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Digital In Arbeit

Sand im Getriebe

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Als Weltgesundheitstag wurde der 7. April bereits zu einem markanten Datum und erinnert an das Inkrafttreten der Statuten der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Alljährlich steht dieser Ter* min im Zeichen eines Themas überregionaler Bedeutung. Heuer lautet das Motto: Gesundheitsfürsorge, Arbeit und Produktivität.

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Als Weltgesundheitstag wurde der 7. April bereits zu einem markanten Datum und erinnert an das Inkrafttreten der Statuten der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Alljährlich steht dieser Ter* min im Zeichen eines Themas überregionaler Bedeutung. Heuer lautet das Motto: Gesundheitsfürsorge, Arbeit und Produktivität.

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In unserem Kindesalter verbanden wir mit dem Begriff „Lagerung“ die Vorstellung von Jutesäcken, und „Spielzeug“ assoziierten wir etwa mit Blei- und Zinnsoldaten. Heute leben wir in einer Umwelt, als deren Ziviliisationssymbole die Archäologen einer fernen Zukunft vielleicht etwa den Polythenbeutel und das Plastikgerät bezeichnen werden. Wenn Techniker einst die Frage der Festigkeit erörterten, dann dachten sie dabei an Gewicht. Nun können wir aus Aluminium einen 90 Meter langen Brückenmittelteil bauen, der nur 200 Tonnen wiegt, aber genauso tragfähig ist wie eine doppelt so schwere Stahlkonstruktion gleicher Art.

Wir sind in eine Epoche gewaltiger Umschichtungen und rasanter Ballungen gestellt, dies gilt vor allem für die Entwicklungslander. Mehr als 40 der 65 Großstadträume mit einer Bevölkerung von 1 Million aufwärts liegen in den wirtschaftlich schwächeren Zonen und Notstandsgebieten der Erde.

Zwangsläufig wirken sich diese veränderten Lebensverhältnisse auf das gesamte Gefüge der Arbeitssysteme und die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitskräfte aus. Während der industriellen Revolution war der Unternehmer daran interessiert, daß seine Arbeiter in der Nähe der Fabrik wohnten. Resultat: die tristen Zinskasernenviertel oder sogar Slums, die noch immer bestimmten Sektoren so vieler Städte in beiden Hemisphären das charakteristische Gepräge geben. Heute wohnt der Durchschnittsarbeiter komfortabler, aber dafür muß er an jedem Morgen und Nachmittag lange Fahrten in überfüllten Bussen, Zügen oder U-Bahnen in Kauf nehmen. Die Umkehrung des natürlichen menschliche Rhythmuswechsels von Arbeitszeit und Ruhepause bildet eine weitere unerfreuliche Begleiterscheinung und beeinträchtigt das Familienleben. Wir meinen den Schichtbetrieb, die unabdingbare Forderung der Maschine, die Tag und Nacht überwacht und in Gang gehalten werden muß.

Der technische Wandel, die verbesserten Sicherheitsvorkehrungen und sanitären Bestimmunigen brachten allerdings auch einige der typischen Berufskrankheiten früherer Zeiten zum Verschwinden. Ramazzini, der berühmte medizinische Autor des 17. Jahrhunderts, schilderte einmal die schlimme Lage der Spiegelmacher auf der venezianischen Insel Murano: sie brauchten nur in die Spiegel zu blicken, an denen sie gerade arbeiteten, um die Symptome der fortschreitenden Vergiftung durch das Quecksilber festzustellen, das ihre Organismen täglich absorbierten.

