Der Film, das Phänomen Film, ist ein Brennspiegel, in dem sich die einfaUenden Züge der Zeit brechen. In seinem Brennpunkt entzünden sich diese überhöhten oder verzerrten Tendenzen in Form der Millionen Filme und wirken in dieser ihren neuen Gestalt wieder in die Zeit zurück. Durch letzteres erhält christliche Filmarbeit ihren besonderen Sinn, durch ersteres die Sorge, die Seelsorge an der Zeit: „Woraus zu ersehen wäre, wodurch der Film letztlich besser werden könnte“ (Gunter Kroll).
1. WAS IST HINTER DEM BRETTERZAUN?
Hier Männer,Abenteurer, Desperados, schuldig und unschuldig
Abgerutschte, sitzen in einer Öde Südamerikas und warten auf die Chance. Die Chance kommt. Zu einem Ölbrand muß hunderte Kilometer weit auf unmöglichen Wegen Sprengstoff transportiert werden. Eine hohe Prämie winkt. In zwei Partien machen sich die Vier von der Tankstelle auf den Weg und erleben, erleiden Unbeschreibliches: die Angst in ihrer fürchterlichsten Form. Zwei fliegen in die Luft. Von den beiden Überlebenden erleidet der Bulligste eine tödliche Beinwunde. Sterbend träumt er vom Bretterzaun, hinter dem er schon als Kind alles und nichts vermutet hat. Schon nicht mehr ganz auf der Erde, fragte er ein letztes Mal seinen Kameraden: „Was ist hinter dem Bretterzaun?“ Der Film gibt überdeutlich Antwort: nichts. Denn auch der Vierte erntet nicht den „Lohn der Angst“ (so lautet der Titel des berüchtigten Films) und stürzt, die Prämie in der Tasche, in den Abgrund.
Ich weiß, das Wort ist über Gebühr abgegriffen, aber es gibt auf der ganzen Welt derzeit keine vorheirschendere Grundstimmung als die Angst. Individuen und Gemeinschaften haben Angst, vor etwas und jemandem oder nichts, voreinander und vor sich selber. Völker und Kontinente haben Angst vor dem Krieg, einzelne vor Krankheit und Verlassenheit, vor menschlichem und beruflichem Versagen, Verfolgte vor ihren Peinigern und Diktatoren, und Diktatoren vor ihren Nachfolgern. Alle — vor dem Tod, dem Sterben, an dessen Tor die Frage steht: Was ist hinter dem Bretterzaun?
Nennen wir die Angst vorerst nicht unchristlich, gottlos. Kein Mensch ist frei davon. Scham und Angst hat das erste Menschenpaar nach dem Sündenfall empfunden, Angst hat der Menschen- sohn auf dem Ölberg geblutet, angsterfüllt sieht der Gottlose unserer Tage seinen Körper, sein Wesen, seinen Sinn zerbröckeln. Der ganze Film ist voll Angst, der Problemfilm, der Kriminalfilm, ja die besten Filmlustspiele der Stummfilmzeit spielten mit der Angst der Verfolgung.
In der Aprilnummer 1961 der Wiener Studentenzeitschrift „Morgen“ untersucht Hoimar von Ditfurth den Gruselfilm und meint, der technisch und naturwissenschaftlich aufgeklärte und abgebrühte Mensch von heute suche hierin geradezu die Angst. Sie sei ihm schon ans Herz gewachsen. Er schließt mit der kühnen These:
„Der Shocker (Fachausdruck für Hitchcock-Filme und Gefolge) ist nicht Symptom der Perversität, nichts Krankhaftes überhaupt, man könnte ihn eher für ein Naturheilmittel halten: Der Angstschweiß, dessen Geruch die Luft unserer Kinos erfüllt, läßt diese zu einer Art Sauna werden, in welcher der moderne Mensch das Virus eines falsch verstandenen Fortschrittsglaubens auszuschwitzen sich bemüht.“
Gehen wir freilich an die Wurzel zurück, so kann die Angst nicht bloß psychologisch oder gar physiologisch, sondern kaum anders als theologisch, religiös gedeutet werden. Vielleicht ist es zu weit gegangen, wenn ein französischer Priester meint, Angst sei immer ein Zweifel an Gott. Richtig daran ist, daß die Angst das Menschliche, Ungöttliche an sich ist. Gott hat keine Angst. Angst ist Schwäche, Zweifel, Menschentum, sündiges Menschentum schlechtweg. Sie ist die Lohnsteuer, die der Mensch für sein Erdenwallen zahlt, und das himmlische Finanzamt ist noch aufmerksamer als das irdische — keiner entgeht ihm. Keiner. Wie können wir der Angst begegnen?
