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Reisende Schicksale

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Ich sitze in der Eisenbahn.

Neben mir einer meiner Freunde, vertieft in ein neuestes Wiener Blatt.

Auch ich hatte bis jetzt gelesen. Aber nun lege ich das Buch beiseite. Ich habe daran kein Vergnügen mehr.

Dann blicke ich um mich.

Das Abteil ist voller Reisender. Junger, alter und solcher mittleren Alters, Einige

Leute sind besser gekleidet, andere weniger gut.

Gott, geht es mir durch den Sinn, von wo sind nur alle diese Leute? Wohin reisen sie? In welcher Angelegenheit?

Wenn man in ihre Herzen, in ihre Köpfe blicken könnte... I Einige von ihnen sind ernst und in Sorge, andere wieder gleichmäßig und nachlässig; die einen träumen mit lächelndem Gesicht still vor sich hin, die anderen hingegen sind vertieft in eine anregende Unterhaltung mit ihren Reisegefährten. Was mag sich nur hinter all diesen Gesichtern verbergen? Welche Gefühle und Gedanken, was für Schmerzen und Sorgen, was für Trauer, was für Freude tragen sie alle mit sich?

Was wäre es, wenn ich mir unvermutet alle diese Herzen öffnetel Wenn alle diese Lippen zu sprechen anfingenl Jeder dieser Reisender ist ein versiegeltes Schicksal, ein lebendiges Rätsel... Ein Menschenleben. Glücklich oder unglücklich? Wer wird mir darauf die Antwort geben? Ich hingegen getraue mich nicht, den einen oder anderen zu fragen. Man soll nicht versuchen, in das Innerste seines Nächsten einzudringen, wenn er sich einem nicht selbst offenbart.

Mein Blick bleibt am Angesicht einer Frau haften.

Sie sitzt etwas abseits mir gegenüber.

Sie mag ihre dreißig Jahre zählen. Ihr Gesicht ist noch jugendlich, aber etwas faltig und von Trauer beschattet. Die grauen Augen blicken unruhig und verängstigt unter den schwarzen Wimpern hervor. Jetzt lehnt sie sich auf den Fensterrand und schaut hinaus; aber dann schreckt sie plötzlich zusammen, läßt die Hände in den Schoß fallen und starrt vor sich hin. Jetzt greift sie nach der Tasche, läßt sie aber sofort wieder los, sie weiß nicht, was sie damit beginnen soll. Bis jetzt hat sie noch kein Wort gesprochen, noch zeigt sie Lust dazu. Manchmal seufzt sie leise ...

In einer Station erhebt sie sich, verneigt sich voller Ernst gegen mich und verläßt den Zug. Diese ihre Vemeigung und ihre Augen, die mich hilfeheischend angeblickt hatten, haben in mir Mitleid für diese unbekannte Frau geweckt. Deshalb lehne Ich mich aus dem Fenster und beginne sie mit den Augen zu begleiten. Sie verläßt die Station und geht auf dem Feldweg dem Dorfe zu. Ich bemerke, wie schwer sie schreitet und wie mühevoll sie Schritt vor Schritt setzt. Ich blicke ihr nach, bis sie meinen Augen entschwindet.

Inzwischen eilt der Zug durch die

Gegend. Ich aber folge der jungen Frau im Geiste weiter. Ich sehe, wie drinnen im Dorfe aus einem strohgedeckten Hause zwei kleine Kinder der Mutter entgegengelaufen kommen. Zwei kleine, blond-zöpfige Mädchen .im Schulalter. .Mama“, sprudel die Kleinere hervor, „was hast du uns mitgebracht? Zuckerln. Schokolade, gelt ja? Und hast du mir auch die rote Schürze gekauft?“

Das größere Mädchen aber nimmt dia Mutter bei der Hand, blickt in ihre Augen, und als sie drinnen die Angst und Trauer sieht, fragt sie nichts, sondern begleitet sie voller Ernst in das Haus.

Das Haus ist beinahe neu, von mittlerer Größe und gelblicher Farbe. Man sieht ihm einen ziemlichen Wohlstand an, wenn auch keinen Reichtum und kein Ubermaß.

Als die Frau, mit den Kindern an den Händen, das Tor öffnet, schlägt ihr sofort eine rohe, ungeduldige Stimme entgegen:

„Na, was hast du in der Stadt verrichtet?“

Das ist ihre Schwiegermutter. Sie steht, dick und rund, ein Mensch, der weiß, wie man gut lebt, mit in die Hüften gespreizten Händen unter dem Vordach da.

Der jungen Frau bleibt in ihrer Angst das Wort im Halse stecken, deshalb will sie an der Schwiegermutter vorbei hinein in das Haus gehen. Sie muß sich vorerst etwas beruhigen, bis sie ihr alles sagen kann.

