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Steaks statt Antibabypille?

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Die Menschheit vermehrt sich heute, so der „Club of Rome“ in seiner Salzburger Erklärung, alle zehn Jahre um eine runde Milliarde Menschen — wobei sich mehr und mehr die Einsicht Bahn bricht, daß die Nahrungsbeschaffung für eine derart explosiv anwachsende Weltbevölkerung nicht das einzige (und eines Tages vielleicht nicht einmal das größte) Problem sein wird. Verdoppelung der Menschheit bedeutet nicht nur Verdoppelung der Nahrungspröduktion, sondern auch Verdoppelung der Zahl an Wohnbauten,“ Schulen, Spitälern, Verdoppelung der Kapazität aller Infrastrukturen.

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Die Menschheit vermehrt sich heute, so der „Club of Rome“ in seiner Salzburger Erklärung, alle zehn Jahre um eine runde Milliarde Menschen — wobei sich mehr und mehr die Einsicht Bahn bricht, daß die Nahrungsbeschaffung für eine derart explosiv anwachsende Weltbevölkerung nicht das einzige (und eines Tages vielleicht nicht einmal das größte) Problem sein wird. Verdoppelung der Menschheit bedeutet nicht nur Verdoppelung der Nahrungspröduktion, sondern auch Verdoppelung der Zahl an Wohnbauten,“ Schulen, Spitälern, Verdoppelung der Kapazität aller Infrastrukturen.

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So scharf der „Club of Rome“ (und nicht nur er) die Situation sieht, so sibyllinisch sind all seine Ratschläge. So erkennt der Klub durchaus die Problematik allzu kurzfristiger Planungen infolge kurzer Wahlintervalle, kann aber den Regierungen nur raten, „ihre Strukturen und Verfahren zu überprüfen, um bei ihren laufenden Entscheidungen die zukünftigen Notwendigkeiten entsprechend zu berücksichtigen“. Jedes weitere Wort könnte wohl bereits die eine oder andere Regierung verprellen.

Die in Hongkong erscheinende „Far Eastern Economic Review“, eine der einflußreichsten und seriösesten Zeitschriften Asiens, schlug in ihrer Vorausschau auf das Jahr 1974 dumpfe Töne an: Gestützt auf UNO-Statistiken, aber auch Angaben der einzelnen Regierungen, prophezeit das Blatt bereits für dieses Jahr eine Verschärfung der Ernährungssdtua-tion in vielen Entwicklungsländern, für die nächsten zehn Jahre aber ein Anwachsen der asiatischen Bevölkerung von zwei auf vier Milliarden Menschen, wenn sie sich im gleichen Ausmaß wie jetzt vermehrt. Auch Waldhedms Vorgänger im UNO-Generalsekretariat, U Thant, prophezeite knapp vor seinem Rücktritt unglaubliche, „unser Kontrollvermögen weit übersteigende“ Proportionen des Bevölkerungsund Welternährungsproblems, falls is nicht in den kommenden zehn Jahren gelingt, die Vermehrung der Menschheit unter Kontrolle zu bekommen und zu entschärfen.

Was in den europäischen und amerikanischen Tageszeitungen wie eine gedämpfte Warnung vor weit vor uns liegenden Gefahren klingt, nimmt im Gespräch mit UNO-Bevöl-kerungsstatistikern, FAO-Landwirt-schaftsexperten und ähnlichen Berufspessimisten, deren Pessimismus eine direkte Folge ihres Informationsstandes ist, die Dimension einer unaufhaltsam auf die Menschheit zukommenden Katastrophe an, die nur noch eine Frage des Datums ist.

In diese Situation platzt der Brasilianer Josue de Castro mit der Neuformulierung von Theorien, mit den-nen er bereits 1952 eine erbitterte Diskussion entfesselt hatte. Bei näherem Zusehen unterscheiden sie sich freilich zumindest in ihren Konsequenzen für die nächste Zukunft nur bedingt von den Ansichten seiner Fachkollegen.

