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Geboren in Klagenfurt

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Zu fragen habe Ich mich nur noch, seit alles so geworden ist zwischen uns, wie es eben ist, was wir denn sein können füreinander, Malina und ich, da wir einander so unähnlich sind, so versAieden, und das ist nidit eine Frage des Gesdilechts, der Art, der Festigkeit seiner Existenz und der Unfestigkeit der meinen. Allerdings hat Malina nie ein so konvulsivisches Leben geführt wie ich, nie hat er seine Zeit verschwendet mit Nichtigkeiten, herumtelephonlert, etwas auf sich zukommen lassen, nie ist er in etwas hineingeraten, noch weniger eine halbe Stunde vor dem Spiegel gestanden, um sich anztistar-ren, um danach irgendwohin zu hetzen, inuner zu spät, Entschuldigungen stotternd, über eine Frage oder imi eine Antwort verlegen. Ich denke, daß wir auch heute noch wenig miteinander zu tun haben, einer erduldet den anderen, erstaunt über den anderen, aber mein Staunen ist neugierig (staunt Malina denn überhaupt? ich glaube es immer weniger), und unruhig ist es, gerade weil meine Gegenwart ihn nie irritiert, weil er sie wahrnimmt, wenn es ihm gefällt, nicht wahrnimmt, wenn nichts zu sagen ist, als gingen wir nicht ständig aneinander vorbei in der Wohnung, unübersehbar einer für den anderen, unüberhörbar bei den alltäglichen Handlungen. Mir scheint es dann, daß seine Ruhe davon herrührt, weU ich ein zu unwichtiges und bekanntes Ich für ihn bin, als hätte er mich ausgeschieden, einen Abfall, eine überflüssige Menschwerdung, als wäre ich nur aus seiner Rippe gemacht und ihm seit jeher entbehrlich, aber auch eine unvermeidliche dunkle Geschichte, die seine Geschichte begleitet, ergänzen will, die er aber von seiner klaren Geschichte absondert und abgrenzt. Deswegen habe auch nur ich etwas zu klären mit ihm, imd mich selber vor allem muß imd kann ich nur vor ihm klären. Er hat nichts zu klären, nein, er nicht Ich mache Ordnung im Vorzimmer, ich möchte in der Nähe der Tür sein, denn er wird gleich kommen, der Schlüssel bewegt sich in der Tür, ich trete ein paar Schritte zurück, damit er nicht gegen mich prallt, er schließt ab, und wir sagen gleichzeitig und liebenswürdig: guten Abend. Und während wir den Korridor entlanggehen, sage ich noch etwas:

Ich muß erzählen. Ich werde erzählen. Es gibt nichts mehr, was mich in meiner Erinnerung stört.

Ja, sagt Malina, ohne Verwunderung Ich gehe ins Wohnzimmer er gehl weiter, nach hinten, denn das letzt« Zimmer ist sein Zimmer. Ich muß und ich werde, wiederhole ich laut vor mir, denn wenn Malins nicht fragt und nichts weite: wisser will, dann ist es richtig. Ich kann beruhigt sein.

Wenn meine Erinnerung aber nui die gewöhnlichen Erinnerungen meinte. Zurückliegendes, Abgelebtes, Verlassenes, dann bin ich noch weit, sehr weit von der verschwiegenen Erinnerung, in der mich nichts mehr stören darf.