Als man dazu überging, zur Be-schichtung der Spiegelgläser Silbernitrat statt Quecksilber zu verwenden, wurde die bedenkliche Gesundheitsschädigung durch dieses heimtückische Element vermieden. Heute leiden nur noch wenige Maler an der Bleikrankheit, obwohl das Blei noch immer in so vielen anderen Industriesparten verarbeitet wird, daß die Risiken nicht völlig ausgeschaltet sind. Doch infolge genauerer ärztlicher Kontrollen hat sich die Zahl akuter Bleivergiftungsfälle wesentlich vermindert. In der Zündholzerzeugung ersetzten ungefährliche Chemikalien den weißen Phosphor, auf diese Weise wird die Kie-fer-Nekrose verhütet. Aber die Arbeitsmedizin hat nach wie vor viele Probleme zu bewältigen. Infolge von Erkrankungen und Betriebsunfällen gehen jährlich noch immer Millionen Arbeitsstunden verloren, und daraus ergeben sich sehr ernste Konsequenzen, ob man sie nun nach rein menschlichen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet. Im Zug regelmäßiger Untersuchungen kann der Arzt heute Silikose der Lunge bereits in einem frühen Stadium konstatieren. Da der Bergmann nun statt der Haue den pneumatischen Bohrer verwendet, zeigt der Röntgenschirm ein anderes Bild. Die Haue warf größere Staubpartikel auf, durch die in den Lungenflügeln knötchenartige Ablagerungen entstanden. Bei Einsatz des Bohrers ist der Staub feiner, doch nicht weniger lebensgefährlich. Denn der Staub kann tatsächlich zum Sand im Getriebe werden. Die in bestimmten Ländern während der letzten Jahrzehnte vollzogene wirtschaftliche Expansion bewirkte sehr oft ein beschleunigtes industrielles Wachstum, dem die sanitären Sicherheitsfaktoren nicht immer angepaßt wurden. Wenn ein tüchtiger, erfahrener Facharbeiter krankheitshalber aus dem Erzeugungsprozeß abgezogen oder anderer Tätigkeit zugeführt werden muß, leidet darunter das Produktionsprogramm. Wird er arbeitsunfähig, dann setzt eine Kettenreaktion ein, die sich auf die Gesundheitsfürsorge und die sozialen Institutionen der Gemeinschaft überträgt. Häufen sich solche Fälle, dann bedeutet dies eine empfindliche ständige Schwächung des wirtschaftlichen Potentials, um so kritischer etwa, wenn dadurch der Fortschritt eines Landes gehemmt wird, das alle verfügbaren Kräfte anspannt, um den Anschluß an den Standard der modernen Welt zu finden. Tausende Arbeiter werden von der Staubentwicklung bedroht, sei es in den Kohlengruben Europas, Amerikas und Asiens, den Goldminen Afrikas und der Sowjetunion, den keramischen Fabriken Japans und Englands oder den Bergwerken Bulgariens, Frankreichs und Ungarns. Die gleichen Gefahren bestehen für Personen, die in Steinbrüchen, Gießereien, Textilbetrieben und vielen anderen Industriesparten beschäftigt sind.

In Südafrika konnten Bergleute früher nur rund sechs Jahre im Stollen arbeiten. Seit der Einführung von Maßnahmen zur Staiufoverhü-tung erhöhte sich die Arbeitsfähigkeit auf 18 bis 27 Jahre, wodurch eine Steigerung der Kapazität um das Drei- und Vierfache erreicht wird. In Großbritannien unterstützt der Staat heute etwa 50.000 Kumpels, die infolge von Staubinhala-tionskrankheit zu Teil- oder Vollinvaliden wurden, aber mittlerweile war ein deutliches Absinken der Zahl neuer Fälle zu verzeichnen: für das Jahr 1960 wies die Statistik noch 3654 akute Erkrankungen aus, für 1965 hingegen nur mehr 1403. Mechanisierung und Automation trugen auch dazu bei, das Risiko von Betriebsunfällen zu verringern. In Finnland zum Beispiel bedingen mehr oder minder schwere Verletzungen beim Beschneiden und Flößen der Stämme jährlich Einbußen bis zu 500.000 Arbeitstagen. In der Bundesrepublik erleidet durchschnittlich 1 von 10 Arbeitern im Jahr einen Unfall. In Italien liegt die Ziffer bei 1 unter 9. Diese Zahlen wurden willkürlich herausgegriffen, um das Ausmaß eines Problems aufzuzeigen, das die gesamte Holzindustrie der Weit betrifft. Die Einführung von Hebevorrichtungen bewirkte eine beträchtliche Reduktion jener Unfälle, die sich dort ereignen, wo menschliche Muskelkraft eingesetzt werden mußte, hauptsächlich handelt es sich dabei um Leistenbrüche. In Eisen- und Stahlwerken ermöglichte es die Mechanisierung und die Verwendung von Abschirmungen, Arbeiter von der direkten Berührung mit beweglichen Teilen und flüssigem Metall fernizuhalten. Sowjetische Techniker haben Pläne für eine voHautomati-sierte Fabrik entwickelt, in der an Stelle der Gießkelien und der Kräne zum Transport von Roheisen und Stahl Induktionspumpen und Röhrensysteme treten sollen, durch welche das Schmelagut von steuerbaren Magnetfeldern angezogen wird Allerdings hat die Modernisierung industrieller und agrarischer Methoden auch ihre schweren Schattenseiten. Den Berichten aus Entwicklungsländern ist au entnehmen, daß sich mangelnde Vorsicht bei der Handhabung gifthaltiger Schädlingsbekämpfungsmittel immer wieder fürchterlich rächt. Parathion zum Beispiel ist für die Ertragssteigerung der Reisernten sehr wichtig, doch kein anderes chemisches Präparat, das in der Landwirtschaft verwendet wird, fordert so viele Todesopfer. Der Einsatz von Maschinen in den Anbaugebieten ist häufig mit einem krassen Anstieg von Verletzungen verbunden — ein Zeichen für unzureichende Unterweisung in der Bedienung der Geräte. In jedem moclsrr.en Wirtscbafts-gefüge wächst von Jahr zu Jahr die Zähl der Arbeitskräfte, die von rein manueller Tätigkeit zu Aufgaben der Manipulation und der Wartung übergehen, und auch diese müssen es lernen, sich diesem Wandel anzupassen. Früher war die Situation vielfach so, daß der Büroangestellte zu gewissen Zeiten des Monats förmlich im Akkord zu arbeiten hatte, dann folgten wieder ruhigere Phasen. Nun übernimmt eine Maschine die Funktionen des Menschen, um den erhöhten Arbeitsanfall zu bewältigen, der vorausgeplant und gleichmäßig auf das ganze Jahr verteilt werden kann. Für den Angestellten selbst ergibt sich dadurch ein tägliches Pensum, das ihn voll auslastet. Und auch belastet.