Sein Buch heißt „Geopolitik des Hungers“, aber seine brisanteste These prangt in der deutschen Ausgabe (bei Suhrkamp) so groß und provokant auf dem Einband, daß man sie für den eigentlichen Titel des Buches halten könnte: „Nicht die Uberbevölkerung ist Ursache des Hungers. Sondern der Hunger ist Ursache der Uberbevölkerung.“

Daß steigender Lebensstandard die Geburtenzahlen bremst, war lange bekannt, wurde aber von den meisten Menschen lediglich für die Folge geänderter ökonomischer Umstände und davon ausgelöster Verhaltensweisen gehalten. Josue de Castro unterlegt diesem „ökonomischen Naturgesetz“ ein biologisches, das bisher stets nur bruchstückhaft in das: Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit geriet und das man, sehr vereinfachend, auf den Nenner bringen könnte: Steak statt Antibabypille. Genauer: Selbst ohne andere Mittel der Geburtenkontrolle würde sich der unterernährte Teil der Weltbevölkerung, und damit ihr größter Teil, wesentlich langsamer vermehren, wenn : es . gelänge,.., sie besser — und das heißt vor allem: mit mehr tierischem Eiweiß — zu ernähren. Castro führt die alte Erfahrungstatsache „Der Tisch des Armen ist mager, aber das Bett des Elends ist fruchtbar“ nicht nur auf soziologische und psychologische, sondern auch auf physiologische Ursachen zurück.

Das hat, Castro zufolge, zwei Gründe. Erstens das Konkurrenzverhältnis zwischen Ernährungs- und Fortpflanzungstrieb, das dazu führt, daß eine Schwächung des einen den anderen stärkt und ,der chronische Hunger ... die sexuellen Funktionen als emotionale Ausgleichsmechanismen“ zusätzlich betont. Zweitens und vor allem aber zitiert Castro eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen, aus denen tatsächlich hervorzugehen scheint, daß zwar „völliger Eiweißmangel zu Sterilität führt“, ein nicht totaler, aber doch die Gesundheit und Widerstandsfähigkeit entscheidend herabsetzender Eiweißmangel aber die Fruchtbarkeit verstärkt. „Mit starken Eiweißdosen, die eine große Uberlebenschance garantieren, nimmt die Zahl der Nachkommen ab, bei unzureichendem Eiweißgehalt vermehrt die Natur die Zahl der Nachkommen, um das Überleben der Art zu gewährleisten.“

Was die Rattenversuche von J. R. Slonaker bereits in den zwanziger Jahren überzeugend erwiesen (Sterilitätsziffern von 76 Prozent bei gut und reichlich, 19 Prozent bei den schlecht und spärlich ernährten Männchen, 75 bzw. 27 Prozent bei den Weibchen), sucht Castro anhand internationaler Vergleichsziffern über Geburtenrate und Eiweißaufnahme für den Menschen zu verifizieren, was aber nur bedingt gelingen konnte, da genetische Faktoren außer Betracht blieben. Plausibler klingt der Hinweis auf das plötzliche Sinken der Geburtenziffern in Puerto Rico seit 1947 infolge verbesserter Ernährung. Castro zitiert Maria A. Rudzinska, die, nach Experimenten über den Zusammenhang zwischen Ernährung und Fruchtbarkeit bei Einzellern, zu der Ansicht gelangte, „daß, wenn man bei Einzellern ebenso wie bei Säugetieren eine so eindeutige Beziehung feststellen kann, es sich um einen grundlegenden biologischen Faktor handelt, der das Leben aller Organismen, auch der Spezies Mensch, beeinträchtigt“.

Natürlich weiß auch Josue de Castro, daß die Antibabypille billiger ist als das Steak. Aber er greift die Neo-Malthusianer, die Vertreter moderner, aber bei Malthus ansetzender Vertreter der Verelendungstheorie, deren modernste Ausprägung ja beim (in diesem Buch noch im Hintergrund drohenden) „Club of Rome“ zu lokalisieren sein dürfte, auf mehreren Fronten an. Und unter Heranziehung alles dessen, was man heute allein über die Möglichkeiten gezielter Saatgut-Verbesserung weiß, kann man ihm nur recht geben, wenn er erklärt, daß die Erde in der Lage wäre, eine noch wesentlich größere Zahl von Menschen zu ernähren, als heute leben, wenn wir alle anderen Elemente der Lebensqualität außer acht lassen. Josue de Castro tritt mit gutem Grund, aber keineswegs als einziger, für eine massive Ausweitung aller Anstrengungen auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe ein, die alle darauf hinauslaufen müßten, die Entwicklungsländer in die Lage zu versetzen, selbst eine einstweilen noch weitersteigende Bevölkerung so gut zu ernähren, daß der geburtenbremsende Effekt der Wohlgenährt-heit einsetzen kann.