Was soll mich stören, an e.ner Stadt zum Beispiel, in der ich geboren bin, ohne die Notwendigkeit einzusehen, warum gerade dort und nicht anderswo, aber muß ich mich erinnern daran? Der Fremdenverkehrsverein gibt über das Wichtigste Auskunft, einiges fällt nicht in seine Zuständigkeit aber auch ich bin nicht kompetent, ich muß dort aber in der Schule erfahren haben, wo , Mannesmut und Frauentreu" sich zusammengetan haben und wo, in unserer Hymne, „des Glockners Eisgefllde" glänzt. Der größte Sohn unserer Stadt, Thomas Koschat von dem die Thomas-Koschat-Gasse zeugt, ist der Komponist des Liedes: „Verlassn, verlassn, verlassn bin i", in der Bismarckschule mußte ich das Einmaleins noch einmal lernen, das Ich schon konnte, in der Benediktinerschule ging ich zum Religionsunterricht, um dann nicht konfimiert zu werden, immer am Nachmittag, mit einem Mädchen aus einer anderen Klasse, denn alle anderen, die Katholiken, hatten ihre Religion am Vormittag, und ich war darum immer frei, der junge Vikar soll einen Kopfschuß gehabt haben, der alte Dechant war streng, schnurrbärtig und hielt Fragen für unreif. Das Ursulinengymnasium hat jetzt eine verschlossene Tür, an der ‘ch noch einmal gerüttelt habe. Im Cafe Musil habe ich vielleicht doch nicht das Stück Torte nach der Aufnahmsprüfung bekommen, aber Ich möchte es bekommen haben und sehe mich mit einer kleinen Gabel eine Torte zerteilen. Vielleicht habe ich die Torte erst ein paar Jahre später be-konunen. Am Anfang der Seepromenade des Wörthersees, nicht weit von der Dampferstation, bin Ich zum erstenmal geküßt worden, aber ich sehe kein Gesicht mehr, das sich meinem nähert, auch der Name von dem Fremden muß im See ver-schlannmt sein, nur von Lebensmittelkarten weiß ich noch etwas, die ich dem Fremden gegeben habe, der nicht mehr zurückgekommen ist zur Dampferstation am nächsten Tag, denn er war eingeladen bei der schönsten Frau der Stadt, die mit einem großen Hut durch die Wiener-gaese ging und wirklich Wanda hieß; einmal bin ich ihr nachgegangen bis zum Waagplatz, ohne Hut ohne Parfüm und ohne den sicheren Gang einer Frau von fünfunddredßig Jahren. Der Fremde war vielleicht auf der Flucht oder er wollte Zigaretten für die Marken eintauschen und sie rauchen mit der schönen großen Frau, nur war ich damals schon neunzehn Jahre alt und nicht mehr sechs, mit einer Schultasche auf dem Rücäcen, als es wirklich passierte. In einer Großaufnahme steht die kleine Glanbrücäce da, nicht das abendliche Seeufer, nur diese mittäglich übersonnte Brücke mit den zwei kleinen Buben, die auch ihre Schultaschen auf dem Rücken hatten, und der ältere, mindestens zwei Jahre älter als ich, rief: Du, du da, komm her, ich geb d:r etwas! Die Worte sind nicht vergessen, auch nicht das Bubengesicht, der wichtige ersrte Anruf, nicht meine erste wilde Freude, das Stehenbleiben, Zögern, und auf dieser Brücke der erste Schritt auf einen anderen zu, und gleich darauf das Klatschen einer harten Hand ins Gesicht: Da, du, jetzt hast du es! Es war der erste Schlag in mein Gesacht und das erste Bewußtsein von der tiefen Befriedigung eines anderen, zu schlagen. Die erste Erketmtnis des Schmerzes. Mit den Händen an den Riemen der Schultasche und ohne zu weinen und mit gledchmäßlgen Schritten 1st jemand, der ednmal ich war, den Schulweg nach Hause gerottet, dieses eine Mal ohne die Staketen des Zauns am Wegrand abzuzählen, zum erstenmal unter die Menschen gefallen, und manchmal weiß man also doch, wann es angefangen hat, wie und wo, und welche Tränen zu weinen gewesen wären.

