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Einer Ian J Jen Weg

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Die Versammlung fand in einem Festsaal statt, den ich schon von früher kannte. Das große düstere Lokal war in Grün und Rot gehalten. Vorn stand eine Bühne. Dahinter hatte man ein Filmlinnen aufgespannt. Elektrische Lampen mit emaillierten Schirmen hingen an der gewölbten Decke und nahmen sich aus wie leuchtende Spinnen. Der Saal war zum größten Teil mit jungen Mädeln und Burschen gefüllt.

Diese französischen Versammlungen beginnen regelmäßig mit Komplimenten des Präsidenten an die Sekretäre und der Sekretäre an den Präsidenten. So ging es auch hier. Das war nicht gerade hinreißend. Dann stieg ein Kommunist auf die Bühne und wetterte gehörig gegen die Ungerechtigkeit, die auf der einen Seite Arbeiter und auf der anderen Unternehmer schafft, die den einen dazu verdammt, sein ganzes Leben lang zu schuften, sich einzuschränken, dahinzuvegetieren, und die den anderen dazu bestimmt, zu befehlen, in Luxus zu leben und sich zwischenhinein mit angenehmen und zweckmäßigen Dingen zu beschäftigen. Das saß. Ich klatschte Beifall. Hier fand ich meine eigenen Gedankengänge: die ganze Auflehnung gegen die Reichen, gegen die Arbeitslosigkeit, gegen das freudlose Krampfen, gegen die Tyrannei des Arbeitgebers, gegen Polizei und Staat und gegen alles.. . Dieser Kerl hatte recht.

Darauf erhob sich ein junger Mann von ungefähr dreißig Jahren. Ich verstand seinen Namen nicht und hörte nur munkeln, er sei selbst Arbeiter gewesen und eigens von Belgien herübergekommen, um die Versammlung zu leiten.

Er nahm die Gedanken des Kommunisten auf und sprach sie im einzelnen durch. Dann legte er dar, warum ein rein politisches Ideal dem Menschen nicht genügen könne. Ich höre ihn jetzt noch, wie er uns vertraulich und kameradschaftlich auseinandersetzte:

„Sozialismus, Kommunismus, Faschismus, was wollen die? Was findet man schließlich dort? Entweder Ueberheblichkeit und Herrschaft einer Rasse über die andere. Oder materiellen Fortschritt, Bequemlichkeit, Geld. Man kämpft letztlich dort überall, um besser zu essen, um besser zu leben. Geld, das ist schon recht. Man braucht Geld, denn wenn der Mensch keines hat, dann redet er sich ein: ,Mir fehlt nur das Geld, sonst nichts’, und er sucht nichts anderes mehr. Man muß Geld haben, weil man ohne Geld nicht auskommt. Und weil man nur so einsieht, daß Geld allein nicht genügt, und daß man auch unglücklich sein kann mit Geld. Es braucht eben noch etwas anderes, und das bringen w i r.

Ich weiß, es gibt unter den Revolutionären feine Kerle. Kerle, die ihre Haut hergeben. Ehrliche Menschen, die sich bis zum letzten opfern. Das Schöne dabei ist aber nicht ihr Ideal, sondern die Bereitschaft, sich für ein Ideal hinzuopfern. Großartig ist die H i n- g a b e, nicht die Sache, für die sie sich hingeben. Denn Geld und Bequemlichkeit hat man doch nach dem Krieg gehabt. Und was war die Folge? Lumperei, Alkohol, Tanz über Tanz, freie Liebe, Ehebruch, Ehescheidung, allgemeiner sittlicher Zerfall... Wir, wir bringen dem Arbeiter das, was ihm wirklich fehlt. Was er sucht, ohne es zu wissen. Wir bringen das, was er mit Geld anschaffen möchte und mit Geld doch nicht bekommt: Sauberkeit, ein Lebensziel, etwas, das ihn in die Höhe bringt. Nehmt einmal an, die Revolutionäre erreichen, was sie wollen, und geben, was sie versprechen. Dann ist die ganze Welt glücklich und hat Geld zum Hinauswerfen!!!... Was würde in diesem Augenblick aus unseren Revolutionären? Ziellos stünden sie da, mit leeren Händen ... ganz sinnlos würden sie sich vorkommen .. . .Wir aber hätten mit unserem Ideal mehr denn je unsere Daseinsberechtigung!“

Darauf legte er das Programm der christlichen Jungarbeiter vor.

