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Digital In Arbeit

Rascher Szenenwechsel erwünscht

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Beide Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Weder sind in der Sowjetunion 45 Jahre nach der Oktoberrevolution Strafrecht und Zuchthaus verschwunden noch hat die um die Jahrhundertwende kaum zu erträumende sozialpolitische Wirklichkeit des Wohlfahrtsstaates von heute die Kriminalitätszahlen gesenkt. Das Gegenteil ist vielmehr eingetreten.

Für die Kriminologie ergibt sich aus dieser Entwicklung eine völlig veränderte Situation. Scheint es doch, daß nicht nur die Notlage das Verbrechen fördert, sondern auch der Wohlstand. Die Antwort auf die hierdurch aufgeworfene Frage bringt sowohl die Analyse des Einzelfalles als auch die statistische Beobachtung großer Massen. Beide Untersuchungsmethodcm führen zu zwei grundsätzlich verschiedenen Quellen der kriminellen Auftriebskräfte der wirtschaftlichen Blüte und damit zur Unterscheidung von indirekter und direkter Wohlstandskriminalität.

Der Wohlstand ist an sich nicht ein Geschenk, das uns ein gütiges Schicksal ohne eigenes Zutun in den Schoß legt, sondern die Folge einer verstärkten Arbeitsleistung und besseren Ausnützung der Produktivkräfte des Menschen. Ein Teil der Wurzeln der erhöhten Kriminalität der Gegenwart liegt in den Bedingungen des Wohlstandes, also in den sozialen Erscheinungen, die zur erhöhten Produktion geführt haben. In diesem Zusammenhang sprechen wir von einer indirekten Wohlstandskriminalität.

Eine direkte Wohlstands-kriminalität ist hingegen dort gegeben, wo der Wohlstand seinerseits soziale Störungen kriminogener Natur auslöst, wo es sich also um eine Kriminalität handelt, die Auswirkung der Wohlstandssituation ist.

Wird die menschliche Arbeitskraft zur Mangelware, dann unterliegt auch sie den Gesetzen von Angebot und Nachfrage. Dies erleichtert nicht nur ganz allgemein die Arbeitssuche, sondern ermutigt im besonderen auch den mit seinen Arbeitsbedingungen Unzufriedenen zum Wechsel des Arbeitsplatzes. In der heute fast unbeschränkten Möglichkeit, gutbezahlte Beschäftigung zu finden, liegt eine nicht unbedeutende Gefahr für die Entwicklung der Persönlichkeit des jugendlichen Arbeitnehmers.

Kein Mensch ist dauernd auf Rosen gebettet. Immer wieder trifft er auf Verhältnisse, die erst gemeistert weiden müssen. Zur sozialen Ertüchtigung gehört die Fähigkeit, sich an das Zusammenleben auch mit solchen Personen zu gewöhnen, die erhöhte Ansprüche an den Anpassungswillen und das Anpassungsvermögen ihrer Umwelt stellen. Wechselt der Jugendliche im Bewußtsein, sogleich anderswo eine ausreichend bezahlte Stellung zu finden, den Arbeitsplatz schon bei der kleinsten Schwierigkeit, dann entwickelt sich bei ihm eine soziale Wehleidigkeit. Genauso wie der Körper durch die Krankheit in der Immunisierung allmählich erstarkt, erlernt der Tüchtige die soziale Anpassung erst in der Überwindung aufgetretener Schwierigkeiten. Wer es versäumt, sich die hierzu unerläßliche Selbstbehauptung und Selbstbeschränkung zu eigen zu machen, strauchelt später nur zu leicht, wenn ihm die im Leben unausweichlichen Schicksalsschläge härter zusetzen.

Über den bisher angedeuteten, der Vollbeschäftigung entstammenden Faktoren der indirekten Wohlstandskriminalität darf nicht vergessen werden, daß auch der zur erhöhten Produktivität führende Rationalisierungsprozeß der menschlichen Arbeit kriminogene Anpassungsstörungen auszulösen vermag. Je mehr die Maschine und das vom Betriebstechniker gesteuerte Programm den Ablauf der Arbeit bestimmen, desto geringer sind vor allem Für dm> manuellen Arbeifer die Möglichkeiten zur Entfaltung selbständiger Initiative.

Aus dieser Situation ergibt sich die Gefahr einer sozialen Fehlentwicklung in erster Linie dort, wo die durch die mannigfache Steuerung des Arbeitsprozesses geförderte geistige Trägheit zum Lebensprinzip wird und dann auch die Freizeit beherrscht. Einer solchen Entwicklung kommt vor allem die weitgehend mechanisierte Vergnügungsindustrie entgegen, die ihrem Kunden das Geld abnimmt, ohne ihm die Möglichkeit zu bieten, sich durch Entfaltung schöpferischer Kräfte im selbst gesteuerten Erlebnis neue Persönlichkeitswerte zu erarbeiten.

