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Mehr Liebe könnte die Wende bringen

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Depression ist zur Volkskrankheit geworden. Eine ihrer Ursachen ist die geringe Zuwendung, die Kinder in den ersten Lebensmonaten erfahren. Seit langem hat Christa Meves vor den Folgen der Vernachlässigung gewarnt. Heute ruft sie uns auf, bessere Väter und Mütter zu werden, um eine Trendwende herbeizuführen.

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Depression ist zur Volkskrankheit geworden. Eine ihrer Ursachen ist die geringe Zuwendung, die Kinder in den ersten Lebensmonaten erfahren. Seit langem hat Christa Meves vor den Folgen der Vernachlässigung gewarnt. Heute ruft sie uns auf, bessere Väter und Mütter zu werden, um eine Trendwende herbeizuführen.

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Kürzlich rief eine junge Teilnehmerin an einer Diskussion nach einem meiner Vorträge empört aus: „Sie haben uns gesagt, wie man seelische Störungen vorbeugen kann. Sie haben uns gesagt, wie man beim Sichtbarwerden der Schwierigkeiten per Selbsthilfe noch heilen kann. Aber Sie lassen es einfach aus, darüber zu sprechen, was man tun soll, wenn der Mensch kaputt ist. Deshalb bin ich hier — das allein interessiert mich!"

Anwürfe dieser Art bringen mich zum Seufzen. Daß wir von der Mitte der siebziger Jahre ab mit einem Ausbrechen der seit der frühen Kindheit schwelenden Störung rechnen mußten, wenn

wir nicht lernen würden, mit den Kindern in ihrer ersten Lebenszeit so umzugehen, daß sie seelisch gesunde Heranwachsende werden — gerade dieses hatte ich ja seit Mitte der sechziger Jahre in die Öffentlichkeit hineingerufen!

Daß seelische Erkrankungen dieser Art im Erwachsenenalter ähnlich schwer heilbar sind wie körperliche Deformationen, hatte ich immer warnend hinzugesetzt.

Aber der füßestampfende Anspruch, was kaputt sei, sei per Knopfdruck zu heilen, gehört schließlich genau in jenen Zeitgeist, der unser modisches Unglück beschwor: die selbstherrliche Fehlvorstellung, der Mensch sei so tüchtig, alles machen-zu können, erst den Menschen selbst, und wenn er dabei kaputt geht, per Klick-Klack-Rezept auch seine Reparatur.

Und zwar fordert der Mensch das von der Psychotherapie viel rigoroser noch als von den kaputten Objekten.

Ich entgegnete denn auch der jungen Dame, daß sie in diesem Ton und diesem Anspruch ihrem Automechaniker gewiß nicht gegenübertreten würde, nachdem sie ihren Volvo kaputtgefahren hätte. Beim Autounfall gäbe es sehr schnell die Überlegung nach der eigenen Schuld, nach dem Versagen der Bremsen, nach dem Verstoß gegen die Verkehrsordnung und auch, selbst wenn sich erweist, daß das Auto nicht mehr repariert werden kann, das Schlußfolgern aus einem solchen Ereignis: der Konsequenz, sich in Zukunft anders zu verhalten oder

den, der am Unglück schuld war, durch die Schuldzuweisung zu veranlassen, daß er daraus Lehren zieht.

Wie merkwürdig wenig schafft es der moderne Mensch, die gleiche Haltung auch im Umgang mit sich selbst zu praktizieren; denn gerade wenn wir es in unserem Umkreis erlebt haben, daß durch unser Mitlaufen im Zeitgeist oder durch unser unrichtiges Informiertsein nicht reparables Versagen entstanden ist — gerade dann, und dann erst recht, sollten wir uns mitverantwortlich dafür fühlen, daß das Unglück sich bei anderen Menschen, die die Zusammenhänge nicht im Bewußtsein haben, nicht wiederholt!

Wir können den Status einer so großen Häufigkeit der Volkskrankheit Depression doch nicht dadurch festschreiben, daß die Wissenden in egoistischer Resignation sagen: Wenn’s bei mir schon schieflief, soll es bei den anderen nicht besser gehen!

Kürzlich schrieb mir eine Mutter, deren Sohn an seiner Rauschgiftsucht zugrunde gegangen war, sie habe einen Verein zur Rauschgiftvorbeugung gegründet, und ein Hauptteil ihrer Aktivitäten bestünde darin, die jungen Mütter in der Wochenbettzeit zu besuchen, sie über die lebenswichtigen Entfaltungsbedingungen aufzuklären und Bücher von mir, der Still-Liga, Hanni Lothrop (Das Stillbuch, Kösel) und Martha Ehler (Ich will mein Kind stillen, Brockhaus) zu verteilen. Was für eine tapfere Konsequenz eines so, so tragischen Schicksals einer geschlagenen Mutter!

