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Die Spielregeln der schwarzen Romantik

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Man schrieb den 15. November 1958. Er wollte einen neuen Anzug haben. Deshalb entschloß er sich, in der Neustiftgasse in Wien einen fünfundsiebzigjährigen Gemischtwaren-händler zu töten. Er selbst war siebzehn. Als sein Opfer verblutet war, legte er schluchzend ein Geständnis ab: „Es ist mir plötzlich ein-g'fall'n.“

Er schien mit einem Male nicht zu begreifen, was er da getan hatte. Es war ihm in dem Augenblick, als es ihm „eing'fall'n“ war, gar nicht zum Bewußtsein gekommen, daß er etwas Furchtbares, Niewiedergutzumachendes, schrecklich Endgültiges zu tun bereit gewesen war: einen Menschen töten. Und sein eigenes Leben ruinieren. Er würde es nicht mehr tun, jetzt, da er die ganze Ungeheuerlichkeit seiner „unbedachten Handlung“ (wie harmlos klingt dieses Wort) erkannt hatte.

Der junge, sympathisch aussehende, ahnungslos dreinblickende Mörder weiß es jetzt. Er hat das Leben kennengelernt. Er ist ein tragisches Mahnmal, unglückliches, unglückseliges Produkt, blutiges Zeugnis einer Generation der Jungen, die nicht wissen, was sie tun. Ein extremer Fall, gewiß, weil schließlich nur ein

Bruchteil der Unmündigen, Verlassenen, Sich-selbstüberlassenen bis an die letzten Abgründe des Mordes gerät — und doch Symptom, Beispiel, Gleichnis einer Gesellschaft, in der die jugendliche Verirrung und Verwahrlosung häufiger anzutreffen ist, als in einer der vorhergegangenen.

Man nennt sie „Halbstarke“. Das ist zu einfach. Man sucht ihnen mit moralischer Entrüstung und auf dem Verwaltungswege beizukommen. Das wird erfolglos bleiben. Man sucht die Wurzeln allen Uebels mit der unmittelbaren psychischen und physischen Desolation der Kriegs- und Nachkriegsjahre zu belegen und übersieht recht gerne, daß immerhin ein gutes Dutzend von Friedensjahren vorübergezogen ist: Die Kriegs- und Nachkriegsjugend ist heute zwischen dreißig und vierzig Jahre alt; die Jünglinge von 1945 sind mittlerweile Väter geworden.

Die extremen Erscheinungen ihres skeptischen Desengagements, mit dem sie die an Idealen armen Jugendjahre zugebracht hatten, mögen den Jüngeren, den nach ihnen ins pubertäre Alter „Aufgestiegenen“, als Anregung gedient haben — und als nicht ehen gute. Sie mögen ein gerütteltes Maß an Schuld auf sich geladen haben, als sie es, abgestumpft und desillusio-niert, wie sie aus dem Inferno ihrer Reifejahre herausgestiegen waren, verabsäumten, für den inneren, den moralischen, den psychischen

Wiederaufbau der Gesellschaft, in die die nachfolgende Generation hineinzuwachsen begann, eine gültige, richtungweisende, eine das Gesicht der Friedenswelt von heute und von morgen formende, krisenfeste Konzeption zu formen.

Und es mag schließlich ein entscheidendes Verschulden in der allzu leichten, leichtfertigen, selbstsüchtigen und biedermeierischen Bereitschaft zu finden sein, mit der diese herangereifte, nunmehr gesellschaftsbildende Kriegsund Nachkriegsgeneration all die besorgniserregenden Erscheinungen des inferioren, ausschließlich dem restaurierten bürgerlichen Wohlstand gewidmeten Gefüges unserer sehr beiläufig, sehr gedankenlos gewordenen Gesellschaft akzeptiert haben. Sie haben nicht gesät und ernten nun die Frucht des aus den Jahren „null bis fünf“ herrührenden Versagens — aber sie sind nun eigentlich schon Outsider geworden. Sie, die unmittelbar vom Krieg und der ihn ablösenden Krise betroffen worden sind, sind nicht mehr so recht im Spiel.

Der siebzehnjährige Totschläger aus der Neustiftgasse war 1945 vier, 1950, als sich das Leben normalisierte, neun Jahre alt. Krieg und Nachkrieg mögen wohl die frühe Kindheit überschattet haben; für das jugendliche Weltbild des Heranwachsenden aber waren sie von nur geringem Einfluß; Um so intensiver beeinflußte dagegen die aus dem Nachkrieg hervorgegangene, nicht überwundene Verwirrung: Sie gebar das bedrohliche, besorgniserregende Gesicht der Friedensjugend.