Existentialismus und Logotherapie sind Kinder unserer Zeit. Beide fragen nach dem Sinn des Lebens und sind die Antwort des geistig Regen auf die erkannte Gefahr einer ihn erdrückenden Inhaltsleere des Daseins. Wie aber reagiert der intellektuell minder Entwickelte?

Er empfindet die Unlust des im bloßen Trott eintönig dahinschleichenden Alltags, ohne deren Ursache nachzugehen. Gehört er zu jenen Menschen, bei denen das irdische Jammertal im Nebel alkoholischer Berauschung in die Tiefen eines befreienden Nirwanas versinkt, dann ist die Gefahr gegeben, daß er die Segnungen des Wirtschaftswunders im Suff ertränkt. Das ist die eine Wurzel des allmählich zur Volks-seuche entartenden Alkoholismus.

Der moderne Mensch entflieht aber nicht nur im Alkohol der Inhaltsleere seines Daseins, sondern trachtet dieser auch im raschen Szenenwechsel einer auf dem Kraftfahrzeug durcheilten Umwelt zu entkommen. Auch hierbej gewinnt er kaum an innerem Persönlichkeitswert, weil er über der erstrebten Geschwindigkeit nicht mehr die Zeit findet, das ihm Gebotene zum Erlebnis zu verarbeiten. So wird neben dem alkoholischen der Geschwindigkeitsrausch zu einer Quelle des verbrecherischen Eingreifens in das Leben und die Gesundheit des Nächsten.

Um abschließend die Hauptprobleme der direkten .Wohlstandskiiminalität anzudeuten, sei zunächst darauf hingewiesen, daß sich unter dem Tjinfluß einer mehrjährigen wirtschaftlichen Blüte die Grundeinstellung des Menschen zu den Lebenszielen sehr wesentlich geändert hat. Während in der Zeit der Weltwirtschaftskrise die Versorgung Ziel des Berufsstrebens war, fragt das Kind des Wirtschaftswunders weniger nach dem Morgen als nach dem, was momentan zu erreichen ist.

Der Glaube, alles erkaufen zu können, zeitigt vor allem im Bereich der Erziehung ernste Gefahren. Erziehen heißt, ein gutes Beispiel geben, also vorleben. Eine Fehlentwicklung des Jugendlichen ist unausbleiblich, wenn die Eltern glauben, die Verpflichtung zum beispielgebenden Verhalten durch Geschenke abgelten zu können. Für das Kind ist es viel wichtiger, daß im Elternhaus Harmonie herrscht, als daß es über ein reichliches Taschengeld verfügt. Trachten in der gestörten Ehe die rivalisierenden Eltern durch übermäßige Nachsicht und unverhältnismäßige Freigebigkeit die schwankende Gunst des Kindes zu erkaufen, dann züchten sie eine Gefühlskälte, die zum Ursprung zahlreicher Entgleisungen werden kann. Kein Wunder, daß die Prüfung der Herkunft jener Frauen und Mädchen, die sich in Wien der kontrollierten und der geheimen Prostitution hingeben, heute fast ausnahmslos auf gestörte Ehen ihrer Eltern führt.

Auf dem Gebiet der käuflichen Liebe hat der Wohlstand zu Erscheinungen eigener Art geführt. Während in der Zeit der Depression die Frau in erster Linie aus Not sich der Prostitution hingab, führt sie heute fast nur mehr das Streben nach Luxus auf diesen Weg. Mit der Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse hat die Zahl der kontrollierten und der Geheimprostituierten seit 193t auf ungefähr die Hälfte abgenommen.

Der Verminderung des Umfangs der Prostitution steht ein weitgehender Wandel ihrer Begleiterscheinungen gegenüber. Während in der Vorkriegszeit der Zuhälter seine Asozialität nicht nur in der Ausbeutung der Prostituierten unter Beweis stellte, sondern sich meist auch als Gelegenheitseinbrecher und sonstiger Vermögensverbrecher betätigte, ist nunmehr eine rein kommerzielle Entwicklung im Gange. Die sich nicht mehr aus Not anbietende Prostituierte sucht einen ausgewählten Kundenkreis und bestimmt damit nachhaltend den sehr wesentlich gestiegenen Preis. Der Zuhälter sieht in ihren Beiträgen nicht mehr einen Nebenverdienst, sondern die Grundlage seiner wirtschaftlichen Existenz. Er fühlt sich als Manager, der an Auto, Spiel, Nahrung und Genußmittel sehr hohe Ansprüche stellt, die er nur dann gesichert sieht, wenn sein Einkommen auf breiter Basis ruht. Das so genährte Streben, eine Mehrheit von Prostituierten zu kontrollieren, bahnt die gewerbsmäßige Erpressung, das Racket im amerikanischen Sinn, an. Diese Gefahr rechtzeitig erkannt zu haben, ist ein besonderes Verdienst von Polizei und Justiz. Während im Jahre 1926 in Wien nur 20 Zuhälter zur Anzeige gebracht wurden, waren es im Jahre 1961 119, gegen die von den Gerichten vielfach auf langjährige Kerkerstrafen und die gefürchtete Zulässickeit der Anhal-tung in einem Arbeitshaus erkannt

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