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.. so viel berauschende Vergänglichkeit“

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Elisabeth Langgässer war eine der bedeutendsten katholischen Dichterinnen der letzten Zeit. Am 23. Februar 1899 geboren, begann sie bereits 1924 sich schriftstellerisch zu betätigen. 1931 erhielt sie den Literaturpreis des deutschen Staatsbürgerinnenverbandes. 1936 wurde ihr von der Reichsschrifttumskammer jegliche Berufsausübung verboten. Bereits 1950 starb sie nach längerer Krankheit. Ihre bedeutendsten Werke sind „Das unauslöschliche Siegel", welches Buch vier deutsche Auflagen erlebte, sowie „Märkische Argonautenfahrt".

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Elisabeth Langgässer war eine der bedeutendsten katholischen Dichterinnen der letzten Zeit. Am 23. Februar 1899 geboren, begann sie bereits 1924 sich schriftstellerisch zu betätigen. 1931 erhielt sie den Literaturpreis des deutschen Staatsbürgerinnenverbandes. 1936 wurde ihr von der Reichsschrifttumskammer jegliche Berufsausübung verboten. Bereits 1950 starb sie nach längerer Krankheit. Ihre bedeutendsten Werke sind „Das unauslöschliche Siegel", welches Buch vier deutsche Auflagen erlebte, sowie „Märkische Argonautenfahrt".

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Berlin-Grunewald, 23. November 1935 Sehr geehrte gnädige Frau!

unsere Vorstellung von den sittlichen Qualitäten künstlerischen Schaffens geht ebenso weit auseinander wie diejenige eines van Gogh und eines Devotionalienhändlers. Denn schon in den nächsten Sätzen verquicken Sie den Vorgang des künstlerischen Schaffens mit ethischen Forderungen, ohne die leiseste Ahnung davon zu haben, daß dieser Vorgang des Schaffens an sich schon ein Höchstmaß von sittlicher Anstrengung voraussetzt, von fanatischem Werkwillen, strengster Objektivität ufid schlackenloser Glut. Dokumentieren Sie aber damit nicht, daß Sie es in künstlerischer Beziehung immer noch lieber mit der schlecht gemalten Madonna halten wollen als mit dem gut gemalten Kohlkopf?, das heißt, daß Ihnen die immanente Unwahrheit der Kitschmadonna erträglicher erscheint als der zwar gut gemalte, aber, ach, wie wenig vornehme Kohlkopf aus dem Marktkorb des Hökerweibes? Mit anderen Worten: Richten sich Ihre künstlerischen Maßstäbe, wenn ich Sie richtig verstanden habe, nicht ganz allein nach dem materiellen Inhalt einer Darstellung, nicht aber nach ihren Qualitäten in künstlerischer, noch nach ihrem Wahrheitsgehalt in sittlicher Beziehung? Ziehen Sie die romantische Lüge und den kläglich zerronnenen „schönen Schein“ einer, Gott sei Dank, hinter uns liegenden Epoche nicht der harten Wahrheit und wirklichen Größe des Kunstwerks vor, das zu schaffen und zu empfangen mehr denn je die Angelegenheit des christlichen Abendlands ist?

Vielleicht werden Sie mir nun erwidern, es müsse ja gerade keine schlecht gemalte Madonna sein, die Sie in künstlerischer Hinsicht begeistere, und es sei doch wohl nicht abzustreiten, daß eine gut gemalte Madonna und ein gut gemalter Kohlkopf auf zwei verschiedenen Wertebenen lägen — mit diesem Einwand aber stoßen wir mitten in das Zentrum der eigentlichen Diskussion. Ja, gewiß liegen diese Gegenstände auf zwei verschiedenen Wertebenen ihrem Inhalt nach — nicht aber von dem sittlichen Einsatz des Künstlers her gesehen; oder glauben Sie etwa, ein Dürer habe seine Akelei mit weniger Demut vor Gottes reiner Schöpfung gemalt als etwa sein Rosenkranzfest, ein Rem- brandt seine Anatomie mit weniger Ehrfurcht als seine Jakobsleiter? Diese Annahme ist wohl allzu oberflächlich, als daß man sie einem denkenden Menschen im Ernst Zutrauen könnte — aber auch von dem Inhalt her gesehen, kann ich Ihnen leider nicht zustimmen, denn wie Ihr Brief mit geradezu erschütternder Offenheit beweist, dürften Sie nicht nur von der Realität des Kunstwerks keine zutreffende Vorstellung haben, sondern auch keine von der Realität des Christentums und würden deshalb, Ihrer geistigen Haltung nach, eine wahre Madonna ebenso entsetzt zurückweisen müssen wie einen wahren Gegenstand der Natur.