Ich weiß nicht mehr genau, was er uns sagte. Einiges jedoch habe ich behalten. Ganze Sätze warf er hin, die mir noch neu waren, die wie gemacht schienen, um mich zu packen, um mich aufzurütteln.

„Die jungen Arbeiter sind weder Maschinen noch Lasttiere! Jesus Christus wollte Arbeiter sein. Er hat sich die Hände zerschunden beim Nageln der Bretter, beim Zimmern ... Wenn Gott will, daß man mit der Hand arbeitet, dann deshalb, weil man sein Heil mit den eigenen Händen verdienen soll. .. Die Arbeit der Hände ist ein richtiges Gebet, die Werkbank ist der Altar... Der Arbeiter hat ebensowenig wie der Reiche zwei Bestimmungen: hier krampfen, dort beten. Es gibt nur eine Bestimmung: durch alles Tun und Schaffen die Größe Gottes verherrlichen, vor allem durch die Arbeit der Hände . ..

Die Arbeit sollte somit für den Menschen das Mittel zur Heiligung sein. Aber was sieht man in unseren Werkstätten, in unseren Fabriken, überall? Elend und Leid, Ausschweifung und Verderbnis der Seelen. Und das ausgerechnet bei der Arbeit, die heiligen sollte ... Von der Schule an hilft alles mit, den Menschen zu degradieren: Fabrik, Wohnung, Vergnügungsorte, Lektüre, Schauspiele, alles, selbst das Spital. Der heutige Arbeiter ist Götzen ausgeliefert: dem Staat, der Gesellschaft, der Industrie, dem Fortschritt, dem Kapitalismus, dem Bolschewismus, dem Faschismus ... Aber das Heil eines einzigen Arbeiterseele ist mehr wert als alle Maschinen, alle Banken und Börsen, mehr als alle Armeen und Zivilisationen. All das sollte dem Menschen dienen. Das ist das christliche Programm.

Man muß die Menschen an ihre Würde erinnern. Als verantwortliche, unsterbliche Menschen sind sie geschaffen, um sich selbst in die Höhe zu bringen. Es ist die Aufgabe der christlichen Arbeiterjugend — der JOC, wie er sagte —, diese Eroberung zu beginnen. Aber wie? Indem sie sich um diese armen Menschen kümmert und sich ganz für sie einsetzt. Die Unterdrückten haben sich damit abgefunden, sich selbst als Tiere und Menschen zu betrachten. Sie müssen die Größe ihrer Bestimmung wieder kennenlernen. Liebe, Hingabe und Opfer von uns Jungarbeitern müssen so groß sein, daß diese Menschen aus dem Staunen nicht herauskommen. Innerlich müssen sie dadurch gepackt werden und sich endlich sagen:

,Ich bin etwas wert, denn diese Menschenkinder sind bereit, für mich ihr Letztes her- zugeben.

,Das ist die Sendung der JOC, der christlichen Jungarbeiterschaft. Diese Sendung bringt sie den Jungen, die zu ihr kommen. Euch allen, wenn ihr wollt. Die JOC will das werktätige Volk zurückerobern und ihm wirklich helfen, indem sie ihm die Gewißheit gibt: es steht jemand tatkräftig und mit dem ganzen Herzen für dieses Volk ein. Zusammengefaßt: Die JOC will euch die Möglichkeit geben, in unseren Straßen, in unseren Fabriken, in unseren Städten des 20. Jahrhunderts das Wagnis Christi neu zu verwirklichen!“

Es setzte ein gewaltiges Klatschen ein, als dieser Mann seine Ansprache abbrach. Ich konnte die Hände nicht rühren. Mir schien es fast taktlos, nach solchen Worten zu klatschen. Man klatscht zu einem Theaterstück, aber nicht zu Dingen, die auf einen Schlag ein ganzes Leben ändern können.

Ich war noch ganz überwältigt, als die elektrischen Lampen auslöschten und die Silhouette von Buster Keaton auf der weißen Leinwand erschien, groß, alltäglich, gemütlich. Um mich herum lachten sie schon. Ich wurde mitgerissen und vergaß alles, auch x-rriich — wenigstens für eine Stunde.

Ich ging mit den letzten hinaus. Im Hof, wo ich mein Fahrrad aus einer schlecht be-leuchteten Halle nahm, begegnete ich dem festen Burschen, der mir in der Früh die Einladung in die Hand gedrückt hatte. Er schaute mich scharf an und meinte:

— Ich habe dich schon irgendwo gesehen.

