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Digital In Arbeit

IM FIEBER

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Ich bin krank gewesen. Es war nur eine kleine Krankheit. Aber sie hat mir wahlgetan. Ich weiß nicht, wer mir neulich sagte, Krankheit sei die Sünde des Leibes. Ich mußte lächeln. Ich weiß es besser. Sie ist seine,Sühne. Sie kommt ihn hart an. Er wehrt sich gegen sie. Er stößt sie von sich, aber sie ist stärker als er. Er will sie in sich verschließen. Aber sie stürmt durch seine Adern. Sie fiebert aus ihm heraus. Überwältigt,; bezwungen liegt er da und leidet, duldet, sühnt.

Immer, wenn ich krank liege, bin ich in einer heimlichen Weise glücklich. Wie leicht wird das Leben nachher sein, denke ich, und vergesse, wie schwer es jetat ist. Und dann ist da noch etwas, das ich werthalte: ich habe Zeit. Anfangs freilich,, des Morgens, wenn ich erwache, die -Mundhöhle voll eines schalen Geschmacks, die Stirn heiß und trocken, die Augäpfel schwer wie aus Stein und kalt und im Rücken eiii. huschendes Frösteln, anfangs, noch ganz gebunden in die Gesetze von Pflicht und Tag, denke ich, daß es nicht möglich sei, einfach nicht aufzu-stehen. Ich hebe den Kopf. Aber ich fühle, er -ist zu schwer. Hilfreich eilt die Hand herbei. Müde sinkt er iin ihre Rundung. Sie ist feucht und friert. Und nun, da ich. tief. ayfatme, breitet in meinem Innern der Schmer? die Schwingen aus. Der feine Flaum der Lungenflügel stößt sich an den rauhen Panzerwänden des Leibes. Ich sinke zurück.

Ich schließe die Augen. Was wird geschehen? Ich sehe alles vor mir: di’ė.”Straße, die umsonst auf meine Tritte warten wird; die Vögel, die sich enttäuscht in alle Äste zerstreuen werden, wenn ich nicht komme, ihnen ihr morgendliches Futter zu -streuen, die spiegelnden Fenster der Läden, in denen icfe gewohnt .bin, mein voibeieilendes Bild zu suchen und zu -finden, und; insbesondere der große, aus der Tiefe blitzende Spiegel in dem Laden des Friseurs mit der Uhr darüber,-Er lädt mich ein zu verweilen, -indes sie midi antreibt Sveiieraujgehen. .jeden Morgen sind sie für midi ein Symbol des Lebens. Und dann der Schreibtisch, der auf mich wartet in der von mir gewollt-en geheiligten Unordnung. Der Stuhl, der ,mit freundlich geöffneten Armen meiner harrt. Und die Arbeit! Wer wird sie tun, wenn ich sie nicht tue? Und wie als Kind, wenn ich unwillig war, mein liebes Bett zu verlassen, summe ich mir das Lied zu, mit dem meine alte Kinderfrau mich lockte: Auf, auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd, in den Kampf, in die Freiheit gezogen…

Ich setze mich auf. Aiber da die Decke von meinen Schultern gleitet, die kühle Luft des Zimmers mich an sich preßt, wende ich mir erst meines ganzen Jammers bewußt. Wozu Kampf?: Wozu Freiheit? Ruhe, o nichts wie Ruhe. Völlig besiegt falle ich zurück in die gütigen Kissen. Die Straße wird mich nicht vermissen. Und die Vögel? Vielleicht kommt ein freundlicher Fremder, sie zu atzen. Und was den Spiegel betrifft, warum hängt die Uhr über ihm? Schon lange hat es mich geärgert, daß sie mir heimtückisch den Genuß meines eigenen Bildes vergütet und verwehrt. Die Zeit. Immer ist es höchste Zeit, immer ist es zu spät. Ich dehne mich. Ich schließe die Augen. Eine Welle von Wärme strömt durch meinen Körper. Die Arbeit, ach, dis Arbeit! Wer wird sie machen, wierm ich gestorben bin? Der, der eie machte, bevor ich geboren war? Oder ein anderer, der erst geboren wird?

Ja, es hat Jahre gegeben, da ich noch nichts von Arbeit wußte, da ich immer Zeit hatte. Wie klein ich damals war, wie wissend, wie frei und sicher. Und jetzit, da ich groß bin, wie bin ich töricht und zweifelnd und gebunden. Kommt es daher, daß das Leben ein Gefängnis ist, ein Haus aus Giittem, durch die wir hdndurchschlüpfen, solange wir klein sind, und die uns festhaiten, sobald wir erwachsen sind? Oder liegt der Grund in uns? Warum wünschen wir vorwärtszukommen? Warum, mächtig zu sein und einflußreich? Warum, au gefallen? Weil jeder es wünscht? Weil es der Sinn des Lebens ist? Warum wünsche ich nicht, zu mir selbst zu kommen, meiner selbst mächtig zu sein, guten Einflüssen zu gehorchen? Ach, ich fühle es, ich weiß es hier, vom leichten Fieber geschaukelt, daß ich ein falsches Leben führe, daß jeder Schritt, den ich auf diesem Wege weitergehe, mich vor mir selbst entfernt, von dem Sinn meines Daseins, von der Pflicht gegen mich. Denn es gibt nur diese eine Pflicht: gegen sich selbst, nur den einen Weg: ziu sich selbst, nur den einen Sinn: sich selbst au erfüllen. Wann werde ich umkehren?