Das will mit anderen Worten besagen, daß Ihnen bzw. den Frauen, zu deren Sprecherin Sie sich gemacht haben, bisher die Kernwahrheiten des Christentums, die da Schuld, Erlösung und Gnade heißen, in ihrer ganzen, schauervollen Wirklichkeit überhaupt noch nicht aufgebrochen zu sein scheinen; daß diese Frauen als getaufte, das heißt den Mächten der Finsternis abgewonnene Christinnen, von solchen Mächten höchstens eine symbolische, gewissermaßen an die Kette gelegte Vorstellung haben dürften, und daß sie, da Schuld und Erlösung einander bedingen, auch nur eine höchst sparsame, mit dem Literglas zugemessene Gnade kennen — keinen Wildstrom, nichts, was die Gatter der bürgerlichen Gesellschaft auf seinem Weg mitreißen könnte. „Gut“, sagen Sie: „Sünde“ — und meinen damit einen theologischen Begriff ohne vorgestellten Inhalt; Sie sagen „Sünder“, wie man „Korbblütler“ oder „Säugetier“ sagt, das heißt, Sie bezeichnen damit eine Gattung, eine trockene Kategorie — aber wehe, wenn dieser Sünder es wagen sollte, Ihnen als konkrete Erschei nung: als Lustmörder, Wucherer, Ehebrecher, unter die Augen zu kommen, zerlumpt und von seinen Lastern wie von Kleiderläusen zerbissen!. Sie würden sich aufs äußerste schokiert von ihm abwenden, vielleicht aber, käme der Mann im Smoking, ihn überhaupt nicht erkennen; denn es ist nun einmal so, daß sich noch immer die Vorstellung der christlichen „guten Gesellschaft“ von Sünder, Sünde und Erlösung zu der Lehre des Evangeliums verhält wie die Badewanne zur Taufe. Oder haben diese Frauen wirklich schon einmal erwogen, was jenes seltsame Wort der Osterliturgie bedeutet, welches Adams Schuld eine „glückliche“ nennt, weil sie nach einem solchen Erlöser verlangte? Fühlen sie nicht, wie feige, unwürdig und begrenzt sie von diesem Erlöser denken, wenn sie die Schuld verkleinern und verharmlosen wollen, um derentwillen er Fleisch werden mußte? Ja, steht nicht nach den Worten des Evangeliums Schuld und Erlösung in engstem Zusammenhang, wenn Christus immer wieder betont, daß er nicht zu den Gerechten gekommen sei, sondern zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel; wenn er sogar in der Verteidigung seiner ausgezeichneten Freundin, der früheren Heereshure von Jerusalem sagt, „daß ihr viel vergeben werde, weil sie viel geliebt habe“ — und darnach das furchtbar dunkle und in die Geheimnisse der göttlichen Gnade hinableuchtende Wort sagt:„Wem aber weniger vergeben wird, der liebt auch weniger.“ Nein! einen solchen Sünder und eine solche Erlösung haben sich diese Frauen noch nicht vorstellen können; sie haben nicht hingehört, als in den ersten Worten des letzten Romankapitels schon jenes Thema auf klang: „daß Gott nämlich auch aus der Lava (das heißt aus dem Auswurf der Erde) seine Dome erbauen könne“; nicht hingehört, als erzählt wurde, wie „jede Begierde tropfengleich ablief“ von einem Manne, der in den Augen der armen Dirne den unschuldigen Glanz seines kleinen Freundes aufleuchten sieht; nicht hingehört, als ihre Reuetränen, das Bad ihrer Wiedergeburt, ausführlich geschildert wurden: jene Tränen, welche so wirklich waren, daß die Bilder an den Wänden „fürchteten, abgewaschen zu werden“.

