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Wegwerftedinik—Wegwerf ehen—Wegwerf embryos?

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In der Diskussion um die Probleme der langfristigen Entwicklung der Industriegesellschaft standen bisher wirtschaftliche und machtpolitische Fragen im Vordergrund. Erst in jüngerer Zeit treten Fragen von Ehe und Familie in Erscheinung. Dabei kommt ein Spektrum verschiedenster und manchmal unüberbrückbar erscheinender Ansichten zu Tage, die oft mit viel Emotion vertreten werden. Erstaunlich dabei ist, daß häufig gerade die Ansichten, welche die Grundlage fortschrittlicher Rationalität für sich in Anspruch nehmen, mit irrationaler Aggressivität vorgetragen werden. So ist es in manchen Kreisen Mode geworden, Ehe und Familie als überholte Relikte einer vej> gangenen Epoche anzusehen, die beseitigt werden müssen — je früher desto besser. Diese von relativ wenigen offen gezeigte Aggression gegen Ehe und Familie ist jedoch gewissermaßen nur die Spitze eines Eisberges, der unter der Oberfläche wesentlich größere Dimensionen annimmt. Die Feindseligkeit gegen die Familie durchdringt — wenn auch als solche nicht offen deklariert—weiteBereiche der gegenwärtigen politischen Situation.

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In der Diskussion um die Probleme der langfristigen Entwicklung der Industriegesellschaft standen bisher wirtschaftliche und machtpolitische Fragen im Vordergrund. Erst in jüngerer Zeit treten Fragen von Ehe und Familie in Erscheinung. Dabei kommt ein Spektrum verschiedenster und manchmal unüberbrückbar erscheinender Ansichten zu Tage, die oft mit viel Emotion vertreten werden. Erstaunlich dabei ist, daß häufig gerade die Ansichten, welche die Grundlage fortschrittlicher Rationalität für sich in Anspruch nehmen, mit irrationaler Aggressivität vorgetragen werden. So ist es in manchen Kreisen Mode geworden, Ehe und Familie als überholte Relikte einer vej> gangenen Epoche anzusehen, die beseitigt werden müssen — je früher desto besser. Diese von relativ wenigen offen gezeigte Aggression gegen Ehe und Familie ist jedoch gewissermaßen nur die Spitze eines Eisberges, der unter der Oberfläche wesentlich größere Dimensionen annimmt. Die Feindseligkeit gegen die Familie durchdringt — wenn auch als solche nicht offen deklariert—weiteBereiche der gegenwärtigen politischen Situation.

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Wenn wir dieses Phänomen verstehen wollen, genügt es nicht, auf subjektive Erfahrungen von Vertretern dieser Feindseligkeiten hinzuweisen, wie etwa harte Kindheitserfahrungen in zerrütteten oder wohlstandsverwahrlosten Familien, Enttäuschungen beim eigenen Versuch, Familie zu bilden, frustrierende Erletonisse in der Mann-Frau-Beziehung usw., sondern wir müssen versuchen, die objektiven Bedingungen zu erfassen, unter denen diese Meinungen entstehen konnten oder vielleicht auch mußten, und den Prozeß zu begreifen, in dem sich die Familie in der Industriegesellschaft befand und befindet.

Dieser Prozeß wird von den einen als ein Prozeß der notwendigen Auflösung der Familie und von den anderen als ein Prozeß ihrer notwendigen Bewährung im Wandel der ! Gesellschaft verstanden. Bei beiden j Ansichten hat der Begriff des Wan- j dels der Gesellschaft zentrale Be- j dfutung. Unter diesem Wandel wur- ] den seit 200 Jahren im wesentlichen \ die Industrialisierung und ihre Fol- j gen verstanden. Unter dem Einfluß der Industrialisierung änderten sich die Lebensbedingungen der Familie; ihre Probleme entstanden aus ihrer Anpassung an die sich durch die Industrialisierung ändernde Umwelt. So die Auflösung der sozialen Gefüge wie Großfamilien und dörfliche Gemeinschaften, in welche die Kernfamilie eingebettet war, die Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Funktionen der Familie und die Übernahme von manchen dieser Funktionen, sowie die Sozialisie-rungsfunktion durch andere Institutionen, wie Kindergarten, Schule und Betrieb, die Problematik der berufstätigen Frau und der dadurch entstehenden Schwierigkeiten der Kindererziehung. Vereinfacht könnte man sagen, die Fragestellung der Diskussion um die Familie lautet: „Inwieweit paßt die Familie in den Industrialisierungsprozeß?“