— Ja, sagte ich.

— Heute früh, nicht?

— Stimmt.

— Also, du bist gekommen?

— Ja, ich bin gekommen. ..

— Hat es dir gefallen?

— Ja, es war interessant...

— Es ist immer interessant bei uns.

Wir schritten miteinander hinaus. Es mag neun Uhr gewesen sein. Die Nacht war finster, die Straßen schon verlassen. Wir gingen zur Lannoystraße. Unter einer Gaslampe blieb er stehen und bot mir eine Zigarette an. Wir gingen schweigend weiter. Plötzlich sagte er:

— Du hast Buster gesehen, wie er seinen Revolver in die Hosentasche steckte, und wie das Ding von selbst losging, und wie er bei jedem Schuß in die Höhe fuhr?

— Ja, das war komisch . ..

Wir schwiegen wieder. Ich wollte eigentlich noch etwas sagen, hatte aber Hemmungen. Endlich entschloß ich mich doch und bemerkte mit großer Anstrengung:

— Und als der Arbeiter seine Rede hielt, das war auch fein ...

Da bheb der Bursche stehen und schaute mich an:

— So?

Ich verstand, daß er nicht selbst damit anfangen wollte, und war ihm dankbar für seine Zurückhaltung.

— Ja, begann ich wieder, es war großartig .. .

— Du bist noch nie bei uns gewesen?

— Nein, noch nie. Und der war wirklich einmal Arbeiter? Und es gibt auch junge Arbeiter, die da mitmachen?

— Natürlich.

— Du arbeitest auch?

— Ich bin Handlanger.

— Wo denn?

— Bei Gilson, in der Spinnerei.

— Und du gehörst zu diesen Jungarbeitern, zu dieser JOC?

— Ja, sagte er mit bescheidenem Stolz, ich gehöre dazu.

Ich betrachtete ihn von der Seite, während er neben mir im Schatten daherschritt. Man sah ihm den Arbeiter an. Sein schwerer Gang, seine Art, das Rad einhändig in der Mitte der Lenkstange zu stoßen, alles deutete auf den Arbeiter.

— Ich hätte so etwas nie geglaubt, fuhr ich fort.

— Was denn?

— Daß man so zum Arbeiter sprechen kann, mit einem solchen Vertrauen zu ihm. Eure JOC ist recht.

— Würde sie dich denn interessieren?

— Man kann ja mal sehen ...

Er sagte nichts mehr. Im Grunde genommen war es sehr geschickt, mich sprechen zu lassen. Zweifellos hatte er Erfahrung in solchen Aussprachen. Was ich an Unruhe und Aufregung in mir trug und an Aussprachebedürfnis, mußte er herausgefühlt haben. Er wußte, wie eine Aussprache erleichtert und bindet.

— Ja, meinte ich, als wir die verlassene, dunkle Lannoystraße hinuntergingen, es war einzig. Ich ...

Ich verstehe, was der Redner sagen wollte. Ich habe das alles selbst durchgemacht. Nach der Primarschule bin ich auf ein Büro gekommen. Mit sechzehn Jahren hatte ich die Anstellung. Da kam die Krise. Mein Patron machte Konkurs. Ich saß auf dem Pflaster. Nächste Etappe: Ich wurde Telephonist. Dann Ausläufer. Dann Mädchen für alles. Noch dauerte die Krise an. Ich rutschte immer tiefer hinab. Endlich fand ich einen Platz als Handlanger in einer Spinnerei. Noch nicht genug. Auch diese Bude schloß ihre Tore. Nun war ich arbeitslos. Seither habe ich nur noch gebastelt... Ich mußte für einen Franc neunzig in der Stunde arbeiten. Fünfzig Stunden für 95 Franc. Weißt du, was das heißt? Ich war in Krampfbuden, wo man nur in Hetzzeiten einstellt und einen hinauswirft wie ein verbrauchtes Werkzeug, sobald die Aufträge nachlassen. Ich bin langsam zur Ueberzeugung gekommen, daß Leute von meinem Schlag nur auf der Welt sind, um für andere zu schinden, für die Reichen, damit diese Erfahrungen sammeln, den Nutzen haben und die Welt in Bewegung halten. Ich hatte den Eindruck, so ein schwarzer Heizer im Bauch eines großen Schiffes zu sein, der sich zu Tode schuftet, während die anderen, die übrigens gar nicht imstande sind, etwas Rechtes zu schaffen, auf dem Deck spazierengehen.