Es bekümmert mich immer wieder, wie wenig bußfertig unsere Generation sich häufig erweist.

Warum wird es jetzt nicht zum Gesetz erhoben, daß die Neugeborenen Tag und Nacht bei ihren Müttern bleiben dürfen? Warum ist die Anleitung zum Stillen nicht erstes Hauptfach der Kinderkrankenschwestern? Warum gibt es keine Gesetze, die die Mütter verpflichten, mindestens 18 Monate ganz bei ihren Kindern zu bleiben? Warum wird die Lösung der Frauenfragen nicht systematisch angepackt, so. daß es den Müttern möglich wird, sich nicht als abgestellt zu erleben und ihre Erfahrungen in der Familie später auch überpersönlich und außerhäuslich einsetzen zu können?

Warum lernen wir im technisierten Wohlstand nicht aus den Gefahren, die unsere Zukunft bedrohen? Ich glaube zu ertasten, woran das liegt: Es müßten zu viele Menschen lebenslängliche Irrtümer, lebenslängliche Mitschuld zugeben: die Gynäkologen, die Pädiater, manche Psyqhologen. die Politiker.

Mein großer Trost - angesichts dieser generellen Uneinsichtig-V keit im Hinblick auf die epidemische Seelenkrankheit, die so viele Menschen der jungen Generation unfähig macht, arbeiten und lieben zu können - ist das Fähnlein der Bewußten und Sich-mitver-antwortlich-Fühlenden.

Gott ist ja glücklicherweise auf Emnid und Noelle-Neumann nicht angewiesen. Er läßt ein sich versündigendes Volk gelegentlich sogar gnädig ungestraft, so wissen wir seit Abraham — wenn nur einige da sind, die ihm die Treue halten. Auf jeden von uns kommt es deshalb an, das müssen wir wissen, und auf jeden, den wir hinzugewinnen, sein Leben bewußt als einen Auftrag im Dienst für Gott zu verstehen.

Dabei ist es bestimmt auch zwingend notwendig, daß wir uns mit von den Zielen der Umweltschützer erfassen lassen. Er muß wieder ins Maß, unser Umgang mit der Mutter Erde! Und dieses neu zu erhorchende Maß fängt beim verantwortlichen Maß mit der Natur des Menschen selbst an.

Aber wir dürfen aus Sehnsucht nach der Bergung durch die eigene Mutter, bei der wir nicht liebessatt wurden, nicht einen neuen Baal-Kult, eine neue Anbetung der Magna Mater aus dem Boden stampfen wollen! Wer sich mit dem Urmeer einläßt, wird vom Ungeheuer aus der Tiefe verschlungen, d. h. Regression zur Mutter bewirkt Triebgefangenschaft, Anarchie und gewalttätigen Aufstand.

Eine personale geistige Erneuerung

Das ist eine der gefährlichsten Versuchungen der Menschheit. Fortschritt - oder auch nur Fortbestand ist so nicht zu erreichen. Er erwächst nur auf dem Boden sich selbst überwindender, bußfertiger, opferbereiter Liebe.

Unser Menschenweg geht von der Natur zum Geist, von der Mutter zum Vater, von der Triebgebundenheit zur selbstverantwortlichen Freiheit aus und in Liebe. Von diesem Schöpfungsziel können wir zwar abweichen, aber wir können es nicht umstecken, ohne uns selbst zu vernichten.

Dies müssen wir vertreten; wir müssen mit Fakten argumentieren, wir müssen es vor allem leben und erbeten, tagaus und tagein. Der Ansatzpunkt für die Gesundheit unseres Volkes, um die wir immer wieder kämpfen, ist die Familie. Darum wende ich mich in fast allen meinen Taschenbüchern immer wieder an die Mütter und die Väter. Ich will ihnen helfen, ihren Auftrag richtig zu sehen und in kritischen Erziehungssituationen die richtige Entscheidung zu treffen.

•Wir müssen laut und vernehmlich unseren Willen und unser Bemühen um eine tiefe, personale geistige Erneuerung bekunden, wenn wir hoffen wollen, daß auch unsere Politiker es wagen, sich aus den schäbigen Mänteln des Opportunismus herauszuschälen.

Konkrete Ratschläge für die Umsetzung dieses Anliegens gibt die Autorin in dem Buch: WAS UNSERE LIEBE VERMAG. Herder Verlag. Wien-Freiburg 1982. 350 Seiten, öS 260,-.

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