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Die Tanzschülerinnen

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Die Garderobe der Tanzschule in der Akademie. Dämmerabend im Frühherbst In einer Ecke sitzt Philippa, eine junge Tanzschülerin, bei einem roten Wandlicht über ein Buch gebeugt, das sie hingegeben liest.

Nach einer Zeit wird der Vorhang auseinandergehoben und M elitas blonder Kopf lugt herein.

MeliU

Wo steckt sie? — Ah — (tritt ein)! Was tut sie denn da so spät?

Philippa

(liest;

Melita

Philippa! — Sie hört nicht. — Mir scheint: sie liest. Und in was für einer untänzerischen Haltung! Spielt sie? Oder ist sie wirklich versunken? — Philippa! Was liest du denn wieder so fanatisch?

Philippa

(das Buch hinhaltend, strahlend) Von ihr!

Melita

Von ihr! Da soll einer wissen, von wem? Immer diese halbdeutliche Art, sich auszudrücken!

Philippa

Lies doch das Titelblatt selbst.

Melita

Da schau her! Von der Frau Professor!

Philippa

Was: Frau Professor? Von Grete Wiesemthal! Ihre Selbstbiographie ist es.

Melita

Hat sie dir's gegeben?

Philippa

Sie, und drüber reden! Aber heute war die große Rezension in der Zeitung, und da hat mir's prompt der — roa, du ahnst es ohnehin — gekauft. Übrigens, weißt du, wer das Buch verlegt hat? Der Dichter Rocho-wanski. Ach, ich sag dir, unendlich reizvoll ist das, wie sie so ihre Kindheit und ihre Anfänge im Leben und in der Kunst schildert. Oder besser, wie sie selbst es nennt: ihre „ersten Schritte“.

Melita

„Die ersten Schritte.“ Also ungefähr, was wir jetzt versuchen.

Philippa

Ja, so alt sind wir, wie sie es zum Ende des Buchas war. Und wir kommen aus einem ähnlichen Wiener Bürgerhaus, obwohl ihr Vater, der Maler, ja schon ein Künstler war und sie und ihre Schwestern den Geist der Kunst von ihm geerbt haben. Ihre Mutter, von der sie weniger spricht, war aber vielleicht wichtiger: denn sie ist aus dem Volk gekommen. Und zwischen diesen beiden Sphären wächst ein Mädchen auf, wie wir sind, in einem Gartenhaus in Hietzing. Im Nachbarhaus wohnt eine berühmte Tänzerin der Hofoper. War das die Ursache, daß eines Tages ein Kind von neun Jahren plötzlich zu tanzen anfängt? Und gleich mit solcher Leidenschaft, daß es fortan kaum sonst etwas tut als tanzen? Nachahmung bedeutet viel in der Kunst, der Zufall hingegen gar nichts. Wenn man so ein Buch liest, weiß man wieder, daß alles, was geschieht, Sinn hat; alles!

Melita

Philippa, die Weisheit der Gruppe Wiesenthal. Nicht umsonst fängt ihr Name wie Philosophie an.

Philippa

Weshalb ich eine weniger vorteilhafte Tänzerin bin, willst du sagen?

Melita

Geisttänzerin. Zum Unterschied von mir, die nichts möchte, als mein bißchen Körper so mit dauernder Anmut bewegen, wie sie es tut, die Unna chahmibare.

Philippa

Das Ist schon ein Ziel Alber Ihres, siehst du, war doch von Anfang höher. Als Kind von neun Jahren tritt sie in das Ballett der Oper ein. So lange Zeit sie auch in dem rückständigen Ballett gearbeitet und gelernt, soweit sie es in der altmodischen Kunst gebracht hat — unter Gustav Mahler hat sie sogar eine Solopartie bekommen —, Immer muß in ihr, wie ein unsichtbarer Funke —

Melita

Sehr poetisch: „Unsichtbarer Funke.“ Phüippa

Ich nehm ihn reuig zurück — mit versengten Fingern. Doch — wie vergleich ich besser, was ihr den inneren Weg immerdar vorerleuchtet hat?

