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Einiges liter Radecki

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Ein Vorfahre von ihm war 1570 Kanzler des Herzogs von Teschen; dagegen waren seine mütterlichen Vorfahren Bürgermeister der kleinen Hansestadt Wolgast. Da das Quellgebiet der Oder bei Teschen liegt, Wolgast jedoch vor deren Mündung, so kann man Radecki mit Fug als einen Odermenschen bezeichnen. Dies äußert sich darin, daß er fast allem, was behauptet wird, sein Oder entgegensetzt, meist sogar sein „Oder auch nicht… , wodurch er in den Ruf eines streitlustigen Menschen geraten ist. Geboren wurde er in Riga am Totlebenboulevard: das Hintergäßchen des Hauses hieß „Der Katzensprung . Als er mit drei Jahren zum erstenmal das Meer sah, lief er voll Entzücken sogleich hinein, so daß sein Kindermädchen ihn gerade noch im letzten Moment, als die Geschichte schon bis an den Mund ging, herausholen konnte. Als er, sechsjährig, Russisch lernte, diktierte ihm die Lehrerin in der ersten Stunde: „Mucha mali , das heißt „Die Fliege ist klein“, was er sich fürs ganze Leben als eine der tiefsten Wahrheiten gemerkt hat. Die Mittelschule besuchte er in Petersburg und wurde 1905 als japanischer Spion verhaftet, weil er im Hafen einen Dreimaster, der Kolophonium geladen hatte, photographierte. Diese Verhaftung dauerte anderthalb Stunden und gab dem Knäbchen ein erhöhtes Selbstgefühl. Radeckis dichterische Interessen zeigten sich bereits • früh darin, daß er sich eigene Worte ausdachte, die er dann triumphierend vor den Geschwistern aussprach, da niemand deren Sinn kannte, nicht einmal er selber. Mit siebzehn Jahren hatte er maturiert und wählte als Studium Bergbau; wahrscheinlich weil er noch nie ein Bergwerk gesehen hatte. Hier muß gesagt werden, daß Radecki kaum je in seinem Leben Hoffnungen oder Zukunftspläne gehegt hat; er machte sich darob keiner- , lei Gedanken und sprang gemächlich über die Lebenshürden, weil sie halt quer vor der Bahn lagen. Sechs Wochen vor dem Schlußexamen als Bergmann setzte er sich an die Arbeit, weil er bis dahin stets erst um ein Uhr mittags aufgewacht war.

Nach dem Examen erzählte ihm sein Zimmernachbar, wie er der gemeinsamen Vermieterin davon Kunde gegeben. Sie, die vier Jahre lang Radeckis Faulheit zugesehen hatte, erwartete mit Sicherheit dessen Durchfallen. Auf die Nachricht: „Nein, er hat bestanden“, schlug sie die Hände überm Kopf zusammen, und eine Weltordnung ging ihr in Trümmer.

Dann kam er als Bewässerungsingenieur nach Turkestan, wurde von einer Malariamücke gestochen und bekam bei 56 Grad im Schatten die schönsten Frostschauer, so daß seine Kollegen ihn geradezu beneideten. Mittlerweile war der erste Weltkrieg ausgebrochen, und unser Mann fuhr nach Kiew, um sich als Freiwilliger zu melden. Dort aber hatte man zu viele davon und schickte ihn weg. Als Radecki 1918 auf einem Eisbrecher von Helsingfors nach Reval kam, meldete er sich wiederum als Freiwilliger — jetzt bei den Deutschen. Doch die waren gerade beim Packen und Abfahren. So meldete er sich schließlich bei der Stoßtruppe der Baltischen Landeswehr und kam auch bald in ein Gefecht, wo sein kleines Häuflein nachts, im Schneewalde, umzingelt wurde. Beim eiligen Durchschlüpfen durch diesen Ring riet ihm einer, doch den Tornister wegzuwerfen — allein Radecki tat es nicht, weil er dort „Pro domo et mundo“ von Karl Kraus verstaut hatte. Da er sich die Kniescheiben erfroren hatte, kam er per Lazarettzug nach Königsberg, wo die Invaliden per Lastauto durch eine Triumphpforte „Willkommen unsern tapferen Helden!“ hindurchfuhren, was den Betreffenden ein Grinsen abnötigte. Sie wußten nicht, daß damit eigentlich die Heimkehrenden aus Frankreich gemeint waren. Schließlich kam die Baltische Landeswehr unter das Kommando des damaligen Obersten und jetzigen englischen Feldmarschalls Alexander, der sie „my army of gentlemen nannte.