Eine Antwort, eine fürchterliche, kennen wir schon. Der französische Film gibt sie unentwegt seit Clouzots Paradigma, hundertfach, in alten Zeiten, in neuen Wellen, die trüb und schmutzig an den Strand spülen. „Du bist doch zum Kotzen“, sagt der dazugehörige Modestar unserer Tage. Jean Paul Belmondo, am Schlüsse des Films „Außer Atem“ zur Geliebten, die ihn bona fide verpfiffen hat. Er meint nicht sie — er meint das Leben ohne Sinn und Gott. Es ist zum Kotzen, sagte irgendwie auch der Clouzot-Film: es lohnt sich nicht zu leben und zu lieben. Du kannst nichts machen. Den Lohn der Angst kassiert der Abgrund, das Nichts, das non-ens und nonsens.
Gibt es einep Ausweg? Gibt es einen Weg, um in jenen Grenzen, die wir soeben theologisch der menschlichen Kreatur gezogen haben, der Angst zu begegnen? Einer hat es uns kürzlich vorgelebt, überraschend, weit um bemerkt und weltweit gültig.
Der Mann, der am 13. Mai. d. J. in Hollywood für immer die Äugen schloß, schien zeitlebens die Angst einfach nicht zu kennen. Von Kindheit an mit den Schwüngen, Sprüngen und Stürzen des Cowboys vertraut, wuchs er im Film, ein Phantom von gebrochenen und wieder zusammengeflickten Knochen, zur monumentalen Größe des Ritters ohne Furcht und Tadel, des Ritters mit einem verborgenen Arsenal von Colts, aus dem es in gefahrvollen Augenblicken aus allen Rohren blitzte und donnerte. Und doch hatte er bei alledem Angst — immer und überall. Und der Tod schien ihm recht zu geben. Es war jener gräßlichste Tod unserer Tage, von dem die Kranken und Gesunden nur im Flüsterton sprechen und dem die Ärzte untereinander einen schwerverständlichen fremdsprachigen Namen gaben. In der Tat ist dieser Tod die Pest unserer Tage, die Geißel, an der bisher der Bienenfleiß von Millionen Forscherstunden gescheitert ist. Wer einmal einen Menschen an Karzinom, an Krebs, hat sterben gesehen, behält den Schock davon bis zum Lebensende.
Der Cowboy, der Ritter ohne Furcht und Tadel, erkannte, wie man der Furcht bei aller Menschlichkeit christlich, katholisch begegnen kann. Von da an war sein Weg klar vorgezeichnet. Im Nachruf über ihn schrieb Dr. Manzini im „Osservatore Romano“:
,,Gary Coover ist ein leuchtendes Beispiel bewußter Gläubigkeit auch in seinem Tod. Von Haus aus Protestant der Episkopalkirche, wurde er zum erstenmal 1953 von Pius XII. im Vatikan empfangen. Wenige wußten von Coopers innerer Wandlung im Ringen um die Wahrheit. Vom starken Glauben der Frau gestützt, kam der große Filmheld zur Konversion zur katholischen Kirche. Die Nachricht davon schlug vor zwei Jahren wie eine Bombe ein — und billige Filmkolumnisten vermuteten damals etwas giftig teilweise sogar, diese Konversion sei ein wirksamer Coup der Publicity. Aber die Redlichkeit der religiösen Haltung des berühmten Filmschauspielers strafte die böswilligen Unterstellungen Lügen. Bis zu seinem gläubigen Sterben — wohlversehen durch seinen Freund Msgr. Sullivan mit den Sterbesakramenten der katholischen Kirche — blieb der alte Cowboy ein Beispiel männlicher Frömmigkeit. Seine letzten Worte waren: .Herr, hilf mir, ohne Angst zu sterben.' Dann schloß man ihm die Augen.“
Wir erinnern uns dabei an den klassischen Wildwester „12 Uhr mittags“. Da ist ein Mann, ein Sheriff, den alle, sogar vorübergehend die eigene Frau, in seiner Angst vor der Rache der Bösen allein lassen, und der doch diese Angst besteht und überwindet. Gary Cooper hat ihn gespielt. Und wie! Zuerst mit schlaffen Armen und müden, traurigen Augen — und dann mit dampfender Pistole und blitzenden Augen, die leibhaftige Kaltblütigkeit und Nicht-Angst.
Nebenbei bemerkt scheint dem Wildwestfilm häufig unrecht zu geschehen. Natürlich geht es nicht eben sanft darin zu. Da wir aber doch die Symbolsprache des Films so genau kennen, ist es so schwer, sich die Pistolen und harten Schläge einmal wegzudenken und sie für ein Sinnbild des inneren Rucks anzusehen, den sich der Geängstigte gibt?