Mit der Forderung, zuerst müsse mehr Nahrung her, dann werde die Geburtenrate sinken, grenzt er sich klar und wohltuend von allen jenen ab, die nach verstärkter Geburtenkontrolle schreien und sich auf diese Weise einen erhöhten Einsatz auf dem Feld der Entwicklungshilfe zu ersparen hoffen. Aber auch wenn man, im vollen Einklang mit dem ideenreichen und kämpferischen Brasilianer, in den alarmierenden Geburtenraten der Hungerländer eine Art Fieber sieht, das lediglich das Symptom einer Krankheit namens Unterernährung ist, muß man sich die Frage stellen, ob ein Kranker mit so hohem Fieber geheilt werden kann, ohne auch das Symptom, sprich das Fieber beziehungsweise die Geburtenrate, zu senken.

Josue de Castro sieht die Situation der Menschheit keineswegs rosiger als der „Club of Rome“ — er sieht sie nur aus einem anderen Blickwinkel, er ergänzt dessen Ansichten, bedarf freilich avch selbst der Ergänzung. Es ist nur zu richtig, wenn er feststellt: „Ohne eine Hebung des Lebensstandards der ärmsten Bevölkerungsgruppen, die zwei Drittel der Menschheit ausmachen, ist der Zivilisationsstand des übrigen Drittels nicht zu halten. Diese Zivilisation beruht auf einem hohen Produktionsniveau, das unaufhörlich die Erweiterung der Märkte verlangt. Das wird nur durch die Einbeziehung jener zwei Drittel in die Weltwirtschaft möglich sein, die heute an ihrem Rande vegetieren. Nur wenn Kaufkraft und Konsumkapazität dieser Randgruppen erhöht werden, wird die technische Zivilisation überleben und im Rahmen ihrer gegenwärtigen sozioökonomischen Struktur prosperieren können.“

Dem hätte der „Club of Rome“ wohl nur die Frage entgegenzustellen, ob denn, auch wenn die Nahrungsressourcen dieses Planeten selbst für eine noch zahlreichere Menschheit ausreichen sollten, die armen zwei Drittel der Menschheit auf den Standard des reichen Drittels gehoben werden können, ohne die Rohstoffvorräte der Erde innerhalb weniger Generationen zu verbrauchen und die Umweltbelastung durch eine derart expandierende Industrialisierung ins Selbstmörderische zu maximie-

Gleicher Lebensstandard für alle kh\on heute leibenden -Menschen hieße: unter allen Umständen Rückentwicklung der technischen Zivilisation. Auch wenn der Erdball dreimal soviel Menschen ernähren kann, wie heute leben — die Vollmotorisierung auch nur der heutigen Menschheit, ganz zu schweigen von einem adäquaten Energieverbrauch, würde bedeuten, daß der point of no return auf dem Weg zum Untergang demnächst überschritten wird.

Leider scheint, so gerne man Josue de Castro recht gäbe, der Ernährungsstandard einer Bevölkerung von ihrem technischen Lebensstandard schwer ablösbar, will sagen: 500 Millionen Inder, die sich genügend Steaks leisten könnten, um aller anderen Mittel zur Bevölkerungskontrolle entraten zu können, würden wohl auch alles andere haben wollen, was zum Steak-Standard gehört — von der Klarsichtverpak-kung besagten Steaks bis zum Auto. Josue de Castro hat dann recht, wenn man von einer bereits erfolgten Reduktion der Weltbevölkerung ausgeht. Denn nur eine Menschheit, die aus wesentlich weniger Menschen, als heute leben, bestünde, könnte mit gutem Gewissen gegenüber ihren Nachkommen jenen Lebensstandard genießen, dessen sich auch nur das Mittelfeld der Entwickelten (ganz zu schweigen von den Konsum-Spitzenreitern) erfreut. Da eine Reduktion der Weltbevölkerung ohne Katastrophen kaum vorstellbar ist, muß sich die Menschheit damit vertraut machen, noch längere Zeit ein Gefälle des Lebensstandards zu ertragen — was Konsequenzen hat, die heute nicht einmal der „Club of Rome“ auszusprechen wagt. Wäre er ehrlich, müßte er sagen, daß für die Zukunft der Menschheit eine gewisse Rückentwicklung des Lebensstandards (oder wenigstens ein absolutes Nullwachstum) bei den Spitzenreitern mindestens genauso wichtig wäre wie das Durchgreifen der Geburtenkontrolle bei den Indern. Mit einem Minimum an Realismus ist einzusehen, daß ersteres mindestens so schwer herbeizuführen ist wie letzteres.