Er muß erkennen, daß sich Inhalt und Wesen seiner bisherigen Tätigkeit plötzlich verändert haben und daß die Fertigkeiten, die er sich in jahrelanger Praxis aneignete, nicht mehr zählen. Der Buchhalter muß seine Feder weglegen und sich mit einem komplizierten Schaltpult vertraut machen. Die Automation und Rationalisierung erfordert volle Aufmerksamkeit, damit zeitraubende Fehlerkorrekturen vermieden werden. Der veränderte Rhythmus beschleunigst das Tempo, und der Mann oder die Frau am Tasthebel muß damit Schritt halten. Und diese Uberbeanspruchung konditioniert für den „Streß“, die Krankheit unserer Epoche.

Es wurde errechnet, daß bis zu 40 Prozent des Büropersonals, das in den Autamationsprozeß eingeschaltet ist, unter Streß, also dauernder nervlicher Anspannung leidet, als Folge einer Arbeit, die zugleich eintönig und aufreibend ist. Die psychischen und körperlichen Symptome reichen von erhöhter Reizbarkeit, Schlaflosigkeit und Depressionen bis zu Hautausschlägen, Gefäß- und Verdauungsstörungen. Die davon Betroffenen sind in stärkerem Maß unfallgefährdet, anfälliger für Infektionen, Magengeschwüre und Kreislaufschäden.

Der naturwissenschaftliche Fortschritt berührt unser Leben an vielen Punkten. Röntgen- und Gammastrahlengeräte wurden zu wichtigen Faktoren moderner Industrietechnik. Doch da die Radioaktivität Mauern und Abschirmungen durchdringen kann, ist bei der Handhabung solcher Apparate besondere Vorsicht geboten. Gerade diesem Berufsrisiko wurden eingehende Forschungen gewidmet.

Die Revolution in der Teströhre ging nicht ohne negative Begleiterscheinungen ab. Chemische Stoffe reagieren nicht nur in Verbindungen miteinander, sondern auch auf den menschlichen Organismus, vor allem auf das größte Ziel, nämlich die Hautpartien. Tatsächlich betragen arbeitsmäßig bedingte Hauterkrankun-gen in vielen Ländern 60 bis 80 Prozent aller Berufskrankheiten. Die Folge: qualifizierte Kräfte sind auf Monate hinaus zur Untätigkeit verurteilt, und nieht selten bleiben sie so allergisch, daß sie zwangsläufig umgeschult werden müssen. Dennoch sind die in diesen und vielen anderen Wirtschaftszweigen Beschäftigten heute besser gegen Schädigungen geschützt als in der Vergangenheit. Der Problemkreis der Arbeitsmedizin ist auf nationaler wie internationaler Ebene Studien- und Diskussionsthema — aus der Erkenntnis heraus, daß Gesundheit und Wohlstand in enger Wechselbeziehung stehen und daß Krankheit nicht nur Leiden des einzelnen, sondern auch den Niedergang der Gemeinschaft bedeuten kann.

(Copyright by World Health Organization. Aus dem Englischen übersetzt von Gunther Martin

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