Muß ich nach allem noch einmal betonen, daß es sich hier nicht um eine Szene in einem bösen Haus gehandelt hat, sondern um die

Ausbreitung des Erjösungsgeschehens in dem schwarzen Verlies der Sünde? Oder aber ist selbst dieses Thema in den Ohren Ihrer Mitschwestern noch anstößig, gnädige Frau? Dann freilich dürfen wir uns über große christliche Literatur überhaupt nicht mehr unterhalten — angefangen von Dantes Höllenvisionen und Wolfram von Eschenbachs „Parsifal“ bis zu den christusgläubigen Russen, zu der unerbittlichen Undset, dem französischen Mystiker Bernanos und dem dunklen Melancholiker Julien Green. Dann wollen wir es bei den edlen und rührenden Kitschgestalten einer „Rosa von Tannenburg“ belassen und ängstlich beiseite treten, wenn die großen Vorreiter der Menschheit, die Paladine des Christentums, vorübersprengen. Dann allerdings wird sich aber auch eine junge, real denkende und real kämpfende Generation von uns abwenden — ganz und radikal ab wenden! —, denn was soll sie mit einem Christentum anfangen, das dieser verlorenen, abgründigen und satanischen Welt nichts andres zu bieten weiß als die „zarten und erhebenden“ Ideale einer Gesellschaftsschicht, deren Gipsfassaden täglich und stündlich heruntergeschlagen werden: unaufhaltsam, unwiederbringlich und ohne Hoffnung auf Renovation? Nichts bleibt außer dem „Eckstein Christus“, dem Erlöser der Menschheit, die sich aus Gesunden und

Kranken zusammensetzt, aus Gerechten und Ungerechten, vor allem aber aus Ungerechten: aus Dirnen, Ehebrechern, Pharisäern, Fallsüchtigen, Wasserköpfen, Idioten, Aussätzigen und vielen, vielen anderen, die weder aus der Kraft des Blutes noch durch die Befolgung gesellschaftlicher Anstandsregeln erlöst werden können, sondern einzig und allein durch jenen, der „ein Wurm und kein Mensch“ genannt wurde, „eine Torheit und ein Aergernis“.

In seinem Namen habe ich Ihnen und allen, die sich mit mir und Ihnen durch gemeinsamen Glauben verbunden fühlen, geschrieben. In diesem Namen will ich auch jene ungeheuerliche und dem christlichen Inhalt Ihres Briefes diametral entgegengesetzte Beleidigung, daß „nur reine Herzen und Hände ein solches Thema anrühren dürften“, als ungesagt betrachten.

Berlin-Eichkamp, 14, Oktober 1947

Mich bewegt nur ein Gedanke: Wie werde ich de neuen Roman weiterschreiben können? Arbeiten! Ich bin wie besessen. Aber ich muß Zucker, Fett, Kaffee und Schokolade haben. Care. Ohne Bücklinge und orientalische Verbeugungen mit der Stirn an der Erde. Ach, in mir wächst ein Gefühl der Verbitterung, das grenzenlos ist. Fast drei Jahre nach dem Kriege lebt ein geistiger Mensch, der noch dazu ein Verfolgter war, immer noch von zufälligen Almosen. Da stimmt doch etwas nicht

3. Juni 1948

(An )

diese Dinge muß ich ganz genau wissen, für das Werk, für das nächste Buch, an dem ich jetzt schreibe. Nicht D u kommst darin vor, sondern ein Mann, der seine junge Kusine hätte retten können, wenn er nicht träge und bequem und feige gewesen wäre. Später trifft er ein junges Mädchen, das er liebt, das er aber nicht begreift, weil sie so merkwürdig ist, scheinbar frivol und doch ungeheuer verschlossen. Schließlich stellt sich heraus, daß sie im Grunde gar nicht „lebt“, sondern immer noch in der Hölle ihrer Erinnerungen festgehalten wird — sie war in einem Konzentrationslager und hat schreckliche Dinge gesehen, die man nur ahnen kann. Als sie sich endlich dem Mann erschließt und ihm einiges erzählt, bricht er unter seiner Schuld zusammen, denn sie wird nun für sein Gewissen eines mit dem anderen jungen Mädchen, das er zu retten versäumt hat; eines mit allen jungen Mädchen, die er zu retten versäumt hat; eines mit allen jungen Mädchen, Kindern, ja mit allen Opfern, die durch die Hefzensträgheit der Deutschen und gerade der Harmlosen! — umgekommen sind. Natürlich ist diese Begebenheit nur ein winziges Partikelchcn aus dem ganzen Roman, aber ein sehr wichtiges, und ich muß genau Bescheid wissen um die ganze Atmosphäre. Ich bitte Dich daher dringend: schildere mir, was und wie Du es erlebt hast, vor allem das „Aeußere“ Deines „Lebens“ in A. und Deine Beschäftigung. Denke nicht: wie unnatürlich, daß ich das wissen will, um es „zu verwerten“, gewissermaßen, um einen Roman daraus zu machen — in Wirklich weiß ich ja alles, und es setzt sich zur Zeit Nacht um Nacht an mein Bett wie kurz nach dem Umsturz. Was ich aber brauche, sind ganz reale Anschauungen. Dieser Roman ist ein Versuch, die verschiedenen deutschen Häresien, die typisch deutschen Sünden in verschiedenen Schicksalen darzustellen — als Gericht, als Büßpredigt und als Läuterung. Darum wirst Du wohl auch meine Bitte verstehen