Es war auf der Glanbrücke. Es war nicht die Seepromenade. Während manche Menschen an Tagen geboren sind, wie dem 1. Juli, an dem gleich vier hochberühmte Leute geboren sind, oder am 5. Mai, an dem sich die Weltverbesserer und Genies drängen und ihre ersten Schreie ausgestoßen haben, konnte ich nie herausfinden, wer die Unvorsichtigkeit begangen hat, sein Leben auch an dem Tag anzufangen, der für mich der erste war. Ich kenne nicht die Befriedigung, mit Alexander dem Großen, mit Leibniz, mit GalUeo Galilei oder Karl Marx in eine Stem-stunde geraten zu sein, und selbst auf der Reise von New York nach Europa, auf dem Schiff „Rotterdam", auf dem die Geburtsta^sliste aller Passagiere, die in diesen Tagen zu feiern waren, in Evidenz gehalten wurde, kam an dem Tag, als die Reihe an mir war, nur durch meine Kabinentür eine gefächerte Glücdc-wunschkarte vom Kapitän, und noch hoffte Ich bis mittag, daß unter «eien Hunderten von Passagieren, wie an allen Vortagen, noch einige seien, cJde an diesem Tag eine Gratistorte auf den Tisch bekamen und mit dem Absingen von „happy bdrthday do you" überrascht würden. Aber dann war nur ich es, ich sah mich vergeblich um im ganzen Speisesaal, nein, niemand sonst. Ich schnitt rasch die Torte an, verteilte sie edUg an drei Holländertische und ich redete und trank und redete, ich vertrüge den Seegang nicht, hätte die ganze Nacht nicht geschlafen, und ich lief zurück in die Kabine und sperrte, mich ein. Es war nicht auf der Glanbrücke, nicht auf der Seepromenade, es war auch nicht auf dem Atlantik in der Nacht. Ich fuhr nur durch diese Nacht, betrunken, der untersten Nacht entgegen.

Erst später kam ich darauf, daß an dem Tag, der mich damals noch interessierte, wenigstens jemand gestorben war. Auf die Gefahr hin, auch der Vulgärastrologie ins Gehege zu kommen, weil ich mir die Zusammenhänge hoch oben über uns einbilden darf, wie ich will, weil mir keine Wissenschaft dabei auf die Finger sehen und draufklopfen kann, hänge ich meinen Anfang mit einem Ende zusammen, denn warum soll nicht jemand zu leben anfangen, wenn der Geist eines Menschen verlischt, aber den Namen dieses Mannes nenne ich nicht, denn wichtiger ist, daß mir dazu gleich das Kino hinter dem Kärntnerring einfiel, in dem ich zwei Stunden lang, in Farben vertan und in viel Dunkelheit, zum erstenmal Venedig gesehen habe, die Schläge der Ruder ins Wasser, auch eine Musik zog mit Lichtem durchs Wasser und ihr dadim, dadam, das mich mitzog, hinüber in die Figuren, die Doppelfiguren und ihre Tanzschritte. So war ich in das Venedig gekommen, das ich nie sehen werde, an einem windigen, klirrenden Wiener Wintertag. Die Musik habe ich oft wiedergehört, improvisiert, variiert, aber nie mehr so und richtig, einmal aus einem Nebenzimmer, wo man sie zerfetzte während einer mehrstimmigen Diskussion über den Zusammenbruch der Monarchie, die Zukunft des Sozialismus, und einer begann zu schreien, weil ein anderer etwas gegen den Existentialismus oder den Strukturalismus gesagt hatte, und ich horchte vorsichtig noch einen Takt heraus, aber da war die Musik schon zugrunde gegangen im Geschrei, und ich ohne mich, weil ich sonst nichts mehr hören wollte. Oft will ich ja nicht hören, und oft kann ich nicht sehen. So wie ich das sterbende Pferd nicht ansehen konnte, das von dem Felsen gestürzt war bei Hermagor, für das ich zwar kilometerweit um Hilfe ging, aber ich ließ es bei dem Hüterbuben zurück, der auch nichts tun konnte, oder wie ich die Große Messe von Mozart nicht hören konnte und nicht die Schüsse auf einem Dorf im Fasching.

Ich will nicht erzählen, es stört mich alles in meiner Erinnerung. Malina ‘kommt ins Zimmer, er sucht nach einer halbleeren Whiskyflasche, gibt mir ein Glas, schenkt sich eines ein und sagt: Noch stört es dich. Noch.