Bliebe allenfalls die Alternative einer zivilisatorisch anspruchslosen, aber wohlgenährten Bauerngesellschaft in jenen übervölkerten Ländern — eine Vision, die aber wiederum an der Tatsache zerschellt, daß in Ländern mit explodierender Bevölkerungszahl, seien es Indien, die Türkei oder gewisse lateinamerikanische Länder mit jährlichen Bevölkerungszuwächsen von jeweils über drei Prozent, die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion schon heute nur mit technischen Mitteln möglich ist, die den in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerungsanteil immer mehr senken und das Millio-nenheer der Arbeitslosen in den unkontrolliert anwachsenden Großstädten vermehren.

Bleibt die Kritik an der menschlichen Gesellschaft, wie sie ist — und die Vision einer Menschheit, wie sie sein könnte, bräche heute nacht schlag Mitternacht das Zeitalter der Vernunft an. Und es bleibt eine glänzend verifizierte Theorie, nämlich daß nicht der Hunger die Ursache der Uberbevölkerung sei, sondern umgekehrt — zusammen mit einem Rezept zur Überwindung des Hungers, das leider nur partiell gangbar erscheint. Indien etwa müßte, um dieses Rezept zu befolgen, so viele landwirtschaftliche Maschinen einführen oder selbst erzeugen, daß es mit seinen heutigen finanziellen Möglichkeiten nicht einmal den Treibstoff für diese Maschinen importieren könnte. Man muß bedenken: Der Koloß Indien mit seinen bald 600 Millionen Menschen hat ein viel geringeres Außenhandelsvolumen, geringere Exporterlöse, geringere Fremdenverkehrseinnahmen als das winzige“ Österreich. Adäquate Hilfe ist, Josue de Castro hin, „Club of Rome“ her, nirgends in Sicht. Daher kann, auch wenn der indische Boden bei moderner Bearbeitung zwei Milliarden ernähren könnte, unter den gegebenen Verhältnissen der Lebensstandard bei steigender Bevölkerung nur stagnieren oder — eine Kette guter Monsune, wie es sie noch nie gegeben hat, vorausgesetzt — langsam steigen.

Die Realität sieht so aus: Gegenwärtig ein bestenfalls stagnierender Lebensstandard in Indien, dafür steigende Bevölkerungszahl trotz verzweifelter Aufrufe zur Geburtenkontrolle. Eine knappe Ernährungsbasis selbst in einem großen Teil der arabischen Länder,, die doch über das schwarze Gold verfügen, aber nicht einmal untereinander jenes Minimum an menschlicher Solidarität aufbringen, das Idealisten (und auch Realisten) von der ganzen Menschheit im Interesse ihres Uberlebens fordern. Traditionell unter- und fehlernährte Bevölkerungen in vielen afrikanischen Staaten. Eine zurückgehende Pro-Kopf-Produktion an Grundnahrungsmitteln in einigen lateinamerikanischen Ländern in den letzten Jahren.

Der Teilstaat Uttar Pradesh etwa im Norden Indiens ist kleiner als England, hat aber um 20 Millionen mehr Einwohner. Hier leben heute 300 Menschen auf jedem Quadratkilometer, in Großbritannien 247, in Belgien 311, in Holland 357 Menschen, um Europas Ballungsräume zu nehmen. Aber während in Europa die Bevölkerung nur langsam wächst, werden in Uttar Pradesh in 27 Jahren, im Jahr 2000, hier mindestens 600 Menschen auf jedem Quadratkilometer leben — eher mehr.

Aber während man in Italien 1800 Kilo, in Japan 1400 Kilo Reis pro Morgen Land erntet, ringt der indische Bauer seinem Boden selbst dort, wo er fruchtbar ist und wo es Wasser gibt, nicht viel mehr als 500 Kilo Reis ab. Und Indien besitzt zwar die Hälfte des Weltbestandes an Rindern, aber 15 indische Kühe geben so viel Milch wie eine amerikanische Kuh. Seit Jahrhunderten unterernährt, hat die indische Bevölkerung — als Folge des Hungerns, aber auch massenhaft verbreiteter Leberschäden — längst die Lust am Essen verloren. Curry, Curry in Riesenmengen, das „Salz des Ostens“, wird von den Hungernden gebraucht, um sich etwas Appetit auf das Wenige zu machen. Die Lebenserwartung stieg seit dem Abzug der Engländer um 10 Jahre auf knapp über 40, aber der Lebensstandard sank. — Woher also das Josue-de-Castro-Steak?

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