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Nach der Heimkehr

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Am nächsten Tag aber ging der Sohn, der verloren gewesen und nun wieder gefunden war, dem Geblök nach zu der Koppel, wo die Schafe geschoren wurden. Da stand der ältere Bruder, die Arme auf dem obersten Balken der Einfriedung, das bärtige Kinn auf die verschränkten Hände gestützt, und schaute den Knechten zu, die ein Schaf nach dem anderen aufs Kreuz legten und es mit den scharfen Scheren so geschickt und rasch aus dem Fell schälten, als ob sie einem überraschten, kaum widerstrebenden Gast aus dem Wintermantel hülfen.

Die Knechte verstanden ihr Geschäft, aber sie wußten auch, daß das Auge des älteren Bruders auf ihnen ruhte, und darum nahmen sie sich noch mehr zusammen,zwischen ihren flinken Händen und ihm, der sie beobachtete, war kein Platz für umständliche Gedanken, da j lief Griff in Griff, Klipp und Klapp nicht auseinanderzuhalten, ein leises, heiseres Schnattern. Eisenschnattern. Wie kleine Raubtiere wieselten die Klingen den Körper entlang, die hierauf, ihrer Wolle entkleidet, erbärmlich mager wirkten.

Da und dort floß auch ein wenig Blut aus kleinen Verletzungen, das ließ sich nicht immer vermeiden und war weiter nicht schlimm, aber die Knechte spürten dennoch, wie der Blick des älteren Bruders sich an diesen roten Flecken verdichtete, und sie sahen nicht auf, wenn ihnen das Schaf schließlich nackt aus den Händen sprang, sondern packten gleich das nächste, ohne eine Atempause. Wollwolkenberge wuchsen in die Höhe und in die Breite.

Der ältere Bruder wandte nicht einmal den Kopf, als der jüngere Bruder neben ihn trat und neben ihm die Arme auf den Balken legte, schob nur die Unterlippe vor, daß der Strohhalm, an dem er kaute, plötzlich aufwärts wies.

„Du bist mir nicht mehr böse?" fragte der jüngere Bruder.

„Nein", versicherte der ältere Bruder. Nun richtete er sich auf, schloß die Hände im Nacken und streckte sich. „Auch gestern beim Fest war ich dir nicht böse. Ich habe nur den Vater nicht gleich verstanden."

„Und jetzt verstehst du ihn?"

„Vielleicht. Aber vielleicht bilde ich es mir auch nur ein. Unser Vater ist manchmal schwer zu verstehen, nicht wahr?"

Der jüngere Bruder nickte. „Es war mir peinlich, daß er aus meiner Heimkehr ein solches Fest gemacht hat. Ich hätte mich lieber hereingeschlichen und auf meinen alten Platz gesetzt, als wäre ich nie fortgewesen. Mehr habe ich nicht gewollt."

„Ja?" drängte der ältere Bruder sanft, als ihm das Schweigen danach zu lange dauerte.

„Ich fange an zu begreifen. Der Vater hat mir den Anteil des Vermögens gegeben, der mir zugekommen ist, und ich habe ihn vertan. Gestern abend bin ich zu seiner Rechten gesessen und war der Mittelpunkt des Festes, aber ich weiß, daß nun nicht an jedem Abend um meinetwillen ein Fest gefeiert wird. Oder meinst du, daß er mich heute wieder zu seiner Rechten sitzen läßt?" j

„Nein. Kaum."

„Er hat mich beschämt. Daß er mich so geehrt hat, war ein Teil meiner Strafe."

„Mag sein."

„Das Kleid, das er mir gegeben hat, trage ich noch immer. Es ist das schönste Kleid, das ich jemals getragen habe. Aber es paßt mir nicht."

„Du wirst schon hineinwachsen. Und du wirst auch einen Platz für dich finden." Der ältere Bruder hob den Kopf, zu den Knechten hin. „Ich könnte mir denken, daß er es vor allem auch ihretwegen getan hat."

