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Blind und die Zeichen taub für der Zeit

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Die abweisende Geste der Wirtsleute: Ist sie nicht ein Symbol auch für unsere Haltung? Viele Signale weisen heute auf die Notwendigkeit einer Neuorientierung hin -werden aber abgewiesen.

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Die abweisende Geste der Wirtsleute: Ist sie nicht ein Symbol auch für unsere Haltung? Viele Signale weisen heute auf die Notwendigkeit einer Neuorientierung hin -werden aber abgewiesen.

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Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war“, berichtet der Evangelist Lukas kurz und bündig über die Geburt Jesu Christi: Der Retter der Welt von Herbergsleuten abgewiesen. Dieses Thema hat zu zahlreichen Darstellungen angeregt. Viele zeigen die Herzenshärte der im Warmen Sitzenden, ihre Unfähigkeit das Große, Rettende in unscheinbarem Äußeren zu erkennen.

Aus der Sicht dessen, der zeitlich Abstand zu diesem Ereignis hat, fragt man sich unwillkürlich: Wie konnten sie nur so blind sein, die

naheliegende Rettung vorbeigehen zu lassen? Woher kommt die mangelnde Sensibilität für den Anruf, das Wirken Gottes?

Diese Begebenheit scheint mir ein zeitloses Sinnbild für die Situation des Menschen zu sein. Unsere Gesellschaft befindet sich heute genaugenommen in derselben Situation: Scheinbar heimelig im eigenen Wohlstand eingerichtet, sind wir doch weitgehend unfähig, den Anruf Gottes wahrzunehmen. Dieser macht sich auch heute sehr weltlich bemerkbar, allerdings deutlicher als vor 2000 Jahren. Fehlt uns nicht wieder jegliche Hellhörigkeit?

Seit bald 20 Jahren verdichten sich die Anzeichen dafür, daß unser Konzept von wirtschaftlichem Fortschritt, von Wachstum als Wohlstandsmehrung, falsch ist (Man erinnere sich an „Grenzen des Wachstums“). Immer deutlicher werden seither die Alarmsignale aus der Umwelt. Sie haben jetzt schon weltweites Ausmaß: der Abbau der Ozonschicht, die Klimaveränderung, die um sich greifende Verseuchung von Grund- und Meereswasser (neuesten Meldungen zufolge ist die obere Adria derzeit biologisch tot), das Anwachsen der Wüstengebiete...

Wie aber reagieren wir? Zunächst einmal mit Resignation und Abstumpfung. Die Umweltkatastrophen sind fixer Bestandteil der täglichen Lektüre geworden: Ölpest in Alaska, Grundwasserkata-strophe in der Mitterndorfersenke, Robbensterben in der Nordsee, gesperrte Strände an der Adria, Smog über Wien und Graz... Alte Hüte, man blättert weiter.

Dennoch: Ein gewisses Unbehagen macht sich breit. Die Greinen gewinnen an Stimmen, die übrigen Parteien beginnen, sich für „grüne“ Anliegen zu erwärmen. Umweltfragen werden zu Wahlkampfthemen. Das ist zu begrüßen. Aber hat sich an unserem Grundkonzept etwas geändert? Geht es uns nicht weiterhin primär um unseren Wohlstand?

Wenn Brasilien die Regenwälder abholzt und damit das Weltklima -also auch unseres - gefährdet, überlegen wir uns in den Industrieländern, ob Wirtschaftshilfe nicht an ökologisches Wohlverhalten zu knüpfen sei. Weniger sensibel sind wir jedoch, wenn es darum geht, bei uns ausgediente Industrieanlagen an den Mann zu bringen. Da verkaufte etwa die staatliche Saarbergwerke AG ihre 30 Jahre alten Kohlekraftwerksblöcke nach Indien. Sie waren in Deutschland nicht mehr zur Genehmigung zugelassen, werden nun aber auf dem Subkontinent die Luft verpesten.