Melita

Ein Gemeinplatz, Philippa. Bei allen Künstlern ist es das Gleiche. Sogar bei uns.

Philippa

Mag sein. Aber wo sind unsere Bekehrungen, unsere Revolutionen? Wir schwören auf die geliebte Meisterin. Das ist ja nur zu richtig. Sie aber — alles gibt sie auf, was so viele Jahre in ihr ausgebildet. Von selbst gibt sie sämtliche Vorteile und Sicherheiten auf. Sie wagt, was vor ihr bereits einmal — von Isadora Duncan — gewagt worden war: Die gänzlich freie, nur aus Musik und der Seele gewonnene Tanzphantasie. Und in einer Stadt wie Wien traut sie sich das. Stell dir vor, daß wir so etwas tun!

Melita

Wir? Was sind wir? Aber ich kann mir schon ausmalen, daß unsere Neue sich vollkommen von ihr distanziert und ihre so eigentümlichen Gedanken tänzerisch verwirklicht.

Philippa

Sicher kann ich mir das denken. Nur — siehst du! — es gibt eben noch ein Element bei so etwas, das mitentscheidet, nämlich den Augenblick Damals, wie sie in unserem Alter war, ist Wien eine Stadt der Kunst gewesen, wie nie zuvor. Da hat Mahler komponiert, Klimt gezeichnet, Hofmannsthal gedichtet, und sie alle haben Neues gefunden, gefühlt und gestaltet Die Tanzkunst gar war noch öde und leer wie die Welt vor der Schöpfung — jemand hat kommen müssen für den Tanz — immer ja muß jemand kommen, der die Sendung auf sich hat und weiß, daß er sie hat — und das war halt s i e. Die Sendung war die der Kunst, die des Vaters; daß aber die Sendung geglückt ist, das verdankt sie vielleicht der Mutter, dem Volk, durch das sie so schön bleibt. Denn woher hätte sie dieses unendlich rührende Lächeln, wenn nicht durch ihr Volkliches, das ihr Vater, wie sie erzählt, so leidenschaftlich geliebt hat?

Melita

Bravo! Ein glänzender Vortrag über Grete Wiesenthal und ihre Zeit.

Philippa

Ach, ich könnte ewig über sie reden. Wie sie damals war, das ahnen wir nur durch das Buch und die Bilder — schau dir das herrliche letzte an. Aber wie sie heute ist, das wissen wir, und von heute aus betrachtet, werden diese ersten Schritte noch zauberhafter. Denn, was hat sie nicht alles aus sich gemacht!

Melita

Und aus uns.

Philippa

Die Einmaligkeit dieser Frau — wie sie jetzt strahlt und ausstrahlt, wie, was früher bloß Anmut des Antlitzes und der Glieder gewesen, heute Schönheit im Geist ist, wie die Revolution von damals eigentlich geheim immer noch fortwirkt, das möchte ich geradezu erschütternd nennen, wenn mir nicht meine ungenaue Art, mich auszudrücken, ständig vorgeworfen würde.

Melita

Weißt du, das alles hat einen schönen, einfachen Quellengrund: Sie ist eben eine Dichterin.

Philippa

Das ist sie auch und von Natur aus. Nur eine Dichterin konnte so ein beglückendes Buch ersinnen und schreiben.

Melita

Und den „Taugenichts von Wien“. Philippa

In dem du ganz nett getanzt hast. Ja, das ist es, und darum hatten die Schauspieler recht, die sie gezwungen haben, Raimunds gefesselte Phantasie auf der Bühne darzustellen. Mein Vater hat sie gesehen, und er hat mir die Kritik eines Dichters gezeigt, aus der ich sie mir leicht zurückträumen kann.

Mcüta

Zum Schluß bleibt in Wien nichts übrig als der Stephanstunm und sie.