Ich liege in meinem Bett. Ich blicke empor in das Weiß der Decke. Ich lasse meinen Blick herabgleiten über die Blumen an der Wand. Wie viele Blumen! Die eine neigt sich nach rechts, die andere nach links. Hier ist eine halb entblättert’. Hier ist eine noch nicht eiblüht Und dies alles kehrt wieder. Recht und links, Frühling, Herbst, immer wieder. Früher einmal, vor vielen Jahren, hat iin solchen Blütenkelchen der Blumenkönig gewohnt und die Blumenkönigin, und abends, vor dem Einschlafen, sind sie erschienen. Aus den Kelchen sind sie emporgestiegen und haben sich heimlich und höfisch verneigt und manches Mal gelächedt. Damals war die Wand noch keine Wand. Und das Laben war bunt und wunderbar wie der Schlaf. Wohin sind sie entwichen? Wer hat sie fortgetrieben? Ich fühle im Genick die kalte, starre Hand. Mich schaudert. Wieviel habe ich verloren. Um wieviel habe ich mich gebracht! Und was -habe ich dafür gewonnen?

Ich habe versprochen, heute zu Bekannten zu gehen. Man wird umsonst auf mich warten. Ich hätte dort plaudern sollen, man wünschte, daß ich etwas erzähle von dem, was ich .erlebt habe. Als ob wir alles nur erlebten, damit wir es erzählen, damit wir anderen damit die Zeit vertreiben können. Ich hatte’ mir bereits zurechtgelegt, wie ich das, was mir beinahe das Herz zerrissen -hat, wie ich meinen geheimen Schmerz in Worte fassen sollte, daß er niemanden weh tut, daß er jedem gefällt. Und nun werde ich hier liegen. Sie werden mich vermissen. Glühende Hitze weht mich an. Wie werde ich sie verständigen? Allein liege ich da, einsam, verlassen. Aber vielleicht werden, sie mich gar nicht vermissen. Vielleicht wird eine Dame sich erhöben und eine Arie singen. Oder man wird tanzen. Tanzen ist eine so herrliche Auskunft für Menschen, die einander zu wenig oder zu viel zu sagen haben. Und ich darf meinen Schmerz für mich behalten.

Nun habe ich lange gehustet. Niemand hat es gehört. Niemand ist gekommen, mir die Hand auf die Stirn zu legen. Niemand hat mir ein Kissen in den Rücken geschoben, damit ich besser Luft bekomme. Und welchen Namen ich auch rufe: Mama, Anna oder Lisi, keiner ist zauberkräftig -genug, die Entflohenen, die Entfernten herzuholen. Und doch wohnt noch immer Zauberkraft in ihnen, die Zauberkraft der Erinnerung. Die Tür geht auf. Und mit der leisen, dunklen Ruhe, die wie sanfter Hauch an mein Bett weht, schwebt Mama -ins Zimmer. Ihre Augen sind groß und ernst, aber mit dem Mund lächelt sie. Nun tritt sie heran, hebt die Hand. Aber es ist, als fiele ihr etwas ein. Sie wendet den Kopf. Aiina ist eingetreten. Anna in ihrer derben, freundlichen Art stapft ins Zimmer und, ohne midi recht anzuschauen, sagt sie etwas von Artigsein, besser werden und nennt den Namen einer Lieblingsspeise. „Wie, die magst du nicht?” fragt sie ganz erstaunt, weil ich den Kopf schüttle. Und dann murmelt sie halb erschrocken, halb gekränkt: „Wenn er die nicht einmal mag. muß er ernstlich krank sein.” Doch ehe sie noch verschwunden ist, -unter der Tür verwandelt sie sich in Lisi. Lisi ln dem dunklen Kleid mit der weißen Schürze. Die dumme Lisi mit den dicken blonden Zöpfen, die in der Sommerfrische auf Spaziergängen ein paar französische Worte radebrechte, wenn Fremde vorübergingen, und deren höchster Stolz es war, für ein Fräulein gehalten zu werden. Sie steht mich an und lächelt. „Wie groß Sie geworden sind”, sagt sie. „Aber krank -sind Sie noch immer und verwöhnt sind Sie auch noch.” (Oh, Lisi konnte in aller Ruhe un angenehme Wahrheiten sagen. Vielleicht war sie gar nicht so dumm, aber das denke Ich erst jetzit.) Lisi, Anna, Mama! Die Epochen haben ihre großen Gestalten und ihre großen Kriege: Alexander, Cäsar, Napoleon, die Schlacht von Cannae und die Schlacht bei Waterloo. Mein Leben hatte drei Frauen. Sie haben mich geliebt, jede in ihrer Art, selbstlos, ohne Wunsch nach Gegenliebe. Und mit einmal weiß ich, was unsere Kindheit so reich macht: daß wir geliebt werden, nur weil wir da sind, ,däß wir geliebt werden, ohne darum kämpfen zu müssen.

Das Fieber schaukelt mich hin und her. Ich muß eingeschlafen sein. Ich habe geträumt. Ich habe geträumt, daß mein Leben so war wie es sein sollte: schön und rein und durchsichtig wie das Leben eines Kindes. Es war ein so beglückender Traum. Und ich weiß nicht, warum mein Kissen naß ist von Tränen und warum ich mich alt fühle und befleckt und häßlich. Vielleicht ist Krankheit doch mehr als Sühne des Leibes? Vielleicht ist sie für Geist und Seele Abbild und Lehre ihrer Verfehlungen? Vielleicht ist sie Rauch des Feuers, das tödlich und still unser Inneres verzehrt?

Doch als ich drei Tage später wieder aufstand, ging ich hinaus in mein tägliches Leben, hinaus in das, was wir Kampf ums Dasein nennen, hatte alles vergessen und war nicht klüger als zuvor.

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