Rheinzabern, 12. März 1949

Mein lieber und verehrter Herr Erzpriester!

..So haben wir auf unseren zahlreichen Reisen durch ganz Deutschland das Interessanteste und Vielfältigste erlebt und gesehen. Von jeder Stadt könnte ich seitenlang erzählen, stundenlang berichten, ohne fürchten zu müssen, Sie zu langweilen oder mich zu wiederholen. Nur eines würde als Resümee immer wiederkehren: wo eine Stadt — wi z. B. Hamburg — volkommen „heidnisch“ ist, wo sie gewissermaßen keine Ahnung mehr hat von christlichen Kategorien, da ist die „Anfälligkeit“ gegen das Christentum und seine Heilsbotschaft ungleich größer als dort, wo verfettete und verhärtete Christenherzen gegen die Forderungen der Heiligen Schrift gewissermaßen „immun“ geworden sind. Sie kennen den schmerzlichen Ausruf: „Jerusalem, Jerusalem “ Nun, es ist immer das gleiche.

Es besteht für mich nicht die geringste Gefahr, daß mir der „Weihrauch des Ruhmes“ zu Kopfe steigt. Es ist ein sehr umstrittener Ruhm und eine Position, die ich mit jedem Gespräch neu erkämpfen muß. Die geistige Anmaßung der „Gebildeten“, ihre Eitelkeit und die Naivität, mit der sie glauben, zu all und jedem etwas Bedeutendes sagen zu müssen, ist ungeheuer. Jeder „Auch- Schriftsteller“, jeder Journalist würde sterben, wenn er sich eingestehen müßte, daß es Rangunterschiede gibt, Unterschiede der Erfahrung und eine Stufenordnung der Werte. So rinnt tatsächlich das Meiste an mir ab und ist wie der Fall von Regentropfen heruntergelaufen:Schmeichelei und Bosheit, Be wunderung und Kritik. Das ist kein moralisches Verdienst, sondern ganz einfach das Ergebnis einer Situation, die der eines Menschen in einer berühmten Gebirgsklamm gleicht, wo von allen Seiten das Getöse des Wassers herunterstürzt: er geht weiter und sucht den Ausgang zu gewinnen. Nein, meine Aengste liegen ganz anderswo und kommen periodisch mit jeder neuen Stufe wieder — es ist die entsetzliche Furcht (die auf anderer Ebene auch Luther gehabt haben muß, als er die „guten Werke“ verwarf), durch die künstlerische Form und den künstlerischen Rausch „selig“ werden zu wollen —, anstatt umgekehrt, die künstlerische Form nur aus der Substanz zu haben. Denn das Glück der Weltgestaltung, das Glück des Fortgerissenseins im Augenblick der Ekstase ist riesengroß — und das christliche Leben mühsam, trocken, langweilig und ein hartes, dunkles Brot. So ist das gleiche „Tun“ (nämlich meine künstlerische Arbeit) das, wodurch ich Gott lobe und wodurch ich versucht werde, die Kunst über das Leben zu stellen. Es ist die alte paulinische Angst, selber verworfen zu werden, nachdem man anderen das Heil verkündigt hatte. Es läuft mir jedesmal glühend heiß über den Rücken, wenn ich daran denke. Ganz zu schweigen von meiner anderen Plage: dem Bewußtsein, das bei allen Dingen neben mir steht und mir weismachen will, alles, was ich sage und schreibe, sei weiter nichts als Bluff, geschicktes Arrangement und artistische Lüge. Natürlich gibt es noch eine höhere (oder tiefere) Kontrolle, die darüber steht und mir auch diese Versuchung entlarvt, als den berühmten Pfahl im Fleisch, den man bis an das Ende des Lebens mit sich herumschleppen muß. „Meine Gnade genügt ..gut. Aber ich bin überzeugt davon, daß cs schlimm bestellt wäre mit mir, wenn mich nicht rechts und links die Gebetsarme so vieler Menschen stützen und halten würden, die mir immer wieder in Briefen versichern, daß sie an mich denken.