Philippa

Und das stimmt. Das sind die beiden Besitztümer, die wir durch Gnade noch haben dürfen. Natürlich bleibt uns auch anderes gegönnt, aber nichts so ursprünglich, aus der Natur der Stadt Gewachsenes — ich möchte keinem unserer Künstler Unrecht tun — doch, da die Zeit nicht mehr fähig scheint, so etwas wie eine Melodie von Schubert oder einen Walzer von Johann Strauß hervorzubringen, so flüchtet sich sozusagen die Musik in die Mädchen-gestalt einer jungen Tänzerin, um, da sie nicht mehr tönen darf, wenigstens ihr schönes Gesetz stumm erfüllen zu dürfen. Ist es da nicht etwas Sinnbildliches, daß ihre erste selbständige Rolle in der Oper die der „Stummen von Portici“ war?

Melita

Ich höre sämtliche Wolkenkuckucksuhren schlagen, und uns die Stunde des Abgangs zurufen. Widrigenfalls uns der Portier erbarmungslos in dieser Garderobe einsperren würde.

Philippa

Gleich. Ebenso symbolisch ist es übrigens, daß sie in Glucks „Iphigenie“ zum letztenmal in der Oper aufgetreten ist. Ich komme schon. Nur eine Stelle lese ich dir noch vor. Denn die ist einzigartig

Melita

Bitte, tue das im Gehen oder Tanzen. Also, ich bin ganz Ohr.

Philippa

Auch ganz Herz solltest du sein. Hör zu! Da schildert sie eine erste Reise nach Tirol. „Es wurde Nacht, und ich hatte keine Ruhe, zu schlafen. Der wunderbare Sternenhimmel lockte mich ins Freie, und beglückt atmete ich die würzige, reine Luft. Der leise Wind trug zu mir ein zartes Läuten vieler Glocken von Kuhherden, die auf den umliegenden Triften lagerten. Es war unsagbar schön, in dieses Schweigen und Dunkel hinein zu horchen, auf dieses Läuten, das mir Kunde brachte von den Tieren, die in der Nacht im Schlaf sich regen, aufstehen und an ihren ruhenden Gefährten vorbeigehen. Das war Tirol, da erkannte ich es, da kam es mir nahe.“

Melita

Es ist eben alles schön, was sie anrührt

Philippa

Weiter. Jetzt kommt das überraschend Aufrichtige dazu: „Ich möchte tiefer hinein in die Täler, zu einem kleinen See, umgeben von dunklen, grünen Bergen. Und ich lebte das ganze stille Leben in der Natur das erstemal. Keine Kunst, kein Geist des Geschmacks, alle Aufregungen um diese Worte so fern. Hier war es schweigsam, so tief ernst, und doch für mich gerade um dieser Stille willen so aufregend. Da war ich nun ganz nahe an der Natur, an der Erde, wie ich es immer ersehnt hatte, aber sie ließ mich nicht zu sich ein. Ich stand immer wie im Vorhof des Allerheiligsten, ich schaute auf die Berge, die Bäume und alles rings umher, mir brannte das Herz vor Sehnsucht, eine Antwort zu bekommen. Aber es blieb fast stumm um mich, ich konnte nicht ganz heran an das, dem ich mich so nahe gewähnt, da ich in Wien, in der Kärntnerstraße, an den schönen Geschäften varbeigtiing und vom Land, von Tirol sprach und träumte. Ich kam belastet von Kunst und Ausdruckswahn in diese Stille. Ich fühlte, ich gehörte noch nicht hierher, und empfand diese Erkenntnis als eine Unfähigkeit.“

Melita

Sonderbar. Das ist heute schwer eingänglich. Aber du hast recht: Das Aufrichtige macht das Schöne erst zu sich selber, wo es doch sonst gar zu leicht mit dem Unaufrichtigen zu tun hat. Wie sich das mit uns verhält, möchte ich besser nicht sagen. Was sind übrigens wir? Ein schwaches Echo. Das wo erklingt?

Philippa

In unseren Zimmern, nicht in der Bergwelt.

Melita

Bitte, lösch das Licht aus.

Philippa

Bei ihr brennt's ewig fort. — Merkwürdig, wie dunkel es schon ist. Ich finde kaum zur Türe.

Melita

Vorhin hast du mir einen Weg gewiesen. Jetzt leit ich dich. — Es ist ja gar nicht so finster...

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