6657401-1959_37_06.jpg
Digital In Arbeit

Weltprobleme in Tabellen

Werbung
Werbung
Werbung

Aus der Fülle der Probleme, die kürzlich beim Internationalen Bevölkerungswissenschaftlichen Kongreß Wien 1959 dargeboten wurden, hat über unsere Einladung Dozent Rosenmayr von der Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle am Institut für Soziologie der Universität Wien einen Ausschnitt herausgegriffen und damit Fngen aufgeworfen, die wir auch weiterhin im Brennpunkt der Diskussion wissen wollen. / „Die Furche“

Selten noch ist klare und umfassende Erkenntnis menschlichen Zusammenlebens so dringend notwendig gewesen wie in unserer Zeit. Die Abhängigkeit gesellschaftlicher Gruppen voneinander, die Durchdringung und Wechselseitigkeit von Interessen sind so weit gediehen, daß kleine Veränderungen im wirtschaftlichen Produzieren oder in der Lebensweise große Wandlungen hervorrufen können, welche einen die Gesamtheit der Gesellschaft betreffenden Effekt zur Folge haben. Darum kommt der zahlenmäßigen Vergegenwärtigung von Lebensvorgängen auch in den Sozialwissenschaften heute besondere Bedeutung zu. Die Demographie ist eine solche, auf zumeist amtliche statistische Zählungen sich stützende Beschreibung, Vergegenwärtigung und Deutung von Bevölkerungsproblemen. Nach Gerhard Mackenroth hat sie es mit den „sozialen Massentatsachen des Geborenwerdens, Heiratens und Sterbens“ zu tun und mit den Gesetzmäßigkeiten in diesen Vorgängen und deren

Auswirkungen auf die „wirtschaftlichen und sozialen Gesamtprozesse“.

Der in Wien vergangene Woche abgehaltene Internationale Bevölkerungswissenschaf tliche

Kongreß hat auch die ganze Entfaltungsbreite dieser Grundlagenwissenschaft auf gewiesen; die Thematik von Geburt, Tod, Eheschließung, Schwangerschaft, die Probleme der regionalen Verteilung der Bevölkerung und ihrer Wanderungen sowie die Verbesserung des methodischen Rüstzeugs sind in mehr als achtzig dem Kongreß vorgelegten Fachbeiträgen abgehandelt und von den knapp 200 Delegierten diskutiert worden. Bei dieser Streuungsbreite von Thematik können nur einige der behandelten Fragen hier angemerkt werden.

Eine der drängendsten Fragen — dem Europäer zwar bekannt, aber wegen der großen Entfernung zu den Schauplätzen dieser Problematik doch in ihrer Tragweite, Gewichtigkeit und Eindringlichkeit kaum bewußt — ist jene der starken Vermehrung der Weltbevölkerung. Professor H. L. Zeegers, der Herausgeber der katholischen internationalen demographischen Zeitschrift „Sozialer Kompaß", hat im Jahre 1956 zur Illustration des Ausmaßes und zunehmenden Tempos dieser Bevölkerungsvermehrung folgende Tabelle aufgestellt:

Professor W. Brand prognostiziert in seinem dem Bevölkerungswissenschaftlichen Kongreß vorgelegten Referat in diesem Jahr für die vorauszusehende Verdoppelung der Weltbevölkerung statt eines Zeitraums von 50 bis 60 Jahren bereits eine Zeitspanne von nur noch 40 Jahren. Die Ursache dieses starken Bevölkerungswachstums liegt darin, daß die Geburtenrate in den stark agrarisch bestimmten Entwicklungsländern stabil bleibt und durch die Ausbreitung der modernen Krankheits- und Seuchenbekämpfung die Sterberate rasch sinkt. Regionen mit besonders starker Bevölkerungszunahme sind die sogenannten „unterentwickelten" oder neuerdings als „Entwicklungsländer“ bezeichneten Regionen in Asien, Afrika und Südamerika. In Aegypten, Algerien, Tunis und Marokko vermehrt sich die Gesamtbevölkerung jährlich um rund 2,5 Prozent, in Indien um rund 1,7 (195 8), in China um 2, in Malaya um 3,4 Prozent. In vielen südamerikanischen Regionen liegt die jährliche Zuwachsrate zwischen 2 und 4 Prozent. Professor Brand stellt nun die Frage, wie sich solche Zuwachsraten wirtschaftlich auswirken. Durch ausführliche Darlegungen über die Beziehungen zwischen Kapital und Einkommen kommt er zu der Auffassung, daß Kapitalbildung als Voraussetzung für Einkommenssteigerung und damit für Verbesserung des gesundheitlichen, ernährungsmäßigen und wirtschaftlichen Standards notwendig ist. Kapitalbildung aber kann wieder nur erreicht werden, wenn der Kreislauf primitiven, ernährungsmäßig unzureichenden agrarischen Lebens mit seiner hohen Reproduktionsrate durchbrochen wird, wenn durch Erziehung und Bildung sowie durch Einrichtung von Industrien eine sich immer verbreiternde Grundlage für die Hebung der gesamten sozialen Verhältnisse geschaffen werden kann. Um bestehende Lebensverhältnisse höherzuschrauben, ist jedoch eine Kraft notwendig, die bei der sich ständig verbreiternden Bevölkerung nicht aufgebracht werden kann. Eine Beschränkung dieser von mancher Seite als „explosiv“ bezeichneten Vermehrung ist also die Voraussetzung für Ausbalancierung und Ordnung der Lebensverhältnisse in den Entwicklungsländern. Welche politischen Folgen der Mangel an solchen geordneten sozial-wirtschaftlichen Verhältnissen in vielen Teilen Asiens, Afrikas und Südamerikas zeitigen würde, kann gewiß niemand prognostizieren. Doch erscheinen schon der gegenwärtige Hunger und die Unsicherheit der Zukunft bedrohlich genug, um viele ernste Aussagen auf den Plan zu rufen.

Die große Frage beruht darin, wie die Fruchtbarkeit gesteuert werden könnte. Der eingangs schon genannte katholische Demograph Professor Seegers hat die ernste Frage aufgeworfen, welche Antworten vom Standpunkt hochentwickelter europäischer Moralau fassun- gen erteilt werden könnten, und hat eine ebenso verantwortungsvolle wie auch der Wirklichkeit bewußte Diskussion gefordert.

Einen für dieses Thema wichtigen Begriff hat der französische Jesuit Professor S. de Lesta- p i s geprägt: von der „instinktiven“ zur „elek- tiven“ Fruchtbarkeit, die ihm als die eigentlich dem Menschen entsprechende reife Form der Fortpflanzung erscheint. In seinem eben erschienenen Werk „La limitation des naissances“ begründet er nach vielen Seiten die Auffassung, daß die auf dem Gebiet der Vermehrung ja mit besonderem Recht als schöpferisch zu bezeichnende Handlung des Menschen nur in bezug auf die jeweilig gegebene demographische und soziale Situation diesen Namen verdient und sittlich gerechtfertigt erscheint. Was also auf dem Gebiet der Familiengröße „verdienstlich“ ist, wird daher entsprechend der Verantwortlichkeit des einzelnen und der sozialen Situation der Region und sozialwirtschaftlichen Einheit, in der er lebt, entschieden werden müssen.

Lieber diese Frage nachzudenken und sich ihrer immer stärker ernsthaft bewußt zu werden, wird auch für den in Mitteleuropa lebenden und an den Vorgängen in der Welt teilnehmenden Oesterreicher eine Aufgabe sein und ein Problem darstellen, dem Studenten, junge Wissenschaftler und Politiker ihre Anteilnahme nicht versagen dürfen, wenn sie ihrer Zeit entsprechen wollen.