Apparat statt Mensch

Dabei wirft man der Familie einerseits Handlangerdienste bei einer zu negativen Nebenwirkungen führenden Verwirklichung des bisherigen Fortschrittskonzeptes vor, und anderseits Rückständigkeit, welche einer weiteren Verfolgung dieses Fort-schrittskonzepts im Wege steht. Die Widersprüchlichkeit dieser Argumentation läßt vermuten, daß es sich um eine „Rationalisierung“, um einen Versuch, eine Einstellung, die in tieferen Schichten des Bewußtseins ruht, vordergründig rational zu begründen.

Ein Schlüssel zum Verständnis dieser tiefer liegenden Ursachen liegt in dem in der Industriegesellschaft um sich greifenden Phänomen eines schwer faßbaren Unibehagens, das schon Marx in seinen Arbeiten durch den Begriff der Entfremdung zu fassen versuchte, das aber weit über diesen Begriff hinausgeht. Marx hat, dem Denken seiner Zeit entsprechend, alles in Beziehung zur industriellen Produktion gesetzt und die Erscheinung der Entfremdung von den Produktionsverhältnissen abgeleitet und geglaubt, durch Änderung der Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln könnte diese Entfremdung überwunden werden.

Es zeigt sich nun aber in der Entwicklung der Industrieländer, daß eine viel umfassendere Entfremdung eingetreten ist, nämlich eine Art „Apparatisierung“, welche darin besteht, daß das immer mehr isolierte Individuum einem immer perfekter werdenden Apparat ausgeliefert ist, der nicht nur produktionstechnisch, sondern- auch organisatorisch oder politisch sein kann. Die gespenstische Welt eines Kafka, die verwaltete Welt ohne Liebe eines Horkhei-

mer, die Vision eines Orwell realisiert sich an Fernsehapparaten ebenso wie an Büroschaltern, beim Spielautomaten ebenso wie in der Massenbehandlung in einer Gesundheitsfabrik, in der Massenproduktion akademischen Proletariates ebenso wie an Fließbändern. Die libidinöse Besetzung der Einstellung etwa zum Auto geht parallel mit der Instrumentalisierung der menschlichen Beziehungen; der Apparat tritt an die Stelle des Menschen.

Die Familie als ein Ort des Lebens wurde durch die Apparate mehr und mehr eingeengt. Diese Einengung der Lebenssphäre führte zu der frustrierenden Erscheinung, daß, trotz erhöhter Leistungen der Apparat, das eigentliche Ziel, ein erfülltes Leben, nicht besser und schließlich sogar schlechter erreicht wurde. Eugene Ionesco formulierte dies in seiner berühmten Rede vor den Salzburger Festspielen mit den dramatischen Worten: „Die Menschheit wurde sich des Unglücks zu leben bewußt — oder vielmehr des Unglücks, unter den jetzigen Bedingungen leben zu müssen.“