Endlich arbeitete Radecki als Elektroingenieur bei Siemens-Schuckert in Berlin, wo er sich eine kleine Jazzband im Büro einrichtete, deren Produktionen von den anderen Abteilungen begierig per Haustelephon abgehört wurden. Inzwischen lernte er Karl Kraus persönlich kennen, dessen Schriften er bereits seit acht Jahren fast auswendig wußte. Diese Berührung wurde entscheidend für Radeckis weiteres Leben, welches er, dank ihr, jetzt rückschauend als ein glückliches bezeichnen kann. Er wurde Übersetzer von Gogols Werken und fuhr nach Wien, wo er mit Karl Kraus zwei Jahre lang fast jeden Abend zusammen war — eine Zeit, die seine eigentliche Hochschule gewesen ist.

So wurde er ganz von selbst Schriftsteller. Dieser Beruf kann für den Menschen wertvoll oder schädlich sein, je nachdem. Schädlich, wenn die Worte sich dabei immer mehr abnützen: der Mensch schreibt sich den geistigen Tod. Wertvoll jedoch, wenn man sich mit der Sprache Mühe gibt — da lernt man durch das tägliche Formulieren und Sidiklarwerden die größte Menschenlust, nämlich das Denken. Einem so Beflissenen löst sich das Problem von Arbeit und Freude von selbst: „Und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen — nämlich köstlich, w e i l Mühe! Schon aus der Physikstunde sollte geläufig sein, daß man ohne Reibung nicht gehen kann.

Des weiteren wäre zu berichten, daß er drei Jahre Schauspieler war, daß er eine Ausstellung von 62 Porträtzeichnungen veranstaltete, und außerdem, daß er 1931 katholisch wurde. Diesen Schritt — wohl den vernünftigsten, den er je getan — verdankte er dem Studium von Newmans „Developement of Christian Doctrine . Radecki erkannte, daß nur das Christentum für die beiden ihm wichtigsten Dinge, nämlich Wort und Geschlecht, die tiefste, die wahre Erklärung hat.

Die Nazizeit war ihm ein Beispiel dafür, wie etwas, das in seinem Wesen entsetzlich ist, zugleich komisch sein kann. Man wußte sich kaum zu retten — teils vor der Gestapo, teils vor Lachen. Radecki kam aus dem zwölfjährigen Massenwahnsinn mit einem Granatsplitter davon, der ihm zwar das ganze Bein aufriß, aber merkwürdigerweise gar nicht schmerzte. Seitdem lebt er in der Schweiz, weil die Luft in den Bergen reiner ist. — Er hat bis jetzt zwanzig Bücher geschrieben. Seine Liebhabereien sind Segeln, Jagd und Kalligraphie daran ein Ärgernis. Es geht nämlich keinen etwas an. So ist es eigentlich mit allem, was gepredigt wird. Man fragt sich: Gibt es das wirklich? Stimmt das Christentum die Menschen wirklich versöhnlich, verwandelt es die Geschäfte, die Politik, hat es einen Einfluß auf die kranke Seele der Menschen?

Und so sagte ich: „Würdest du ein anderer sein, wenn du kein Christ wärst?“

Albert gab zurück, das gehöre nicht zum Thema. Seine Stirn rötete sich, und er ließ Asche auf den Boden fallen.

Aber dann ging er zum Gegenangriff über. Ich glaube ja selber an Wahrheit und Recht als die ewigen Grundsätze. Damit seien die Grenzen gesprengt gegen die Welt des Wunders hin, die Grenzen, die uns trennen von dem, was jenseits liegt von Zeit und Raum. Trotzdem wolle ich nicht an die christlichen Wundertaten glauben. Somit habe ich selber meinen Wunderglauben eingeschränkt, nur noch viel rücksichtsloser als er. Ich erinnerte ihn daran, daß ich nicht zu den Lehrern Israels gehöre. Ich presse die Lippen aufeinander beim Glaubensbekenntnis. Ich halte keine Predigten über die Verkündigung, nicht einmal über Mutterschaft. Ich.,.