„Um ihnen zu zeigen, daß einer, der von Geburt sein Sohn ist, für immer sein Sohn bleibt: Sicher hätte er dich auch anders strafen und dich zum geringsten unter ihnen machen können wie du es es von ihm wolltest, da wäre aber leicht einer auf den Gedanken gekommen, er sei möglicherweise etwas Besseres als der Sohn des Herrn und fast eine Art Herr, nur weil er, der Knecht, immer brav seine Pflicht getan hat."

Zweifel sprach aus der Miene des jüngeren Bruders, denn in diesen Worten verriet sich ein Stolz, den er in der Fremde, als er mit den Schweinen aus einem Trog gefressen, wohl oder übel abgelegt hatte, draußen in der Welt, mit der sein älterer Bruder nie in Berührung gekommen war, und ihm schien es dabei, als sei jene Welt in Wahrheit viel wirklicher als dieses Haus und das Land rundherum, das vom Vater wie aus dem Nichts geschaffen worden war und wahrscheinlich nur durch ihn Bestand hatte.

„Weißt du schon, daß heute vor Sonnenaufgang auch der Kleine fortgegangen ist?"

„Nein."

„Er ist in der Nacht zu mir gekommen und wollte, daß ich ihm von der Welt erzähle, aus der ich heimgekehrt bin."

„Und? Was hast du ihm erzählt?"

„Die Wahrheit."

„Von den Schweinen?"

„Auch das. Aber es gibt dort nicht nur Schweine."

„Das will ich gern hoffen."

„Die Welt ist groß - gewaltig groß: Viel größer, als du dir träumen läßt, wenn du in deinem Bett liegst und schläfst!"

„Bist du so sicher?"

„Hinter den Bergen liegen andere Berge — so hoch, daß ihre Gipfel selbst im Sommer von Eis und Schnee bedeckt sind: — "

„Ja, es gibt klare Tage, an denen man sie von hier aus sehen kann."

„—und hinter den Bergen liegen Ebenen, so weit das Auge reicht, und die Ebenen sind von Flüssen und Strömen durchzogen, an denen Dörfer liegen und Städte, wo ganze Völker übereinander leben in Türmen aus Stein und Glas, die bis an die Wolken reichen. Die Menschen dort halten sich ein Heer von künstlichen Dienern, die weder Befehle und Erklärungen noch Aufsicht brauchen, sondern das Richtige tun, wenn du auf einen von den Knöpfen drückst, die sie zur Auswahl haben."

„Auf welchen Knopf?"

„Das mußt du lernen. Manchmal ist es sehr einfach, manchmal aber auch so vertrackt, daß es Menschen gibt, die nichts anderes lernen, als zwischen den vielen Knöpfen zu wählen. Das hört sich vielleicht dumm an, und doch kann jeder, der die Kunst der Knöpfe beherrscht, wahre Wunder tun. Er kann Berge versetzen und durch die Luft fliegen wie ein Vogel — und noch viel weiter: Zum Mond und zu den Sternen! Ehrenwort! Wenn ihm danach ist, kann er auch andere Menschen über große Entfernungen hinweg töten."

&oßartig." „Ich behaupte ja nicht, daß es erstrebenswert wäre."

„Und dann? Hinter den Ebenen?"

„Dann kommt das Meer, ein abgrundtiefer, unermeßlicher Spiegel aus salzigem, bitterem Wasser wie Tränen, unter dem sich Fische verbergen, die so groß sind wie unsere Scheune, grau und mächtig, und andere Fische, die sind kleiner als Sperlinge, silbrig und bunt, und sie kommen in Schwärmen, daß das Wasser von ihnen zu kochen scheint. Wesen gibt es im Meer, die so merkwürdig sind, daß ich sie dir erst gar nicht beschreiben will, weil du mir bestimmt nicht glauben würdest. Aber ich habe sie gesehen!"

„Und hinter dem Meer? Ist dort die Welt zu Ende?"

„Nein." Der jüngere Bruder machte ein geheimnisvolles Gesicht und beugte sich näher ans Ohr des älteren Bruders: „Die Welt hat kein Ende!"

„Ah, das freut mich!" meinte der ältere Bruder. „Der Vater hat so etwas angedeutet."