„Es ist mir plötzlich eing'fall'n“, sagte er recht bieder in seiner Reue, womit er mit anderen Worten — zunächst speziell für sich, darüber hinaus aber auch für viele seiner Alterskollegen (auch wenn sie nicht so ohne weiteres auf Raubmord ausgehen) vertretungsweise — zu verstehen gab, daß es ihm, dem Kind, im entscheidenden Augenblick nicht eingefallen war, daran zu denken, daß das Menschenleben unantastbar und daß der Mord die primärsten Inneren Gesetze des menschlichen Gefühls allein als Erwägung, als Vorsatz verletzt Schlimmeres hätte er hei aller seiner, der monströsen Verrohung verfallenen „Treuherzigkeit“ eigentlich nicht sagen können.

Wir müssen uns vor Pauschalurteilen hüten; wir dürfen aber auch jene Anzeichen nicht übersehen, die es — zumindest nicht ausschließen, daß bei der Jugend unserer Gegenwart die bislang im Glauben an das Gute in den Kinderseelen verankerten Fundamente der Ethik keinen hinreichenden Schutz mehr bieten vor der sittlichen Verrohung, vor der unheilvollen Beeinflussung, vor dem Ueberhandnehmen zynischer Lebensmaximen.

Sie leben dahin, die Jugendlichen von heute, spielerisch versponnen in einem von der Zivilisation verderbten Kinderparadies der Erbsünde, in einer Talmiwelt enthemmter Miniatur-Erwachsener, in der die humanistische, menschliche Ordnung ausschließlich durch Polizei und Jugendgericht vertreten ist — mit der sie in Konflikt geraten, wenn es zu spät ist. Sie vergnügen sich, sorglos hingegeben an eine banale Scheinexistenz, die sie den äußeren Merkmalen der modernen Lebensführung abgeluchst und in der sie sich separiert haben — ohne zu wissen, was sie tun. Sie kennen ihre Sünde nicht.

Die Kluft zwischen der Jugend und ihren Erziehungspflichtigen war noch nie so groß, so tief, von soviel Mißverständnissen überschattet. Die Friedensjugend 1958 hat sich nahezu gänzlich isoliert, sie lebt in einer anderen, ihren eigenen Gesetzen gehorchenden Welt einer unernsten, von den Pflichten der menschlichen Existenz und ihrer Gesellschaft abgekehrten, laszivnaiven Friedenspubertät. Wir dürfen in unseren Bemühungen, Versäumtes nachzuholen, Fehler zu korrigieren, und der verspäteten Versuche, konstruktiv zu beeinflussen, nicht müde werden — aber es wird schwerfallen, Erfolge zu erzielen, schwerer denn je. Wir müssen uns damit abfinden. Wir müssen unsere Erfahrungen mit der Jugend — und zwar sowohl die von unseren Eltern auf uns überkommenen, wie die aus unserer eigenen Jugend in unserem Gedächtnis haftenden — an Hand völlig neuartiger Erscheinungen, über die zu lamentieren nicht sehr zweckvoll ist, revidieren.

In keiner als Beispiel heranzuziehenden Epoche unserer übersehbaren Geschichte hat die Jugend die vulgäre Mechanik des Lebensstandards der Erwachsenen lückenloser kopiert und die Lebenserfahrung und das (in unserer Gegenwart freilich nicht sehr stabile) sittliche Gerüst der älteren Generation vehementer ignoriert, als sie es heute tun, die Siebzehn- und Vierzehnjährigen. Infolgedessen waren die Chancen der geistigen Beeinflussung der Jugend zu keiner Zeit geringer, wurden die pädagogischen Experimente erfolgloser angewendet.

Mögen die Differenzen und Konflikte, die zwischen den Generationen stets aufzutreten pflegen, noch so auffallend gewesen sein — im Grunde glich der Kodex des Sohnes doch dem des Vaters: Der Junge trug zwar keinen Vatermörder mehr und er gab sich freier, larger, respektloser gegenüber der alten Ordnung; er revoltierte und goß die alten, von allzu vielem Gebrauch angenagten Ideale in neue, saloppere, sachlichere Formen — das Ethos blieb indes stets das gleiche. Der Sohn lebte, wenn nicht im Stil, so doch im Geiste der väterlichen Ehr- und

Moralbegriffe weiter. Die Jungen heute vertreten eine völlig andere (eben die mechanisierte, die automatisierte) Gesellschaft des Konsums, der Konfektion, der Surrogate. Sie scheinen gar nicht mehr zu begreifen, was man (freilich ohne sich an gutem Beispiel zu übereifern) von ihnen will. Sie haben mit ihren Eltern nur das Gehaben von Erwachsenen gemeinsam.