Es stört dich aber eine andere Erinnerung.

Jeder würde sagen, daß Ivan und ich nicht glücklich sind. Oder daß wir noch lange keinen Grund haben, uns glücklich zu nennen. Aber jeder hat nicht recht. Jeder ist niemand. Ich habe vergessen, am Telephon Ivan wegen der Steuererklärung zu fragen, Ivan hat großzügig gesagt,, er wird mir für das nächste Jahr diese Steuererklärung machen, es geht mir nicht um die Steuer und was diese Steuer von mir schon will für ein anderes Jahr, nur um Ivan geht es. für mich, wenn er spricht vom kommenden Jahr, und Ivan sagt mir heute, er habe am Telephon vergessen, mir zu sagen, daß er genug habe von den belegten Broten und daß er einmal wissen möchte, was ich zu kochen verstünde, und nun verspreche ich mir von einem einzigen Abend wieder mehr als vom kommenden Jahr. Denn wenn Ivan will, daß ich koche, dann muß das etwas zu bedeuten haben, er kann mir dann nicht mehr rasch davonlaufen, wie nach einem Drink, und heute nacht seheich mich um in der Bibliothek unter meinen Büchern, es sind keine Kochbücher darunter, ich muß sofort welche kaufen, wie absurd, denn was habe ich gelesen bisher, wozu dient miř das jetzt, wenn ich es nicht brauchen kann für Ivan. Die Kritik der reinen Vernunft gelesen, bei 60 Watt in der Beatrixgasse, Locke, Leibnitz und Hume, in der Düsternis der Nationalbibliothek unter den kleinen Lämpchen von den Vorsokratlkem bis zu Das Sein und das Nichts mich durch alle Begriffe aus allen Zeiten betört, Kafka, Rimbaud und Blake gelesen bei 25 Watt in einem Hotel in Paris, Freud, Adler und Jung gelesen bei

360 Watt in einer einsamen Berliner Straße, zu den leiden Umdrehungen der Chopin-Etüden, eine flammende Rede über die Enteignung des geistigen Eigentums studiert an einem Strand bei Genua, das Papier voller Salzflecken und von der Sonne verbogen, in drei Wochen La Comédie, Humaine bei mittelhohem Fieber gelesen, geschwächt von den Antibiotika, in Klagenfurt, Proust gelesen in München bis zum Morgengrauen und bis die Dachdecker in das Mansar- denzimmer hereinbrachen, die französischen Moralisten und die Wiener Logistiker gelesen, mit hängenden Strümpfen, zu dreißig französischen Zigaretten am Tag alles gelesen, von De Rerum Natura bis zu Le Culte de la Raison, Geschichte und Philosophie, Medizin und Psychologie getrieben, in der Irrenanstalt Steinhof gearbeitet an den Anamnesen der Schizophrenen und der Manisch- Depressiven, Skripten geschrieben im Auditorium maximum bei nur plus sechs Grad und bei 38 Grad im

Schatten noch immer Notizen gemacht über de mundo, de mente, de moto, nach dem Kopfwäschen gelesen Marx und Engels und vollkommen betrunken W. I. Lenin gelesen, und verstört und fliehend Zeitungen und Zeitungen und Zeitungen gelesen, und Zeitungen schon als Kind gelesen vor dem Ofen, beim Feuermachen, und Zeitungen und Zeitschriften und Taschenbücher überall, auf allen Bahnhöfen, in allen Zügen, in Straßenbahnen, in Omnibussen, Flugzeugen, und alles über alles gelesen, in vier Sprachen, fortiter, for- titer, und alles verstanden, was es zu lesen gibt, und befreit von allem Gelesenen für eine Stunde, lege ich mich neben Ivan und sage: Ich werde dieses Buch, das es noch nicht gibt, für dich schreiben, wenn du es wirklich willst. Aber du mußt es wirklich wollen, wollen von mir, und ich werde nie verlangen, daß du es liest. Ivan sagt: Hoffen wir, daß es ein Buch mit gutem Ausgang wird.

Hoffen wir.

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