„Nein, nicht wie du denkst", berichtigte der jüngere Bruder. Er formte mit den hohlen Händen vor den Augen des älteren Bruders eine Rundung. „Wir befinden uns hier auf einer Kugel, die sie Erde nennen, obwohl es das Meer ist, das mehr als die Hälfte ihrer Oberfläche bedeckt, und diese Kugel bewegt sich rund um die Sonne in einem Raum, in dem auch die Sterne kreisen, die du in der Nacht am Himmel siehst."

„Die meisten Sterne aber sind überdies so weit von uns, daß man sie nur durch besonders geschliffene Kristalle erkennen kann."

„Wie viele sind es?"

„Das weiß niemand, denn es könnte ja sein, daß von den fernsten aller Sterne, die du in den Kristallen erblickst, sich die Sicht auf noch viel fernere Sterne eröffnet. Uberall weichen die Grenzen zurück, im großen wie im kleinen. Endlich ist nur unser Vermögen, die Wirklichkeit zu erfassen, und Halt finden wir nur im Nächsten. Leicht verlierst du dich." „Dennoch bist du hier."

„Ich war am Ende meiner Kraft. Da bin ich einfach davongelaufen, einfach drauflos. Das Bild des Vaters hatte ich im Herzen, aber ich wußte nicht, wo ich ihn suchen sollte. Er war es, der mir entgegengeeilt ist. Nachher sah ich, daß ich im Kreis gegangen war."

Der ältere Bruder betrachtete ihn nachdenklich. „Das alles hast du unserem kleinen Bruder erzählt? Mit diesen Worten?"

„Nein", gestand der jüngere Bruder bedrückt. „Er hätte sie nicht verstanden. Er wollte von mir wissen, Was für Farben die Welt hat, wie sie riecht und schmeckt. Vom Weichen und vom Harten, vom Heißen und Kalten mußte ich ihm erzählen. Ich habe ihn gewarnt, aber als er aufstand und ging, sah ich mich in ihm wieder und begriff, daß er nicht anders konnte. Er ging und nahm nichts mit als meinen Wunsch, daß er dennoch heimfinden möge — wie ich."

„Vielleicht ist das die bessere Voraussetzung. Sein Anteil wird hier auf ihn warten."

„Ja, ich besitze nichts mehr als dieses Kleid und den Ring und die Schuhe, die der Vater mir gegeben hat", sagte der jüngere Bruder. Seine Lippen wurden schmal. „Gut, daß du mich daran erinnerst."

Der ältere Bruder lachte. „Wie ich den Vater kenne, wird er dir doppelt und dreifach ersetzen, was du vergeudet hast. Mangel wirst du nicht leiden, so wie du auch am Tisch den Platz haben wirst, der dir entspricht."

„Und du wirst ihn mir nicht mißgönnen?" fragte der jüngere Bruder, erstaunt und vorsichtig.

„Nein, das verspreche ich dir", beruhigte ihn der ältere Bruder leichthin. „Mir ist es nur um das Böcklein, das ich gerne gehabt hätte, um meine Freunde zu bewirten. Seit gestern Abend weiß ich, daß es nur an mir liegt, den Vater darum zu bitten. ,Kind, du bist immer bei mir, und all das Meine ist dein', hat der Vater zu mir gesagt. Es ist genug da für uns alle."

„Du bist sehr großmütig", stellte der jüngere Bruder gerührt fest."

„Es wird dennoch nicht ausreichen, um deine Armut zu heilen."

„Jetzt bist es du, den ich nicht verstehe."

„Eben vorhin hast du gesagt, daß unser Vermögen, die Wirklichkeit zu erfassen endlich sei..." „Ja, so ist es."

„Trotzdem wende^ich dagegen ein, daß du unser Vermögen nicht weniger überzeugt als unendlich bezeichnen kannst, denn es enthält, solange es unser Vermögen — oder auch nur dein Anteil am Vermögen — ist, eine unendliche Fülle von Möglichkeiten. Du freilich hast es für ein paar Stück Wirklichkeit hingegeben, für , eine Handvoll Wirklichkeit. Du hast das Unendliche für das Endliche eingetauscht."

Immerhin..." „Jetzt kennst du die Wirklichkeit. Du hast erfahren, wie billig oder wie teuer sie ist—und wie begrenzt!"