Die Bevölkerungswissenschaft kennt ein nur bei näherer Vertiefung erklärbares Phänomen: dem starken Anstieg der Weltbevölkerung steht seit dem zweiten Drittel des vergangenen Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts ein nicht unbeträchtlicher Rückgang in der Fruchtbarkeit und dem Geburtenertrag der hochzivilisierten Länder gegenüber. In der Uebergangsphase von der agrarisch-handwerklich bestimmten zur industriellen Gesellschaft und ihren höhergeschraubten Sicherheiten und Lebensbedürfnissen hat — um Jahrzehnte regional phasenverschieden, im ganzen aber doch als ein großer Zug erkennbar — die europäisch-amerikanische Bevölkerung ihre Reproduktion zum Teil sehr stark gedrosselt. Doch ist in den letzten 30 Jahren auch hierin wiederum eine Wandlung eingetreten, die besonders deutlich in Frankreich, Holland und den USA zum Ausdruck kommt. Hierüber haben wir schon Ergebnisse soziologischer Studien. Ronald Freedman, Professor für Soziologie an der Universität von Michigan, hat in mehrjährigen, von amerikanischen Stiftungen unterstützten Untersuchungen den Wandel in der amerikanischen Fruchtbarkeit und die Ursachen hierfür herausgearbeitet. Er hat über Wünsche und Lebenspläne von mehr als 2700 verheirateten Frauen unter 40 Jahren methodisch ausgefeilte und vertiefte Erhebungen veranstaltet, die zu dem Ergebnis führten, daß, im Gegensatz zu den Leitbildern, im Hinblick auf die Familiengröße, die während der zwanziger und dreißiger Jahre in den Vereinigten Staaten Geltung hatten, heute ein immer mehr alle Gesellschaftsschichten gleichmäßig durchdringendes Leitbild und Erwartungsschema von zwei bis vier Kindern sich durchsetzt. Gegen Kinderlosigkeit besteht starke Abneigung, und sie ist, wo sie auftritt, in nahezu allen Fällen unfreiwillig. Aehnlich wie bei unseren, im Rahmen der Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle des Instituts für Soziologie gewonnenen und gleichfalls beim Kongreß in einem Bericht vorgelegten Untersuchungsergebnissen über Lebenspläne und Erwartungen im Hinblick auf Familiengröße, hat auch Professor Freedman zwischen allgemeinen „Wünschen" und „Idealen" und dem, was man tatsächlich für sich selber zu verwirklichen gedenkt, unterschieden. In den Vereinigten Staaten aber war die Spannung zwischen diesen beiden Ebenen (Wunsch und Lebensplan) nicht so stark, als dies bei den Wiener Untersuchungen zutage trat. Hauptsächliche Unterschiede in den tatsächlichen Familiengrößen fand Freedman darin, daß Katholiken gegenüber anderen religiösen Gruppen kinderreicher waren, daß berufstätige Frauen etwas weniger Kinder hatten als nicht berufstätige, und daß in den ärmeren sozialen Schichten und in der landwirtschaftlichen Bevölkerung größerer Kinderreichtum anzutreffen war — allerdings nur in den höheren Altersgruppen; bei den jüngeren Altersgruppen ist die im allgemeinen vorgefundene Einebnung von Unterschieden auch hier zu beobachten.

Nicht nur inhaltlich, sondern auch formell sind für die Theorie und Praxis der Bevölkerungswissenschaft und -Zählung von dem Kongreß Anregungen ausgegangen und es haben sich Vergleichsmöglichkeiten insbesondere für die 1961 bevorstehende Volkszählung in Oesterreich eröffnet. Die lebhafte Teilnahme von österreichischen Fachleuten an diesem internationalen Treffen und der Gedankenaustausch werden wohl dazu beitragen, die schon seit langem gehegten Wünsche und vorgebrachten Forderungen nach Verfeinerung der für jede Gesellschaft und für die in ihr notwendigen Entscheidungen vordringlich wichtigen Erkenntnisse über ihren Aufbau und ihre Zusammensetzung noch weiter zu begründen und zu untermauern. Unsere Gesellschaft wirft Spezialprobleme auf: die Altersstruktur wird vom hohen Anteil bejahrter Menschen gekennzeichnet, was für Wirtschaft und Verwaltung gewichtige Folgen zeitigt, besonders in Wien, wo durch die Wechselwirkung zwischen Altersstruktur und Fruchtbarkeit der Geburtenertrag (9,3 Lebendgeborene auf 1000 der Wohnbevölkerung im Jahre 1958) trotz der in den letzten drei Jahren angestiegenen Fruchtbarkeit weit unter dem Durchschnitt europäischer Großstädte liegt. Eine Verfeinerung der Bevölkerungsstatistik und ihre Zuspitzung auf eine spezifizierte Erfassung von Fruchtbarkeit, Familie und Haushalt, besonders auch in zunehmender regionaler Aufgliederung, wird erst die für viele sozialpolitische Fragen (zum Beispiel Förderung der Familie) wichtige Klarheit schaffen können.

Darin liegt ja auch ein besonderer Wert derartiger Konferenzen, daß ihre Thematik und die schwerwiegenden und problemreichen Inhalte weite Kreise ziehen und Gelegenheit dazu geben, daß die Probleme, die es zu meistern gilt, auch scharf diagnostiziert werden, ehe Forderungen formuliert und Standpunkte bezogen werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung