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Die Familie hat Zukunft

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Es ist jedem Interessierten und halbwegs Informierten klar, daß sich Gestalt und Wirkung der Familie in den letzten Generationen gründlich verändert haben und noch weiterhin im Wandel begriffen sind. Die patriarchalische Familie des vorigen Jahrhunderts, wo der Hausvater gleichzeitig Leiter des Familienbetriebs, Brotgeber und Lehrherr war, die Mutter eine ausgedehnte, auf Selbstversorgung abgestellte Hauswirtschaft führte und von einer Kinderschar bis zur Erschöpfung in Beschlag genommen war, ist nur mehr in Resten vorhanden. Doch wurde sie bisher auch nicht durch eine neue, eindeutig erkennbare Familienform ersetzt.

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Es ist jedem Interessierten und halbwegs Informierten klar, daß sich Gestalt und Wirkung der Familie in den letzten Generationen gründlich verändert haben und noch weiterhin im Wandel begriffen sind. Die patriarchalische Familie des vorigen Jahrhunderts, wo der Hausvater gleichzeitig Leiter des Familienbetriebs, Brotgeber und Lehrherr war, die Mutter eine ausgedehnte, auf Selbstversorgung abgestellte Hauswirtschaft führte und von einer Kinderschar bis zur Erschöpfung in Beschlag genommen war, ist nur mehr in Resten vorhanden. Doch wurde sie bisher auch nicht durch eine neue, eindeutig erkennbare Familienform ersetzt.

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Es herrscht eher derzeit in den modernen Industriestaaten Familienpluralismus, eine schwer einzuordnende Vielfalt an Mustern des intimen Zusammenlebens, von der „konsekutiven Polygamie“ der aufeinanderfolgenden Ehen und Scheidungen bis zur nostalgischen Partnerschaft mit sehr hohen Ansprüchen an die „Liebe“, von der stabilen Anpassungsehe, die man von Spitzenpolitikern und Spitzenmanagern, aber auch subalterneren Stützen der Gesellschaft erwartet, bis zu den libidinö-sen Kommunen.

Die Mehrheit der Familien sucht -oft zeitlebens - nach einem halbwegs sicheren Standpunkt in dem breiten Raum zwischen den Extremen. Kein Wunder, daß sich der Eindruck breitmacht, die Familie stehe in einer Krise. Je nach der Ideologie mag das einmal bedeuten, die Familie, und mit ihr die gesamte Gesellschaft, falle der Auflösung anheim, das anderemal, die Familie mache neuen und besseren Formen des kollektiven Zusammenlebens Platz.

Zu welchem Schluß kommt man nun in dieser Frage, wenn man das analytische Werkzeug der Soziologie anwendet?

Als erstes ist zu klären, was bisher die naturhaften Grundlagen der Familie waren:

• Der Gesellungstrieb des sozialen „Tieres“ Mensch: Der Mensch ist dafür eingerichtet, in unmittelbarem Kontakt mit kleinen Gruppen zu leben, er wird immer irgendwelche „Rudel“

1978 - mm

DER FUmiLIE

bilden, da es für ihn schwer erträglich ist, völlig für sich allein oder nur in großen Kollektiven zu existieren, er braucht einige ihm direkt verbundene Menschen zu einem vollen Dasein -freilich müßte das nicht eine Familie sein.

• Das Schutz- und Pflegebedürfnis des sehr langsam reifenden „Menschenjungen“: Das Kind braucht viele Jahre die intensive Zuwendung von Personen, auf die es sich ganz verlassen kann, die ihm mehr an Sorge und Liebe, das heißt Arbeit, Gedanken und Gefühle widmen, als man normalerweise von einer bezahlten Dienstleistung verlangen kann - freilich leistet das oft eine Mutter allein, manchmal sogar eine Pflegemutter oder die familienähnliche Gemeinschaft eines Kin-derdorfes.

• Die Notwendigkeit der ökonomischen und sozialen Zusammenarbeit: Im früheren Bauernhof oder Handwerkerhaus wäre die Produktion ohne

die Betriebsgemeinschaft Familie unmöglich gewesen, aber auch noch in der entwickelten Industriegesellschaft fährt der Alleinstehende in vielen Bereichen ökonomisch schlechter - fast alles wird für ihn teurer als in einer sparsam wirtschaftenden Gemeinschaft. So grundlegende Aufgaben wie die Pflege der älteren Menschen, Gespräche und Beratschlagung, die kleinen Hilfen des täglichen Lebens liegen auch heute zum Großteil bei der Familie. Nicht zu vergessen ist die soziale Sicherheit in der Familie - dort wird nicht nach Leistungen gefragt, in der Familie läßt man auch den Unfähigen, Schwachen, Kranken die Lebensnotwendigkeiten zukommen.

• Der gesellschaftliche Bedarf an Erziehung und Leitung für den einzelnen: Was in der Jugend die Erziehung, ist später die laufende Richtungssetzung im sozialen Kontakt, die Orientierung durch die Mitmenschen - ohne diese gäbe es nur gewissenlose Egoisten und inhumane Psychopathen; auch das kann heute schon längst nicht mehr die Familie allein, doch spielt sie noch immer die größte Rolle dabei.

Man kann zudem der Ansicht sein, daß der Mensch seiner Natur nach auch noch im Sexualdrang nach erotischen Dauerbindungen strebt. Sicher ist, daß sexuelle Erfüllung mit einem vertrauten Partner leichter zu erreichen ist. Doch während eine Gesellschaft, in der es keine persönliche

Freundschaft, keine persönliche Liebe zum Kind, keine unbezahlte Hilfsbereitschaft und keine Erziehung und soziale Kontrolle mehr gäbe, sehr rasch zu einem Irrenhaus und Zuchthaus würde, ja, einfach nicht mehr von einer Generation zur anderen bestehen könnte, ist weitgehende sexuelle Promiskuität mit dem Überleben der Gesellschaft noch vereinbar, würde allerdings einen großen Verlust an Lebensqualität bedeuten.

Eine Kultur kann besser oder schlechter sein - und in einer guten Kultur lebt es sich eben besser. Erotische Dauerbindungen gehören wohl ebenso wie eine entwickelte Ethik, Formen gewaltloser Konfliktlösung, eine ausdruckskräftige Sprache, eine humane Kunst und Technik zu den Hervorbringungen einer guten Kultur.

Es bleibt nun zu überlegen, welche naturhaften und kulturellen Funktionen die Familie der Zukunft zu lösen haben wird und inwieweit sie von Aufgaben entlastet wird.

• Der moderne Mensch braucht in der hoch organisierten Gesellschaft die Einfindung in die kleine Gruppe mehr denn je - mit wachsender Mobilität und Individualisierung kann ihm nur die Familie, ergänzt durch einen wiederum eng mit der Familie verbundenen Freundeskreis diese Geborgenheit geben: Nachbarschaften, Betriebsgemeinschaften, Vereine haben da immer weniger Chancen - sosehr es gut wäre, sie zu stärken.

• Es wird pro Erziehungsperson wenige Kinder geben, meist nur zwei -doch diese wird man mindestens über zwei Jahrzehnte, meist noch länger betreuen und erziehen müssen. Das heißt: Belastung und Intensität der Zuwendung zum Kind werden abnehmen, die Bindungsdauer wird länger.

• Die ökonomische und soziale Rolle der Familie wird von der Gesellschaft großteils übernommen: Betrieb, Schule, Sozialversicherung entlasten die Familie. Was übrig bleibt, ist das Subtilere und Schwierigere. Die Berufsfertigkeiten lernt das Kind in Schule und Unternehmen,, doch Arbeitsfreude und Anpassungsfähigkeiten muß ihm die Familie mitgeben. Die Pension bekommt der alte Mensch von der Pensionsversicherung, aber die Achtung für das Alter (die mit Geld nicht zu kaufen ist) muß von Kindern und Enkelkindern kommen.

• Die materiellen Funktionen der Familie gehen zurück, die kulturellen Aufgaben werden wichtiger.

Um eine gute Kultur in einer fuktio-nierenden Gesellschaft zu sichern, ist es deshalb notwendig, dem Individuum materiellen Wohlstand und Sicherheit zu gewähren, die Familie aber in ihren sozialen und kulturellen Leistungen zu unterstützen.

Wie kann das geschehen? Dafür gibt es eine goldene Regel: FÖRDERN UND FORDERN. Die Famüie muß, um diesen erweiterten Aufgaben gerecht werden zu können, um ihre neue

Rolle zu lernen, Hilfen von Institutionen und gesellschaftlichen Einrichtungen bekommen, also Förderung. Anderseits muß die Familie gleichzeitig gefordert werden, es müssen ihr die hohen Aufgaben bewußt .gemacht und als Ziel vor Augen gestellt werden.

Welcher Familie aber? Der althergebrachten patriarchalischen Familie oder einer neuen Art von Kommune?

Auch diese Frage ist nicht so schwer zu beantworten, wie es scheinen mag. Am besten, das heißt kulturell am entwickeltsten ist sicher die wirklich gelungene, also glückliche, lebenslange Liebe zweier Partner und ihrer Kinder, eingebettet in eine eng verwobene Gemeinschaft kooperierender Freundesfamilien und in einem lebendigen sozialen Wirkungskreis. Wo das nicht gelingt, ist es aber weit besser, weniger vollkommene Familienformen zu fördern und zu fordern - als Vollendung durch heuchlerische Gesetze vortäuschen oder gar erzwingen zu wollen.

Die Krise der Familie erweist sich aber unter diesem Gesichtspunkt als eine neue Aufgabe. Für eine neue Aufgabe braucht man aber neue Fähigkeiten, also auch eine veränderte Familie. Die Schwerpunkte dieser Erneuerung zeichnen sich deutlich schon in den heutigen Ideen ab - Partnerschaft, •Vorrang der immateriellen Funktionen, die große kulturelle und menschenbildnerische Verantwortung gegenüber dem Kind, die Einbettung in etwas größere, aber auch noch persönlich verknüpfte Gemeinschaften.

Bedrohlich wäre diese Krise der Erneuerung nur, wenn sich die Menschen diesen Aufgaben nicht stellen wollten - wenn ein großer Teil der Jugend kein Interesse mehr an der Familie hätte. Davon ist aber keine Rede. Wie die soziologische Forschung zeigt, besteht derzeit eher die Gefahr, daß sich die nächste Generation zu sehr auf ihren engsten Familienkreis zurückzieht - seien das nun, bei der Mehrheit, Partnerschaft, Traumwohnung,

Zweithaus und studierende Kinder, oder, bei einer Minderheit, Kommunen, antiautoritäre Erziehung und progressive Kultur - und darüber ihr pragmatisches gesellschaftliches Engagement, die nun einmal notwendige, trockene Leistung in Wirtschaft und Politik geringschätzt.

Doch diese Spannung zwischen dem kleinen persönlichen Umkreis des Menschen und dem großen Kreis der Institutionen und Organisationen hat es immer gegeben, seitdem sich Staaten und Hochkulturen gebildet haben. Daß nun das Pendel, in einer Epoche ideologischer Neubesinnung, im Westen wieder zum Individualismus der kleinen Gruppe hin ausschlägt, macht es nur umso deutlicher: Die Familie hat Zukunft.

Plädoyer für eine „bewahrende Progressivität“

Das Fortschrittskonzept der verflossenen Dekaden stößt an Grenzen. Die Sinnfrage steht wieder im Mittelpunkt der Diskussion: Was bedeutet erfülltes

menschliches Leben? Was heißt Lebensqualität? Nach dem vor fünf Jahren veröffentlichten Buch „Prognosen für Österreich“ legten nun die beiden Wissenschafter Christof Gaspari und Hans Millendorfer ihr neues Werk „Konturen einer Wende - Strategien für die Zukunft“ vor. Darin loten sie unser derzeitiges gesellschaftliches System nach seinen Schwachstellen aus, registrieren solche vor allem im außerökonomischen Bereich und reden einer „Revolution der Hoffnung“ das Wort. Ihr Motto: „Die Zukunft braucht ein Programm der bewahrenden Progres-sivität: konservativ in obersten Sinnfragen, progressiv in notwendigen Maßnahmen.“ Im folgenden einige Kernsätze zum Thema Familie:

Unter Wandel der Gesellschaft wurden seit zweihundert Jahren im wesentlichen die Folgen der Industrialisierung verstanden. Der Industrialisierungsprozeß hatte eine Änderung der Lebensbedingungen zur Folge. Die Diskussion um die Familie stand unter dem Zeichen ihrer Anpassung an die

sich durch die Industrialisierung ändernde Umwelt. Hauptthemen dieser Diskussion waren die Auflösung der sozialen Gefüge, in welche die Kernfamilie eingebettet war, z. B. die Auflösung der Großfamilie und der Gemeinschaften, die Abnahme der wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung der Familie, die Übernahme mancher So-zialisierungsaufgaben durch andere Institutionen (beispielsweise Kindergarten, Schule und Betrieb), die Problematik der berufstätigen Frau und

der dadurch entstehenden Schwierigkeiten der Kindererziehung usw.

Es ist ein Widerspruch, einerseits die Notwendigkeit überschaubarer Gruppen im Produktionsbereich zur Überwindung der extremen Arbeitsteilung etwa am Fließband zu betonen und gleichzeitig diese zu überwindende, extreme Arbeitsteilung in den Bereich der Familie zu übertragen (z. B. duroh Abgeben der Kinder an „Spezialisten“, wie Kinderkrippen und Tagesmütter).

Es nützt nichts, gegen die Wegwerftechnologie im Produktionsbereich zu

Felde zu ziehen und gleichzeitig „Wegwerfehen“ und „Wegwerfembryos“ zu erfinden und an der Entwicklung von „Wegwerfpatienten“ zu arbeiten. Diese Barbarei, ihre Widersprüchlichkeiten und Anachronismen werden verschwinden, wenn die tiefe Erschütterung des Fortschrittkonzepts, das auf dem Glauben an die technische Machbarkeit von allem, einschließlich des Glücks, beruhte, zu einer Metamorphose des Fortschritts führt, nach der der Mensch nicht Die-

ner des Fortschritts, sondern der Fort-schritt Diener des Menschen ist.

Die Feststellung, daß die Familie die effizienteste Einheit zur Erzeugung von Wohlfahrt und der Verwendung von materiellen und immateriellen Faktoren ist, bedeutet nicht, daß ihre Leistungsfähigkeit bei dieser Aufgabe nicht erhöht werden sollte: im Gegen-

teil, die neue geschichtliche Situation verlangt von der Familie gerade die Erhöhung der Wirksamkeit des Einsatzes materieller Güter bei ihrer Aufgabe.

Jede „Entlastung der Familie“, die zugleich zu einer Einschränkung ihres Funktionsbereiches führt, untergräbt die effizienteste Produktionsstätte für Lebensqualität. Zweitbeste Lösungen

(das heißt z. B. „Auffangnetze“ für Notfälle wie Kinderkrippen, Altersheime usw.) dürfen nicht zu Normlösungen werden - die Krücke darf nicht grundsätzlich an die Stelle des Beines treten.

Wir haben die Aufgabe, die Einengung, die der Familie durch die industrielle Entwicklung widerfahren ist, wieder zu überwinden. Die Großfami-

lie im alten Sinn ist durch diese Entwicklung mehr oder weniger verschwunden und wird in dieser Form nicht wieder hergestellt werden. Es gut daher nicht, die Form zu übernehmen, wohl aber, gewisse Funktionen der Großfamilie in neue Formen einzubauen, also etwa Strukturen zu schaffen, die zwar nicht an die Stelle der Kleinfamilie treten, sondern die eine Familie von Familien darstellen.

Durch den dramatischen Geburtenrückgang wurde die demographische Stabilität gefährdet. Projiziert man nämlich die Geburtenentwicklung des vergangenen Jahrzehnts in die Zukunft, so erkennt man, daß in hundert Jahren in Europa eine Reproduktionsrate von 0,5 zu verzeichnen sein wird. Das bedeutet, daß sich in jeder Generation die Bevölkerung um die Hälfte reduzieren würde. A. G.

KONTUREN EINER WENDE -STRATEGIEN FÜR DIE ZUKUNFT, Christof Gaspari und Hans Millendorfer, Verlag STYRIA, 1978, 356 Seiten, öS 359,-

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