Oder: Produkte, die bei uns endlich verboten sind, werden weiter in der Dritten Welt erzeugt und abgesetzt. Man denke an Bhopal. In der Dritten Welt lassen sich auch jene Projekte planen, die bei uns nicht mehr durchzubringen wären: Etwa ein 185 Meter hoher Riesenstaudamm am Jangtsekiang (18 Jahre Bauzeit, voraussichtliche Kosten 126 Milliarden Schilling). Die mit dem Projekt verbundenen Umweltprobleme seien lösbar, wird lapidar festgestellt.

Daß wir nichts gelernt haben, wird auch an unserer Einstellung zum Wachstum deutlich: Dieselben Zeitungen, die Umweltalarm geben, feiern auf ihren Wirtschaftsseiten Wachstumsraten als frohe Wohlstandsbotschaft. Die E-Wirtschaft setzt weiter auf höheren Stromverbrauch, die Verkehrslobby mobilisiert gegen Österreich wegen der überfälligen Tiroler Verkehrsbeschränkungen, der Boom auf dem Automarkt wird gefeiert: „1989 könnte absatzmäßig zum Rekordjahr werden. Branchenkenner rechnen mit mehr als 280.000 verkauften Neufahrzeugen, womit der Automarkt heuer erstmals die 55-Milliarden-Schilling-Schallmauer durchbrechen könnte“, liest man in der Tagespresse. In Japan gibt es das höchste Quartalswachstum seit 1973, die deutsche Industrieproduktion wird heuer um 4,5 Prozent wachsen: Hurra!

Der Tanz um das goldene Kalb geht munter weiter: „Shopping macht happy“. Wer erkennt in der ökologischen Bedrohung den Anruf des Schöpfers zu einem maßvollen Lebensstil? Wer hört darin ein Echo der Worte: „Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben“; „sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde...“; „macht euch keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Euer himmlischer Vater weiß, daß ihr das alles braucht...“?

Nicht nur von der Umweltfront kommen Signale, auch aus anderen

Bereichen: Da ist unsere erschrek-kend negative Einstellung zum Kind. Die erste Botschaft im Sexualkundeunterricht lautet: Kinder sind zu verhüten, sind eine Gefahr für das persönliche Glück. Die nächste Botschaft bei der Lebensplanung von Mann und Frau: Das Glück liegt im Beruf, in der Karriere. Dem stehen Kinder im Weg, denn sie kosten Zeit, Geld, Mühe. Sie machen abhängig.

Der Erfolg: Frühzeitiges Abschieben in Krippen, Horte und Kindergärten, viele sich selbst überlasse-ne Kinder und Jugendliche, rückläufige, mittlerweile auf niedrigem Niveau stabilisierte Geburtenzahlen, eine Bevölkerung, die in absehbarer Zeit schrumpfen wird, Probleme mit der Altersversorgung, mit den Pensionen, mit Drogen, Jugendverwahrlosung, Depressionen... Unsere Reaktion: Wir überlegen uns neue Versicherungsmodelle, neue Konzepte für Alters- und Jugendheime, für Heimpflege und Sozialarbeit. Aber nur ja keine Anfrage an unsere Grundeinstellung.

Wir „pushen“ weiterhin Quotenregelung und Frauen in Männerberufe, rühren die Werbetrommel für Verhütung und Emanzipation: Macht euch nicht abhängig voneinander, laßt euch in eurer Persönlichkeitsentfaltung nicht behindern, euch den Spaß miteinander nicht durch überholte, moralinsaure Gebote verderben.