„Ich habe sie in meinen Händen gehalten: Süß war sie und schön, ja, und auch bitter und häßlich ... Ich weiß, daß es sie gibt."

„Aber du hast darüber vergessen, um wieviel süßer und schöner deine Träume waren!"

„Das habe ich nicht vergessen. Aber ich habe gelernt, daß Träume nicht wirklich sind."

„Solange du nicht gelernt hast, wie man träumt, daß daraus Wirklichkeit wird, beeindruckt mich das wenig." „Kannst du es?" „Vielleicht? Ich habe nie die Wirklichkeit gebraucht, um meine Welt einzurichten, und ich bin sogar sicher, daß sie mir dabei hinderlich wäre. Ich kann dir nicht beweisen, daß meine Träume besser sind, aber sie haben zumindest voraus, daß sie nicht auf das eine, einzige Maß festgelegt sind; wenn ich auch nicht immer über sie zu gebieten vermag, so passen sie sich doch wenigstens meinen wechselnden Launen an und fordern nicht von mir, daß ich mich ihnen anpasse."

Warum hast du dann dem Vater vorgeworfen, daß er dir das Böcklein vorenthält?"

„Der Freunde wegen. Es ist nicht für mich. Die kleine Wirklichkeit, in die ich hier hineingestellt bin, ist mir genug, weil sie nicht größer ist und meine Freiheit umso weniger beschränkt, je vertrauter ich mit ihr bin."

„Aber die Träume sind nur in deinem Kopf!"

„Wo finden deine Wirklichkeiten statt, wenn nicht in deinem Kopf. Erst recht jetzt, nachdem sie dir zwischen den Fingern zerronnen sind und du wieder bei uns bist! Stoff für künftige Träume — mag sein; aber ein teuer gekaufter Stoff..."

Der jüngere Bruder strich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er Spinnweben wegwischen. „Ich werde nicht mit dir streiten. Nur eines noch: Hätte ich jemals die Liebe unseres Vaters fassen können, wenn ich nicht in diesem erbärmlichen Zustand, in dem ich mich befand, zu seinen Füßen gelegen wäre?"

„Wie arm mußt du von Anfang an gewesen sein, daß du einen solchen Beweis nötig hättest!"

Der jüngere Bruder schaute an seinem prächtigen Kleid hinunter zu den schönen, weichen Schuhen, die neben den nackten, staubigen Füßen des älteren Bruders in der von den Hufen der Schafe zerwühlten, mit. Stroh und Steinen vermischten Erde standen. Dann hob er den Ring gegen die Morgensonne, daß der Stein in allen Farben des Regenbogens aufleuchtete.

„Woran denkst du?" fragte der ältere Bruder.

„An unseren kleinen Bruder und den langen Weg, den er vor sich hat. An die Gefahren denke ich, die er zu bestehen haben wird — von denen du nicht ahnst, wie wirklich sie sind! Ich hätte ihn zurückhalten sollen. Ich hätte ihn bitten sollen, seinen Entschluß noch eine Nacht zu überschlafen. Eine solche Wanderschaft darf man nicht unvorbereitet antreten. Nichts hat er mitgenommen als ein Stück Brot, das er noch vor Abend verzehrt haben wird! Was hat er davon, daß sein Anteil hier auf ihn wartet.wenn er draußen in der Fremde umkommt."

„Er wird so wenig umkommen wie du — aber vielleicht reicher als du heimkehren."

„Oh, du Prophet! Weil ärmer nicht möglich wäre?"

„Nein: Weil er nichts hat, was er eintauschen könnte. Weil er nichts kaufen kann, wird er auf Geschenke angewiesen sein und beizeiten die Kunst des Dankens erlernen. Er wird durch die Wirklichkeit gehen wie durch einen Traum."

„Ein böser Traum!"

„Möglich. Er hat nichts zu verlieren."

„— als sich selbst."

Der ältere Bruder sah dem jüngeren Bruder fest in die Augen, bis dieser die Lider niederschlug.

„Ein Sohn des Vaters", sagte der jüngere Bruder leise. „Auch er..."

„Für immer!"

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