„…danke dir, Gott, daß ich nicht bin Wie die anderen Leute“, ergänzte Albert, wie die frommen Weiber in der Kirche.“

Ich schwieg, wußte nicht, was ich antworten sollte. Natürlich hat er recht, daß ich mich auf diese Weise zum Richter über ihn setze. Aber ich tue das ja, um aus einer lebensgefährlichen Lage zu entkommen. Das ist Notwehr, überdies habe ich ja keinen Anspruch darauf erhoben, irgend etwas zu sein. Ich trage kein christliches Abzeichen auf meiner Brust. Ich behaupte nicht einmal, ein ehrlicher Mensch zu sein. Wenn ich das auch gerne wäre.

Aber nach einer Weile fragte ich Albert, was ihn denn eigentlich daran hindere, an die Unbefleckte Empfängnis zu glauben. Falls es nicht nur deshalb sei, weil moderne Menschen es für unanständig halten, daran zu glauben. Denn das naturwissenschaftliche Weltbild hat er ja längst durchbrochen, indem er zum Beispiel an die Erhörung des Gebetes glaubte, mochte er nun wirklich daran glauben oder nicht.

Ich wartete nicht auf 6eine Antwort, denn plötzlich kam mir ein Gedanke. Und so sagte ich ihm, daß es vielleicht nichts anderes sei als ein Stück ganz ausgewachsener maskuliner Überheblichkeit, wenn so viele Prediger zweifeln an den Worten, die Gabriel zu Maria sagte, und erklären, sie seien unnötig gewesen. Sie können offenbar nicht vertragen, daß Gott die Eva aufrichtete, der die Männer seit Jahrtausenden die Schuld an allen Sündenfällen aufgebürdet haben. Im übrigen war es eine kostspielige Aufrichtung. Man denke sich, wenn es wahr sein sollte, was da geschrieben steht I Schwanger werden durch ein Wunder … wenn mir das passiert wäre…

„Lästere nicht“, sagte Albert.

„Du hast kein Recht, von Lästerung zu reden, du, der nicht daran glaubt. Ihr wollt nie etwas hören von Realitäten, ihr Theologen, denn entweder sagt ihr, daß sie nichts zu bedeuten haben oder daß ihr nicht daran glauben könnt, oder auch, daß es Gotteslästerung ist, sie zur Prüfung vorzunehmen. Aber stell dir einen Augenblick vor, Albert, es sei hier und jetzt geschehen, in Zeit und Raum. Und ich sei es gewesen, die schwanger wurde durch ein Wunder.“

Hier versagte mir die Stimme. Wie ein Messerstich durchfuhr es mich, als ich das sagte. Weshalb? Ich nahm mir nicht Zeit, danach zu forschen. „Was meinst du, was sie daheim gesagt hätten?“ fuhr ich fort. „Wenn ich gewohnt hätte bei Vater und Mutter — wie sie. Und mein Zukünftiger, als er entdeckte, wie es um mich stand? Reden wir gar nicht von der Klatschbase Karlson und den grinsenden Burschen am Straßenrand! Herzukommen und zu erzählen, man sei schwanger geworden durch ein Wunder — auch ganz brave Leute hätten die Köpfe geschüttelt und gesagt, das sei natürlich eine Ausrede, gefunden vielleicht in geistiger Verwirrung oder in wahnwitziger Verzweiflung, aber immerhin eine Ausrede. Die Welt glaubt nicht an Wunder, das weiß ich am besten, denn ich bin ja ein Weltkind.

Und so komme ich zu einem Pastor. Hier kommt die Frau die Gottes Sohn in ihrem Schoß trägt, sie läutet an der Tür und fragt, ob Pastor Svensson daheim ist. Und so empfängst du sie, Albert, da drin in deiner Kanzlei. Ich darf mich in den sachlichen Sessel dem Tisch gegenüber setzen, und… du nimmst Platz mir gegenüber auf deinem beweglichen Schreibtischstuhl. Wäre ich nun, sagen wir, eine Studentin, so würdest du mir eine Zigarre anbieten, aber jetzt siehst du, daß ich eine Häuslertochter oben von Forsby bin. Du denkst an deine Statistik über uneheliche Kinder, überlegst, daß sie heuer schon recht überlastet ist, und bereitest dich darauf vor,’ daß ich dich bitten werde, mit mir den Kindesvater dingfest zu machen, der nichts mit uns zu tun haben will.

Aber ich blicke auf dich mit frohem Vertrauen, denn ich denke, daß du mich verstehen wirst, du, der du ein Priester bist. Und so sage ich, daß ich Besuch gehabt habe von einem Engel. Du denkst: Aha, sie ist eine überspannte. Aber du sagst nichts, sondern tust, als verständest du, denn du willst meinen Kinderglauben nicht mit Kleinigkeiten stören.

So erzähle ich also… das andere, das über allen Verstand geht. Du aber siehst mich an, und in deinen Augen sitzt die Psychoanalyse. Du fragst ein wenig, und so nach und nach versuchst du, aus mir herauszubringen, wie es nun .eigentlich’, .tatsächlich’ und .wenn alles zusammenkommt’ zugegangen fst, daß ich schwanger geworden bin. Ich fange an, midi zu fürchten: denk, wenn nicht einmal ein Priester … Aber dann erinnere ich mich, daß ich es ja selber nicht fassen konnte, als Gabriel mir erzählte, ich solle durch ein Wunder einen Sohn gebären. Darum versuche ich, dir zu erzählen, daß es Gott gefallen habe, durch mich unbedeutendes Geschöpf der Welt einen Sohn zu senden. Wie die Welt ist, sage ich, muß vielleicht ein Wunder geschehen, wenn er einer von uns werden soll. Aber du sagst, daß nur ein geistiges Wunder geschehen kann, wenn es Gott gefällt, seinen Sohn in die Welt zu schicken. Und dann hältst du mir eine schöne Rede über die Mutterschaft. Aber ich bekomme keine Antwort auf meine Fragen, keine Heilstat für mein Geheimnis. Ich sehe dein rationalistisches Kontor an, sehe es blinken von Stahl, Lack, Firnis und sachlicher Pfiffigkeit, und denke mir, daß diese Welt wohl nicht gleichzeitig Platz haben kann für Engel und für diese Karteikästen. Es geschehen, wohl keine Wunder in einem Land, wo die Priester nur schwarzblanke Büroröcke tragen. Und so werde ich verlassen von meinem eigenen Glauben. Es ist wohl so, wie der Pfarrer sagt. Und stehe auf, um zu gehen.“

Ich stand wirklich auf. Ich neigte den Kopf ein wenig gegen ihn und machte einige Schritte hin zur Tür. Das war kein Spiel, und das war auch kein Wahnsinn. Ich hielt mich für die Jungfrau Maria, eine unsagbar arme und sachliche Gegenwarts- Maria auf dem Weg zu einem Sozialberater. An der Tür fühlte ich des Kindes Kraft in meinem Leib und dachte: Soll ich denn doch spüren, wie es ist, schwanger zu sein? Doch da zersprang der Zauber, und der Riß fuhr nieder bis auf den Grund der platten Wirklichkeit. Gegen die Tür gelehnt stand ich und weinte, als sollte mein Körper zerreißen. Und Albert saß noch am Kaffeetisch. Bleich war er und sah auf mich mit Entsetzen. Seine Stirne rann in Schweiß. Schließlich murmelte er: „Du verstehst doch, ich kann nichts dagegen tun — ich kann es nicht glauben…“ Da aber war es ganz in mir zu Ende, und ich schrie ihn an: „So sag es doch, du, sag es doch, daß alle es hören können…“

Dann sprang ich fort von ihm, hinauf in die Schlafkammer, warf mich aufs Bett. Was war ich nur so erregt?

Ich fange an zu begreifen, daß nicht der Glaube das schlimmste ist für den Skeptiker, sondern die selbstverständliche Gleichgültigkeit. Furchtbar ist es, zu zweifeln, wenn es keinen richtigen Glauben gibt, an dem man zweifeln kann, nur schöne Redensarten. Wer hat in dir leben dürfen, du Zeit mit klaren Farben, da die Menschen noch an Engel und Teufel glaubten!

Verlag der „Frankfurter Hefte“, Frankfurt

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