Vielleicht haben sie im stillen jene Revolution vollzogen, die 1945 einigermaßen unerwartet ausgeblieben ist; die Ansatzpunkte, die sich nach dem Krieg recht romantisch in literarischintellektuellen Existenzialismen kundtaten — und dann versiegten, haben sie jedenfalls auf sachlicher, unliterarischer, ultramaterialistischer Basis perfektioniert.

Diese ersten „Friedenskinder“, aufgeweckt und frühreif und tatkräftig, wie sie sind, haben — so sehr hat sich das Blatt schon gewendet — für die Erwachsenen kein „Verständnis“ mehr. Sie revoltieren nicht mit bösen Worten, sie ignorieren mit Taten. Gelegentlich haben sie ein Lächeln übrig für die Probleme und die verscherzten Positionen und für die Versagen ihrer Elterngeneration — und schon gar für ihre Phrasen. Im übrigen schicken sie sich, ohne viel nach dem Woher und Warum zu fragen, mit lüsternem Spieleifer in die Annehmlichkeiten des allgemeinen Wohlstands und denken nicht daran, die Erwachsenen als Vorbilder für Geist und Charakter zu akzeptieren oder ihnen gar individuell nachzueifern. Nur die profane Lebenstechnik der Aelteren interessiert sie und ihr Amüsement Und ihre Praxis in Beruf und Broterwerb, sonst nichts auf dieser Welt.

Sie haben alles, was sie „brauchen“, in ihrer kompletten, streng separierten, vehement verteidigten Kinderwelt der Baby-dolls und Babyvamps, der Blue-jeans-Boys und Blue-jeans-Girls: Sie haben ihre Bars und ihre Fan-Klubs, sie haben ihre eigene Mode, ihre Radiowunschkonzerte und ihre Schallplatten, sie haben i h r Kino und ihre uns unbegreifliche Faszination, die Elvis Presley auf sie ausübt, sie haben ihre Idole, Stars und Sängerinnen. Sie himmeln keine Bonvivants und Primadonnen mehr an, sondern den gleichaltrigen (siebzehnjährigen) Pter Kraus und die gleichaltrige (fünfzehnjährige) Conny Froboess; sie kennen keine Pubertätsverwirrungen mehr, sie kennen in dieser Hinsicht alles und fühlen sich ausnehmend wohl'dabei.

Einfluß der Erwachsenen? Ganz im Gegenteil: In den Bezirken des Vergnügungsgeschäftes, von den Plakatwänden, in den Prospekten für Kosmetik locken die wohlgeformten Püppchen kraft ihrer sinnlich-schmollenden Lippen und den schuldig-schuldlosen, schwarzumränderten Augen zum Eintritt in die Lustspielhäuser, zum Kauf von Seife, Makkaroni, Dessous und Eigenheim. Der Typ des „bösen Mädchens“ ist gefragt, ist Schönheitsideal sogar noch mancher junger Mütter und öffentlich sanktioniertes Reizobjekt in allen Illustrierten, und ihre Art, sich zu geben, beherrscht die Mode und die Bestseller-Literatur.

Nach sechs Uhr abends regiert der Geschmack der Dreizehnjährigen die Welt. Und vor sechs Uhr einen Teil der Großmacht Industrie. Wir haben uns mit ihnen gutgestellt und machen unser Geschäft mit ihnen — Partner einer infantilen Welt, die jene Jugend hat, die sie verdient. Wer geht da hin und ruft, daß sich die Kinder „bessern“ mögen? Wer fällt das Urteil?

Wir müssen uns vor der Pauschalierung hüten; aber wir dürfen die Zeichen der Zeit nicht übersehen. Der junge Totschläger aus der Neustiftgasse hat gar nicht mehr begriffen, w a s er tat. Er erkannte seine Sünde erst nach vollbrachter Tat. Und die anderen? Sie ziehen nicht alle auf Raubmord aus, gewiß, aber es mehren sich die Anzeichen, daß die Spielregeln ihrer schwarzen Romantik das Verbrechen nicht a priori ausschließen. Und das genügt wohl fürs erste.

Alle Blue-jeans verfügen über eine bunt abgesteppte Messertasche. Und wir haben sie erzeugt, diese Uniform, die neben der Musikbox, dem Pin-up und dem Gangsterfilm zu dem wenigen gehören, das sie uns noch abnehmen — die Erwachsenen von morgen.

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