Tagtäglich wird uns diese Botschaft vorgesetzt. Beispiele gefällig? Titelstories der „Bunten“: „Warum wir unsere Männer verlassen - die neuen starken Frauen“ oder „Die neue Sehnsucht des alten Mannes nach dem jungen Mädchen“. Zu letzterem Thema liest man folgendes: „Der gemachte Mann ist von großem Reiz für neugierige Mädchen, die es eilig haben und ein paar Etappen überspringen wollen: die Zwei-Zimmer-Wohnung, den VW Polo, den Bausparvertrag, die American-Ex-press-Karte vom Vater. Der gemacht Mann hat Geld - und scheint sorglos, übt Nachsicht, ist ein geduldiger Liebhaber ohne Hast.“

Oder die Äußerungen des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Hubert Markl, der im Zusammenhang mit Aids festgestellt hat: „Wer wünschte nicht, daß die Hoechst AG oder andere so schnell wie möglich eine Schutzimpfung oder ein Medikament dagegen entwickeln? Noch der erbittertste Feind der Großchemie würde wohl diese Alternativen den augenblicklich drohenden Folgen der Alternative zur Partnertreue und Keuschheit vorziehen.“

Auch hier die Grundaussage: Alles versuchen, aber nur ja nicht vom bisherigen Weg abbringen lassen. Weitermachen wie bisher! Wir werden den Schaden schon in den Griff bekommen, wie uns das Plakat „Schutz aus Liebe“ im Zusammenhang mit Aids belehrt: Ein eng umschlungenes nacktes Paar macht unausgesprochen Werbung für Präservative - und für vor- oder außerehelichen Geschlechtsverkehr. Denn warum sollte man sich vor dem treuen Ehepartner „schützen“?

Aber wie gesagt, Aids bringt unsere Vorstellungen ebenso wenig ins Wanken wie das Leiden der Kinder aus zerbrochenen Beziehungen, wie die zahllosen im Mutterleib getöteten Kinder, deren einzige Schuld es war, die ungewollte Folgeerscheinung falsch verstandener Liebe gewesen zu sein, wie das Trauma der Frauen, die sich solcher „Befreiung“ unterzogen haben.Sollte das nicht an den Satz erinnern: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren“?

Ein anderes, besonders brennendes Problem sei noch gestreift: die Genforschung und Humangenetik. Wir haben wirklich nichts aus den unvorhergesehenen Pannen, die etwa beim massiven Einsatz von Atomtechnik und Chemie entstanden sind, gelernt. Jetzt wird zum „Heil der Menschen“ auch noch an der Erb- Substanz von Mensch, Tier und Pflanze herumgedoktert, um die „Evolution“ nicht dem blinden Zufall zu überlassen, sondern von unseren „vernünftigen Einsichten “ her zu leiten. Die Ergebnisse sind mager (von zehn künstlich befruchteten Frauen bekommt nur eine ein Kind) und in ihrer Sinnhaftigkeit fragwürdig (noch effizientere Agrarproduktion in einer Zeit der Überproduktion). Aber wer dürfte die Forschung und die Technik bremsen? Wer dieses Tabu in Frage stellt, steht sofort im reaktionären Eck.

Wir laufen weiterhin der Wegweisung des Descartes nach, koste es, was es wolle: Es gehe darum, „die Kraft und Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne und aller anderer Körper, die uns umgeben (er war - wie die Forscher seither - nicht bescheiden), kennenzulernen, sodaß wir sie zu allen Zwecken... verwenden und uns so zu Herren und Eigentümern der Natur machen.“

Objektiv betrachtet scheitert dieses Projekt vor unseren Augen. Längst hat sich herausgestellt, daß sich die Wissenschaft überhebt: Trotz all unserer Erfolge wächst die Ungeborgenheit, nehmen die Zahl und die Dimension der Krisen zu, geht die Orientierung verloren... Wer Augen hat zu sehen, kann dies als Anruf Gottes begreifen, unser weitgehend gottloses Weltbild in Frage zu stellen und umzukehren. Die „Weisen und Klugen“ werden sich dabei schwertun, sind sie doch die Stützen des Systems. Die Armen und „Unmündigen“ aber haben die Chance zu begreifen: Das Heil kommt vom Herrn. Seine Botschaft weist Wege auch und gerade besonders offenkundig für unsere selbstherrliche Zeit.

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