Und auf das hin hören: daß das alles nicht stimmt..., daß unsere Arbeit etwas Heiliges ist..., daß sie den gleichen Wert hat wie die eines Vollbürgers. .., daß man daran wachsen kann..., daß man damit etwas Gutes schafft, genau so wie der Arbeitgeber, wie der Direktor! Das macht Eindruck! Das zwingt zum Nachdenken!

— Ja, unterbrach mein Kollege, deshalb wurde die „Arbeiterjugend“ gegründet...

Ich sehe heute noch die lange Lannoystraße, wo wir miteinander sprachen, im Schweigen der Nacht. Die Gaslampen mit ihren gelben Flammen teilten die Straße auf. Ich redete weiter, einfach weil es dunkel war. Wir konnten uns nicht ins Gesicht sehen. Vielleicht getraute ich mich gerade deshalb, dem großen Burschen, den ich doch nicht näher kannte, alles zu sagen, auch Dinge, die ich noch niemandem gesagt und die ich mir selbst nur mit Mühe eingestand: Die hohe und doch wieder armselige Meinung, die ich von mir selbst besaß, meine Wünsche, meine Träume, meine Begeisterung für das Gute, Schöne und Große, alles was mich innerlich hob und für einige Stunden umwandelte. Und dann mein mannigfaches Straucheln ins Nichtstun, in die Sinnlichkeit, ins Laster, bis mir ekelte vor mir selbst. Vor all dem graute mir schon lange. Was bin ich letztlich wert? War es nicht Vermessenheit, etwas anderes sein zu wollen als die Mehrzahl meiner Kollegen? War es nicht Torheit, mich mit diesen Gewissensbissen zu plagen, mit diesen Träumereien, mit diesen Kämpfen? Und nichts konnte mir Licht geben, und niemand fand sich, der sich um mich gekümmert hätte. Alles, was man mir bis jetzt versprochen, von rechts und von links, war: mehr Geld für weniger Arbeit, größerer Wohlstand, mehr Kino, mehr Aperitif mehr Sport, ein schöneres Leben.

Und nun schien endlich jemand da zu sein,

der mich in die Finger nehmen wollte. Man bot mir ein Radikalmittel an. Ich mußte wenigstens den Versuch wagen.

— Glaubst du, daß das möglich ist?

— Es muß Leute geben, die an diese Möglichkeit glauben, damit der Erfolg kommt.

— Du hast recht...

Ich fühlte, daß er recht hatte. Es muß Leute geben, die sich von vornherein opfern, denn, wenn niemand den Versuch wagt... Aber ich hatte noch Angst.

Vier- oder fünfmal schritten wir die Lannoystraße auf und ab. Der Bursche führte mich zurück. Ich begleitete ihn wieder. Es schien, als könnten wir uns nicht mehr trennen.

Schließlich mußte ich ihn doch gehen lassen. Ich verabschiedete mich an der Ecke der Langhaagstraße.

Er streckte mir die Hand entgegen und wollte wegfahren. In diesem Augenblick sagte ich, gerade weil er so zurückhaltend war:

— Hör, am Sonntag komme ich...

— Wohin denn?

— Zu eurer Jungarbeitergruppe.

— So? Das ist fein... Das ist fein...

Er zündete noch eine Zigarette an. Das Zündhölzchen, das er zum Schutz gegen den Wind mit der Hand deckte, rötete sein Gesicht. Und im Schatten sah ich ein letztes Mal die eckigen Züge, die zerschundene Nase, die dicken Lippen, die starken Augenbrauen und die großen, etwas faden und doch gütigen Augen, die mir entgegenlächelten. Dann wurde es dunkel.

Er beugte sich vornüber auf sein Rad, umfaßte die Lenkstange und verschwand in der Nacht wie einer, der kein gutes Gewissen hat.

Ich lief weiter, stieß mein Rad vor mich hin und suchte den Kehrichtkübeln aus dem Weg zu gehen.

An diesem Abend lagen die Traurigkeit, das Elend und die Schandflecken meiner Stadt nicht so schwer wie gewöhnlich auf meinem Gemüt. Denn seit einigen Stunden hatte ich das Gefühl: Vielleicht ist doch etwas zu machen.

Aus „Menschenfischer“, Verlag Die Quelle, Bregenz

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