziel setzen. Also, das Fest des Redentore mache ich mit.' Mit diesem Vorsatz zog sie in den alten Palazzo am Canale Grande ein. Wir haben dort einen kleinen Hof mit einem Lorbeerbaum und Glyzinien. An schönen Tagen führte ich Paulette hinunter und sie freute sich, wie nur ein Genesender sich freuen kann am Leben, das sich dort rührte. Am meisten liebte sie eine kleine Katze. Sie spielte mit ihr und hätschelte sie. .Schau, wie lebendig.' Da öffnete sich die Gartentür und eine Dame in tiefer Trauer kam auf uns zu. Paulette ließ das Katzerl fallen und flüsterte mir zu: ,Der Todesengel.' Sie war bleich wie Kreide geworden. Den ganzen Tag lang erholte sie sich nicht von diesem Schock. Tags darauf war sie so

schlecht beisammen, daß wir sie gerade noch zum Mittagessen in das Speisezimmer führen konnten. Und so engte sich ihr Lebensraum ein. Sie merkte es, sagte aber nichts.

Der Arzt stellte keine Prognosen. Aber sie wurde zusehends schwächer. Dazu Schmerzen, schlaflose Nächte, Übelkeiten, die ihr jede Mahlzeit zur Qual machten. Damals begann man in Rom zu reden: die Geschichte von der verlassenen Frau und dem gebrochenen Lebenswillen. Lauter Unsinn! Wissen Sie, mein Lieber, daß dieser Lebenswille von Tag zu Tag stärker wurde? Manchmal sah sie lange ihre abgemagerten Arme an. Dann ging ein Schauer über ihren Leib, aber sie sagte: .Sollte ich gesund werden, sind ein paar Kilo schnell wieder da.' .Ich muß mir eine Aufgabe stellen: von nun an muß ich täglich die Dosis der schmerzstillenden Mittel ein wenig herabsetzen. Die ruinieren mir den Magen. Vielleicht kann ich dann wieder mehr essen.' ,Ach, nach einem Tag am Strand in einer Trattoria auf die Spaghetti warten und hungrig sein und Brot und Wein nehmen.' In solchen Momenten zuckte es um ihre Mundwinkel. Manchmal konnte sie sich an einem Lächeln festhalten. Andere Male versank sie in schwarzes Elend und schluchzte und betete um Erlösung. So ging es durch Wochen, durch Monate.

Ihr Lebensraum hatte sich auf ihr Zimmer eingeengt. Nur mit Mühe konnte ich sie ins Badezimmer führen. Ich rückte ihr einen Lehnstuhl ans Fenster, merkte aber bald, daß das Treiben am Kanal sie traurig machte. .Schau, der Mann, der die Kohlensäcke vom Landungssteg fortträgt, glaubst du, er dankt Gott dafür, daß er so stark ist? Und die Frauen dort, die sich anschreien und dabei mit den Armen fuchteln, als wollten sie sich prügeln, wissen sie, wie glücklich sie sind? Weiß das überhaupt einer? Und ich beneide sie und schäme mich darüber.' Einmal in der Früh sagte sie dann: ,Mir scheint, heut nacht hab ich etwas geschlafen. Da kam ein Mann zur verschlossenen Tür herein. Und ich wußte, es ist der Schmerz. Und er setzte sich auf mein Bett. Und ich schrie und wollte hinausspringen. Aber ich konnte nicht. Und er sah mich ruhig an und sagte nur: Kennst du mich nicht? Und es war Corrado und doch war er es nicht. Und er hatte den gleichen Blick wie der Heiland oben im Nonnenchor von Santa Cecilia. Und doch war er es nicht'... .Corrado darf mich unter keinen Umständen in diesem Zustand sehen. Unter gar keinen Umständen, verstehst du!' Tags darauf war er da. Ich ließ sie allein. Beim Weggehen drückte er mir die Hand, ohne etwas zu sagen, ohne mich anzusehen. Sie fand ich ruhig und verklärt, mit geschlossenen Augen daliegen, als ob sie schlummerte. ,Ah, du bist es. Wir werden heiraten. Aber ich habe die Bedingung gestellt, daß er erst wiederkommt, bis ich vollkommen gesund bin.' Ich ließ sie allein mit ihrem Glück und warf mich hysterisch auf mein Bett. .Kann der Tod denn stärker sein als eine liebende Frau?' . *

Dann begann es mit der Atemnot. Metastasen in der Lunge. Wir sagten ihr: Asthma, die ungewohnte Feuchtigkeit Venedigs, ihre Schwäche. Und nun geschah etwas Gespenstisches. Sie wollte es nicht zeigen, aber in ihrem Innersten wurde sie bös auf mich. Ich hatte sie nach Venedig gebracht und das war jetzt ihr ganzes Unglück. Jetzt, gerade jetzt, wo es ihr^toeasesLigings^jetzt, -to. alle Kräfte brauchte, um gesund zu werden, jetzt kam dieses unnötige Asthma. Sie wurde bitter und verschlossen. Am ehesten öffnete sie sich noch einem lieben alten Franziskaner, einem Freund meiner Eltern, der jede Woche kam. Aber mich distanzierte sie.

Sie brauchte ständig Sauerstoff und konnte auch nicht mehr ins Badezimmer geführt werden. Also mußten wir zwei Krankenschwestern aufnehmen. Zu ihnen war Paulette betont nett. Aber zu mir war sie kalt. Einmal erwähnten die Schwestern, sie habe davon gesprochen, nach Rom zu gehen, um aus der Feuchtigkeit zu kommen und mir nicht weiter zur Last zu fallen. Davon konnte in ihrem Zustand natürlich nicht die Rede sein. Was sollte ich tun? Durch Monate, ja, fast ein Jahr lang bin ich nicht von ihrer Seite gewichen. Sollte ich jetzt verschwinden? Ich wußte, daß ich schuldig war. Wenn ich nicht geschwiegen hätte, wenn ich sie damals zur Operation gezwungen hätte! Mein Gott!

So vergingen noch einige Wochen. Die Erstickungsanfälle wurden immer schlimmer. Sie war nur mehr ein Totenschädel mit einem Haarschopf. So lag sie da, mit dem Sauerstoffschlauch zwischen den Zähnen, und ächzte und keuchte. Tagelang war sie kaum bei Bewußtsein. Nur abends kam sie zu sich. Am Abend vor dem Fest des Redentore brachte ich ihr ein Parfüm, das sie besonders liebte, und kühlte damit ihre Stirne. Wir waren allein. Da sah sie mich mit ihren sanften Augen an. Um jede Silbe ringend, dankte sie mir und sagte, daß sie mich lieb hat. .Das Leben liegt vor mir, ganz nahe.'

In der Frühe des nächsten Tages ist sie entschlafen.“

Zeichnung: Susanne Thaler

Wir alle sind nur in dem Maße Menschen geworden, in welchem wir Menschen liebten oder Gelegenheit zu lieben hatten.

Boris Pasternak

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