Aber diese stellt sich drohend vor sie hin und wiederholt ihre Frage:

„Na, was hab ich dich gefragt! Hast du bei diesen Herren etwas erreicht?“

„Nein, nichts!“ stammelt die Junge mühevoll hervor. „Sie sagen, das Gesetz hat für die im Kriege vermißten Männer nur soviel bewilligt. Man kann mir deshalb keine größere Unterstützung gewähren.“

„Sol Und wer wird ihnen diese Kinder, diese Waisen ernähren?“

„Auch dfe Kinderbeihilfe ist in der Summe, die ich erhalte, mitinbegriffen.“

„Ha! Das ganze reicht nicht einmal für das tägliohe Brot der Kinder aus! Und woher das Geld für ihre Bekleidung nehmen?“

„Es sind doch unsere Kinder. Wir werden uns also um sie sorgen müssen wie andere Mütter.“

„Sag nur: meine Kinder, und nicht unsere! Du hast sie in die Welt gesetzt und darum kümmere dich auch um sie.“

„Aber Mutter, sie sind doch auch Kinder Eures Sohnes Mate.“

„Hm, ob sie wirklich ihm gehören ... ? Von der Kleineren könnte ich das nicht sicher behaupten.“

.Um Gottes willen, Mutter, wie sprecht Ihr nur?“ beginnt die junge Frau zu weinen. „Welcher Sünde verdächtigt Ihr mich? Habe ich nicht die ganze Kriegszeit unter Euren Augen gelebt, Tag und Nacht? Ah, daß gerade Ihr mir das sagen mußtet!“

„Na, brüll jetzt nicht so, sonst kommt uns noch das ganze Dorf ins Haus... I Ich hab es ja nicht so gemeint... Aber Mate ist nicht mehr, so fallen die Kinder von nun an dir allein zur Last.“

„Ja, aber Mate hat für Euch gearbeitet. Seine ganze Jugend hat er hier zu Hause bei Euch verbracht.“

„Und auf wessen Boden hat er gearbeitet, na? Auf meinem und des Vaters seinem!“

„Der Vater hat die Hälfte ihm hinterlassen. Dieser Boden gehört den Kindern, falls Mate wirklich nicht mehr zurückkommt.“

„Wer sagt das?“

„Das Gesetz.“

„Eh, was kümmert mich das Gesetz! Und das Gesetz läßt sich auch ändeml“

„Aber, Mutter, um Gottes willen, was wollt Ihr damit sagen?“

„Nur soviel, daß du dir schon morgen dein Bündel packen kannst und zusammen mit deinen gefräßigen Kücken aus meinem Hause gehen mußt.“

„Ich soll mitsamt den Kindern aus diesem Hause gehen ... ? Aber Ihr seid doch die Großmutter der Kinder. Sie sind auch Euer Körper und Euer Blut!“

„Ich habe es dir schon einmal gesagt, daß mich die Kinder jetzt nichts mehr angehen.“

„Wenn aber Mate dennoch zurückkommt und mich hier nicht mehr vorfindet, was dann?“

„Dann wird er sich sein Teil denken. Er kennt dich gut, zu gut...“

„Mutter, Mutter, wieder diese Verdächtigung... I O barmherziger Gott, hilf mir! Nun sehe ich selber ein, daß ich in diesem' Hause nicht bleiben kann ... Ah, du unglückliche Stunde, in der ich die Schwelle dieses Hauses überschritten habe!“ beginnt die unglückliche Frau zu klagen und läuft hinein in das Zimmer, wo sie sich auf das Bett des vermißten Mannes wirft. Die Kinder rennen der Mutter nach und weinen mit ihr... ss-Emige Minuten danach, als die junge Frau unser Abteil verlassen hatte — denn nur zwei, drei Minuten dürfte meine Vision gedauert haben —, legt -lein Gefährte seine Zeitung beiseite und sagt:

„Hast du die Frau uns gegenüber gesehen? Sie ist aus meiner Gemeinde gebürtig, hat aber dann später in dieses Dorf in ein sogenanntes besseres Haus geheiratet. Ihr Mann war irgendein Meister; soviel ich gehört habe, ist er im Kriege vermißt und noch nicht nach Hause zurückgekehrt.“

„Ja“, setzte ich unser Gespräch fort, „und jetzt will ihre Schwiegermutter sie aus dem Hause jagen. Schon morgen muß sie ausziehn . .. Was für gewissenlose Menschen es doch gibt auf der Welt!“

„Wieso weißt du das? Kennst du sie?“

„Nein. Ich habe sie niemals vorher gesehen!“ schreckte ich auf, wie einer, den man bei Worten gefangen hat, die er nicht beweisen kann.

„Und woher weißt du dies alles?“

„Ah... ich kann dir das nicht erklären. Es kam mir so vor. .. oder hab ich nur geträumt... Ich sag dir 'ja, daß ich es nicht weiß.“

Mein Gefährte blickt mich irgendwie seltsam an, dann schweigt er.

Auch ich schwieg.

Der Zug eilte weiter in seinem gleichmäßigen Takt: Tek-tak-tek-tak ... und trug die reisenden Menschen mit sich in die geheimnisvollen bunten Reiche des irdischen Lebens.

Aus dem Kroatischen übersetzt von Franz S u 6 i 6

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