Sehnsucht nach dem letzten Sinn

Die Geschichte der Industrieländer war in den letzten 200 Jahren geprägt von dem Trauma des materiellen Notstandes, in dem sich diese Länder zu Beginn der ersten industriellen Revolution befanden und bei dem ständige Hungersnöte, Armut, Elend das entscheidende Hindernis für die Gestaltung eines erfüllten Menschseins bei vielen waren. Es war richtig, diesen Engpaß der Entwicklung mit Hilfe der er-

fundenen Kraftmaschinen zu beseitigen und damals war Fortschritt gleichbedeutend mit der Ausweitung der zu engen materiellen Basis. Es entstand jenes bis heute oder zumindest bis vor kurzem gültige relativ naive Fortschrittskonzept, nach dem ein paar Prozent mehr von allem und jedem pro Jahr das entscheidende und zu erstrebende Ziel seien. Dieses in der damaligen geschichtlichen Situation richtige Konzept hat sich verselbständigt und in eine Zeit hinüber gerettet, in der andere Engpässe — zumindest in den Industrieländern — entstanden sind.

In der ersten industriellen Revolution wurde die Produktivität der Arbeit durch Einsatz von Kapital erhöht, in der zweiten industriellen Revolution die Produktivität von Arbeit und Kapital durch den Einsatz von Information und in der dritten industriellen Revolution muß die Effizienz von Kapital, Arbeit und Information im Hinblick auf das eigentliche Ziel, die Gestaltung eines erfüllten Lebens durch Ausweitung des neuen Engpasses erhöht werden. Dieser Engpaß liegt in dem Faktor „Struktur“, in den Werten, Verhaltensweisen und Organisationsformen. Die dritte industrielle Revolution bringt eine entscheidende Aufwertung der Lebenssphäre, welche bisher gegenüber den Apparaten

vernachlässigt wurde. Die zentrale Bedeutung in der Lebenssphäre hat die Familie. Nicht nur, daß sie entscheidende Vorleistungen für die Systemsphäre der Apparate im oben genannten Bereich von Effizienz und Streßbewältigung erbringt; sie verwendet, wenn ihr genug Lebensraum gegeben wird, als effizientester Produzent von Lebensqualität die Vorleistungen der Apparate zur optimalen Gestaltung eines erfüllten Lebens, da nur sie die zutiefst menschlichen Sehnsüchte nach dem „Ich“, dem „Du“ und dem „Wir“ befriedigen kann und darüber hinaus, wenn sie auch noch christlich ist, die Sehnsucht nach deren letztem Sinn.

Isolierte Menschen integrieren

Der Club of Rome spricht in seinem ersten Bericht von einer notwendigen kopernikanischen Wende von den materiellen zu den immateriellen Werten. Diese Wende muß von der Verdinglichung des Menschen im Dienste der materiellen Werte zu seiner Vermenschlichung durch seine inmateriellen Werte führen. Ein Angelpunkt dieser Wende ist die Familie. Sie war nicht nur in der vergangenen Epoche die Basis für die Bewältigung der Probleme, sondern sie ist es auch in der zukünftigen Epoche. In einer neuen Gesellschaft, bei der der Mensch nicht dem Fortschritt dient, sondern der Fortschritt dem Menschen, stellt die erneuerte, auch immaterielle Möglichkeiten zur Lebensgestaltung bewußt einsetzende Familie einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung der angesichts der neuen geschichtlichen Situation geforderten kopernikanischen Wende dar. Diese

neue Familie wird in größere Sozialzusammenhänge eingebettet sein, in „Familien von Familien“, in überschaubare soziale Gebilde, wie die christlichen Urgemeinden, deren neues Entstehen im Atomzeitalter sich bereits in spontanen konkreten Ansätzen wie den Eherunden, den Familienrunden usw. anzeigt. In diesen neuen Familien werden — ähnlich wie bei den alten Großfamilien — jetzt noch isolierte Menschen integriert sein, so die alten Menschen.