Die Hamburger Zeitung „Die Welt“ schrieb vor Wochen: „Der Western, von Ahnungslosen ausschließlich für Klamauk gehalten (was er nur nebenbei ist), hat von allen Filmgattungen wahrscheinlich das ungewaschenste Publikum. Und doch wohnen gerade seine Zuschauer, ob es ihnen intellektuell bewußt ist oder nicht, einer neuzeitlichen Vulgärform der großen Menschheitsgeschichten bei: den Urmotiven von Schuld und Sühne, Flucht und Verfolgung, Gut und Böse. Mag sein, daß sie hier auf die primitivste Formel gebracht werden, doch hinter ihren vordergründigen Pseudoeffekten, bei ihrem scheinbar planlosen Geschieße und Geboxe, werden urmenschliche Sehnsüchte gestillt: die unausrottbare Hoffnung. daß der Mut über die Aitgsf, die Welt über das Widerliche triumphieren möge.“
Das aber nur am Rand — anläßlich des Todes Gary Coopers, des nobelsten, ritterlichsten und unängstlichsten Helden des Westerns. Daß ihm der Herr den fürchterlichsten Tod und die Angst vor ihm auf den letzten Ritt mitgab, war Gary Coopers schwerste Rolle. Er hat sie gemeistert. Von seinem Sterbebett kommt das gläubige trostvo'le Wort zu uns: „Herr, Herr, du weißt, ich kann nicht ohne Angst leben. Herr, hilf mir wenigstens, ohne Angst zu sterben. Hinter dem Bretterzaun ist nicht das Nichts, sondern alles, hinter dem Bretterzaun bist Du. Herr, Herr der Herrlichkeit, der Freude und der Furchtlosigkeit."
II. IM WESTEN UND OSTEN NICHTS NEUES
„Die Filme eines Volkes spiegeln seine Denkart unmittel- barer wider als andere Ausdrucksmittel, und zwar aus zweierlei Gründen. Erstens sind Filme niemals das Werk eines einzelnen . . . Zweitens wenden sich Filme an die namenlose Menge und wollen diese ansprechen . . . Von der besonderen Mentalität eines Volkes zu sprechen heißt noch keineswegs so viel, wie einen unveränderlichen Nationalcharakter vorauszusetzen. Wir beschäftigen uns hier ausschließlich mit solchen kollektiven Veranlagungen und Triebrichtungen, wie sie innerhalb eines Volkes in einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung hervortraten. Welcher Art waren die Hoffnungen und Befürchtungen, die Deutschland nach dent ersten Weltkrieg bestürmten? Solche Fragen darf man stellen, weil sie in ihrem Umfang abgegrenzt sind; es sind auch die einzigen, die sich durch eine entsprechende Analyse der Filme aus jener Zeit beantworten lassen."
Mit diesen Worten leitet der Verfasser eines der merkwürdigsten und genialisch einseitigsten Filmbücher ein, die wir kennen: „Von Caligari bis Hitler“. Siegfried Kracauer, Frankfurter Publizist, heute in den USA, hat es in der amerikanischen Emigration geschrieben, was dem Büchlein von der Stirn abzulesen ist. Es stellt die schroffe Behauptung auf, daß die ganze Geschichte des deutschen Films zwischen den beiden Kriegen, insbesondere die des Kriegsfilms, auf der Schicksalswaage ein Auf und Ab von Linksresistance und Rechtszug sei und solcherart folgerichtig zur Katastrophe führe. Im Bestreben, seine These zu stützen, verfährt der Autor mit einer gewissen Maßlosigkeit, schaltet alle anderen Züge und Einflüsse des deutschen Films aus und spannt vom UFA-Lustspiel bis zum Berg- und Sportfilm schlechtweg alles auf sein Prokrustesbett. Und das ist schade. Denn in dem Buch stecken tausend brillante Gedanken.
Von Kracauers Gedanken dürfen wir eine Grundeigenschaft des Kriegsfilms übernehmen, die die zweite Nachkriegszeit inzwischen glänzend bestätigt hat. Die auffallende Beobachtung nämlich, daß die echten und die meisten Kriegsfilme nicht während des Krieges und nicht unmittelbar nach dem Krieg entstehen, sondern fast genau — das war so nach dem ersten und nach dem zweiten Weltkrieg — ein Dezennium post festem (wenn das grausige Wortspiel erlaubt ist). Aber vielleicht ist das gar nicht so auffallend. Wenn wir uns die Stimmung an der Front und in der Heimat im Krieg in Erinnerung rufen, dann ist uns klar, daß der ständig überforderte, überreizte Nervenapparat der duldenden Masse gerade noch den Durchhaltefilm, nicht aber echte, tiefe, ausgewogene Kriegsproblematik verträgt. Mit einem einzigen solchen Film wäre der Krieg vielleicht zu beenden gewesen, und wir hätten uns die anderen, folgenden (Filme und Kriege) erspart. ..
Von den Frontkinos wurden bezeichnenderweise geradezu ängstlich alle Durchhaltefilme ferngehalten. Man wußte schon, warum. Denn selbst die angeblich unbestechliche Wochenschau ging oftmals im brüllenden Gelächter der Frontsoldaten unter — sie sahen ja weniger tote Gegner als tote Kameraden. Beliebter waren Marika Rökk und Ilse Werner, weniger Hans Albers und andere Draufgänger — „draufgingen“ die Soldaten ja selber ... Gewiß mußten wir nun den siegreichen Alliierten in den ersten Jahren nach dem zweiten Krieg auch den Ramsch ihrer Kriegsfilme abkaufen — ihr Heldentum aber „kauften wir ihnen nicht ab.. Jį '•••-' r mr n 12 mf ,
Schlag zehn Jahre nach dem letzten Schuß aber wird’s wieder munterer. Die Seele hat inzwischen den Schmerz vergessen, wie der Leib den der Zahnextraktion, und die Jungen spielen schon wieder mit Zinnsoldaten und T 34. Jetzt kann's losgehen. Und es ging wieder einmal los. Bis heute.
Der Kriegsfilm ist ein legitimer Bruder des Angstfilms — darum auch die örtliche Nachbarschaft in diesen Darlegungen. Aus Angst werden Kriege begonnen, aus Angst werden sie verloren — gewonnen werden sie ja nie und von niemandem. Mit den Filmen darüber ist es genau so. Ich stehe nicht an, zu behaupten, daß es Kriegsfilme, echte Kriegsproblematik, zehn und fünfzehn Jahre, wie gesagt, nachher, gar nicht gäbe, wenn es die Angst vor dem nächsten nicht gäbe, wenn einmal das Friedensreich ausbräche, nicht das Tausendjährige oder das ewige: Wir Österreicher wären schon wieder zufrieden mit einer Epoche wie IS66 bis 1914. Damit erweist sich der Film einmal mehr als Spiegelung offener und verdeckter Ängste — und Wünsche. Das ist das eine.
Ein anderes. Dem deutschen Kriegsfilm werden schwere Dinge vorgeworfen, Unehrlichkeit, aufgeklebte Friedensetiketten, heimliche Nazitendenz und offene Kriegshetze, mindestens Wehrwillensweckung, dann aber auch wieder ausgewaschener Pazifismus und unnotwendige Fleißaufgaben hinsichtlich der Selbstanklage.
Ich glaube es nicht, im ganzen gesehen. Wenn die Brennpunktthese stimmt, darf es uns nicht wundern, daß der deutsche Kriegsfilm uneinheitliche, gesinnungs wider sprechende Züge hat — wie sein unglückliches Volk, seine Führung und ihre Gefolgschaft und Gegnerschaft. Vielleicht haben es wir Österreicher darin etwas besser — das glückliche Österreich heiratet lieber und halt’s weniger mit Adenauer, Brandt, Kennedy und Chruschtschow als mit Antel. Fragten wir aber einmal drei Deutsche um ihre Meinung über den Krieg, wir würden staunen, was wir darüber sehr, sehr Verschiedenes zu hören bekämen. Und da sollte der Film ein offenes, ungeteiltes Gesicht dazu machen? Er macht es — aber nur in dem Sinn, daß er eben in seiner Zwiespältigkeit und Schillerndheit die ganze Zerrissenheit der deutschen Seele wiedergibt.
Es ist kein erfreuliches Kapitel, der Kriegsfilm. Sieger und Besiegte haben dabei Haß gesät und ein gehöriges Maß von aktiver Schuld gehäuft. In der „Cinematographie Francaise“ hat erst kürzlich unser katholischer Filmfreund und französischer Forscher Charles Ford ausgeführt:
„Es geht nicht darum, die Produktion von Kriegsfilmen zu verbieten. Aber man soll sie nicht zu internationalen Festivals schicken, die dazu bestimmt sind, die Freundschaft zwischen Einzelmenschen und Völkern zu vertiefen. Man erspare uns die Betrachtung solcher Filme, die unter dem Vorwand der Friedenspropaganda in Wirklichkeit eine Apologie des Hasses sind.“
Kein Wunder, daß Siegfried Kracauer keine Lust zeigt, der Tragödie zweiten Teil zu schreiben, sondern wie wir hören, an einer großen, ungefährlicheren Filmästhetik schreibt. Er müßte noch einmal die Feder in die giftigste Tinte tauchen und einen diabolischen Titel ersinnen. Von Hitler bis — bis — ja bis zu wem? Wir kennen ihn noch nicht. ..
(Fortsetzung und Schluß folgen)