So, nun ist dieser Brief also zuletzt noch eine Osterbeichte geworden, und wenn Sie mich auch nicht absolvieren können, so können und werden Sie doch all diese Anliegen dorthin tragen, von woher einzige Flilfe kommt.

Im übrigen sehe ich immer mehr ein, daß eine Führung wie die Ihrige sich nicht so leicht wiederholt — erst recht heute nicht, wo ich immer fürchten muß, daß man mich schon von vorneherein zu hoch „ansetzt“ in der Beurteilung; und dabei müßte man doch wissen, daß ich bestenfalls da stehe, wo ein zwar gutwilliges, aber faules und gedankenloses Schulkind steht! Glauben Sie mir — das ist keine Uebertreibung, wirklich nicht. — Darf ich hoffen, daß Sie mir auf diesen längst überfälligen Brief bald antworten werden? Ich wäre sehr glücklich

Rheinzabern, 7. Dezember 1949

Liebe Oda (Schäfer)!

Welch einen weiten Bogen ist man bis heute abgegangen! Und ist trotzdem identisch geblieben mit sich selbst. Ja, ich finde, daß diese Identität immer plastischer herauskommt, je älter man wird. Hast Du nicht auch dieses Gefühl?

Ueber die Kolb kann ich Dir wenig sagen. Ich glaube, man muß betonen, daß es zu ihrer Zeit noch eine echte Humanität ge geben hat, die auch ohne christliches Bewußtsein möglich war, weil die kulturellen Kräfte des Christentums (besser: die Kulturbilderkräfte) noch nicht abgestoßen waren. Nun ist das anders — das Christentum ist bis auf den Wurzelstock zurückgeschnitten und hat eine rein religiöse Aufgabe: die Darstellung seiner ihm und nur ihm eigenen Substanz. Einen „christlichen Salon“ gibt es nicht mehr — nie mehr. Daher wird auch jemand wie die Klipstein daneben so fad. Noch einmal war die Mitte, das Abschiedsleuchten, die Heiterkeit, die Ironie in der Kolb. Passe. So würde ich, glaube ich, über sie schreiben.

Noch eins:die bei Claassen heraus gekommene „Proserpina“ ist aus dem Ur- manuskript gedruckt. Es ist also nicht die gleiche wie von Flesse und Becker, die ich, damit sie ein modernes Publikum versteht, mit Anklängen an das kollektive „Unterbewußte“ aufgeputzt hatte. Die jetzige ist nichts wie eine ausgegrabene, griechische Scherbe; da nehmt sie, nackt, grausam, ungereinigt, wie sie ist! Ich finde, das sollte man betonen..,

25. Juni 1950

Lieber Herr Erzpriester!

Ach, daß ich nicht mit Ihnen persönlich sprechen kann — Sie sehen wohl an meiner gequälten Schrift, daß ich wieder krank bin. Große, lähmungsartige Spasmen überziehen mich überall, die linke Hand ist vollkommen steif. In der nächsten Woche wollen wir zu Dr. v. Weizsäcker nach Heidelberg. Unser guter alter Landarzt sagt:Restlose Er schöpfung. In der Schweiz bekam ich in jeder Stadt starke Vitaminspritzen, um durchhalten zu können. Nun liege ich ganz auf der Nase. Die Schweizer Aerzte hielten es nach den Ueberanstrengungen der letzten Jahre für vermessen, von einer „Multiple“ zu sprechen. Auch die Reaktionen sprächen dagegen. Aber was sonst?

Der Roman ist fertig. Aber, ach, ich auch.

Schreiben Sie mir doch einmal und beten Sie für mich!

Aus der Brieisammlung, erschienen im Claassen-Verlag, Hamburg.

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