Noch haben wir es aber mit den Ausläufern der vergehenden Epoche zu tun. Noch werden Konzepte, die von der Produktionssphäre kommen und dort selbst mehr und mehr suspekt werden, in der Lebenssphäre anzuwenden versucht. Noch sind wir dabei, die Wegwerftechnik in den menschlichen Bereich zu übertragen: Wir haben Wegwerfehen und Wegwerfembryos erfunden und sind im Begriffe, Wegwerfpatienten zu erfinden, die wie alte Autos, deren Reparatur sich nicht zu lohnen scheint, ausrangiert werden sollen. Noch sind wir uns der Barbarei dieser Entwicklung nicht bewußt, noch benutzen wir gelangweilt geduldig die Apparate der Freizeit, die Fließbänder der Autostraßen, die Apparate der Be-wußtseinsbeeinflussung, welche uns unsere Meinung vorproduziert lie-

fern, noch sind wir uns der Verarmung unseres Denkens nicht bewußt, wenn wir weniger im menschlichen Gespräch unter Lampenschirmen als in tierischen Stummsein vor Fernsehschirmen sitzen, noch überlassen wir unsere Kinder anonymen Apparaten, die unsere Familien „entlasten“ müssen, weil wir keine Zeit zu haben glauben, da wir uns selbst in totale Abhängigkeit von den Apparaten begeben haben. Noch nehmen wir staunend-gläutoig zur Kenntnis, daß Massenproduktion von Sex lustgewinnbringender sei, noch lassen wir uns vorgefertigte Techniken des isolierten Lustgewinnes von hochspezialisierten Pornoproduzenten verkaufen, noch dominieren materielle Gesichtspunkte und eine Art politischen Schnelligkeitswettbewerbs beim Auflösen der Ehe eine naiv-fortschrittsgläubige Auseinandersetzung mit der Familiensituation.

Wie sagte Nietzsche? „Wir haben da Glück erfunden, sagen die letzten Menschen und blinzeln einander zu.“ Glauben wir eigentlich wirklich, das Glück erfunden zu haben, oder merkt die erstaunlich zählebige menschliche Rasse, daß sie auf dem Holzwege ist — oder eigentlich genauer gesagt: war?

Die Anzeichen für letzteres mehren sich gerade auf dem Gebiet der Familie. Schon spricht es sich herum, daß der Mensch mehr ist als ein Massenkonsument, Vergnügungskonsument, Sexkonsument oder Konsumidiot. Daß er von mehr lebt als vom Brot allein, daß er einen Ort eines sinnerfüllten Menschseins braucht, der nicht technisch machbar ist. Schon ist ein Zerstören von bewährten Orten des Lebens, von

intakten Familien unter dem Titel der „totalen Veränderung des Menschen“, des „Brechens der Tabus“, der „Sexuellen Revolution“, des „Fortschritts“ nicht mehr „in“ bei denen, die vorausdenken. Schon beginnt allmählich der in der Zukunftsforschung geprägte Begriff der sozialen Falle, die bei kurzfristigen und partikulären Überlegungen Vorteile verspricht, langfristig aber zuschnappen und zum Untergang führen kann, das Nachdenken anzuregen — zumal die Geschichte ja nicht mit recht anregenden Anschauungsbeispielen für solche Untergänge spart. Schon zieht die nicht gerade von tieferen wissenschaftlichen Einsichten getragene forsche „Fortschrittlichkeit“ der professionellen Iniragesteller nicht mehr in einer Zeit, da die Notwendigkeit einer Metamorphose des Fortschritts gerade von vorausblickenden Denkern betont wird: Die Infragesteller sehen sich plötzlich selbst in Frage gestellt, und sie müssen erkennen, daß ihre Parole „Geile Welt — nicht heile Welt!“ immer verdrießlicher aufgenommen wird und bald nur noch die Nachzügler der Geschichte erreicht.

Noch ist es zu früh, diese Anzeichen einer kommenden Wende als einen endgültigen Sieg der Vernunft zu bejubeln, noch steht uns eine schwere Durststrecke bevor. Wer

aber an die unverwüstliche Zählebigkeit der menschlichen Rasse glaubt, ist dessen gewiß: Die Familie als der Angelpunkt der dritten industriellen Revolution steht am Anfang und nicht am Ende.

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