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Nähern wir uns schon Huxleys „Neuer Welt“?

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Es ist doch auffallend, daß die Stimmung der Bevölkerung in den Industrieländern in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre sich deutlich von dem noch in den späten sechziger Jahren vorherrschenden Optimismus unterscheidet. Weitverbreitet kommen Zweifel über die Ausrichtung unseres Fortschrittskonzeptes auf. Noch bis zu Beginn der siebziger Jahre wurde es als selbstverständlich angenommen, daß mit einer jährlich gleichbleibenden Steigerung der wirtschaftlichen Leistung von rund 5% eine Steigerung des Wohlstandes der Bevölkerung, also ihres gesamten Wohlbefindens, verbunden sei. Seither ist allerdings eine Fülle von Alarmmeldungen über uns hereingebrochen, und diese haben uns ins Bewußtsein gerufen, daß die Dinge eben doch nicht ganz so einfach sind, und daß das Wirtschaftswachstum allein nicht der Schlüssel zum Himmel ist.

Was haben diese einführenden Überlegungen nun aber mit der Familie zu tun? Die Familie, ja ganz allgemein die zwischenmenschlichen Beziehungen, sind einige der Bereiche, in denen die Ausrichtung auf materielle Ziele (die Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen) zu Auswirkungen geführt hat, die mittlerweile einen besorgniserregenden Umfang angenommen haben. Hat man nicht den Eindruck, daß die utopischen Vorstellungen von einer zukünftigen Gesellschaft, wie sie Orwell in seinem Roman „1984“ oder Huxley in „Brave new world“ entwickelt haben, zunehmend Wirklichkeit werden?

... jede zweite Ehe geschieden, die Geburtenfreudigkeit gesunken...

Letzten Veröffentlichungen zufolge, ist jede zweite Ehe in Wien geschieden, die Geburtenfreudigkeit enorm gesunken, sodaß in vielen europäischen Ländern die Bevölkerungsziffern eine rückläufige Tendenz haben, also mehr Leute Sterben als Kinder geboren werden. Gleichzeitig ist eine zunehmende Uberalterung der Bevölkerung festzustellen, die zu einer weiteren Steigerung des kinderfeindlichen Klimas führt. Von Bedeutung ist auch der ständig zunehmende Funktionsverlust der Familie, der besonders auch durch die steigende außerhäusliche Berufstätigkeit der Frau gefördert wird.

In den Ländern mit den höchsten Werten (zu denen auch Österreich gehört) sind 80% der Frauen im gebärfähigen Alter ins Berufsleben integriert. Die Kinderbetreuung übernehmen Kinderkrippen und Kindergärten sowie Ganztagsschulen. Auch die Krankenbetreuung kann bei dieser Familienkonstellation nur schwer im Haushalt erfolgen und wir&daher zunehmend von Krankenhäusern übernommen. Noch deutlicher ist der Trend bei der Altenbetreuung. Hier wird das Alters- und Pflegeheim immer mehr zur Standardlösung: zwei Drittel der Österreicher sterben im eher anonymen Spital oder im Pflegeheim: Der Mensch wird von großen gesellschaftlichen Apparaten betreut, er wird ein Rädchen im großen gesellschaftlichen Getriebe, die Familie verliert ihre Funktionen.

Na und? werden viele Zeitgenossen fragen und sehr verwundert sein über den eher klagenden Ton solch nostalgischer Schwärmereien. Man muß eben modern sein, mit der Zeit gehen, und die Zeit der Familie ist eben um. Das mag zwar in gewissem Sinn bedauerlich sein, aber die Gesellschaft der Zukunft wird eben ohne Familie funktionieren, wie es ja auch Huxley und Orwell vorhersahen. Hier wollen wir aber einhaken und fragen: Kann die Gesellschaft der Zukunft wirklich ohne Familie existieren? Je nach ideologischem Standpunkt wird man auf diese Frage verschiedene Antworten bekommen. Ich möchte hier hingegen versuchen, mit möglichst vielen Fakten an die Beantwortung dieser Fragen heranzuziehen. Als Grundlage dazu verwende ich eine Untersuchung der Familie in Europa, die im vorigen Jahr von der STUDIA (Studiengruppe für Internationale Analysen) in Wien fertiggestellt wurde. Sie

basiert auf dem Vergleich von 28 europäischen Ländern und wertet ein äußerst umfangreiches statistisches Datenmaterial für den Zeitraum 1950-1973 aus.

Zunächst läßt sich erkennen, daß ein sehr deutlicher Zusammenhang zwischen dem Vorherrschen bestimmter Familienstrukturen und Gruppen von Verhaltensmustern auftritt. Es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen mittlerem Heiratsalter der Bevölkerung, der Kinderzahl in den Familien, dem Anteil der ledigen Personen an der Gesamtbevölkerung und dementsprechend der durchschnittlichen Haushaltsgröße. Auch die Häufigkeit, mit der späte Geburten (sowohl in bezug auf die Ehedauer als auch im Verhältnis zum Alter der Frau) zu verzeichnen sind, weist eine positive Beziehung zu den oben erwähnten Größen auf.

Im Gegensatz dazu stehen die folgenden Größen in negativer Beziehung zu den oben erwähnten Erscheinungen: Die Zahl der vorehelich gezeugten und der unehelichen Kinder und der Anteil der Geburten, der auf junge Frauen entfällt (Frauen unter 20 Jahren) korrelieren ebenso negativ mit den oben angeführten Indikatoren, wie die Scheidungshäufigkeit, die weibliche (insbesondere außerhäusliche) Berufstätigkeit und schließlich die Häufigkeit, mit der Ehen nach sehr kurzer Dauer (also nach weniger als 3 Jahren) geschieden werden.

Interessant ist nun, daß dieses Erscheinungsbild bezüglich der Situation der Familie in den einzelnen europäischen Ländern in Beziehung zu dem mehr oder weniger starken Auftreten von sozialpsychologischen Belastungserscheinungen wie Selbstmord, Mord und Kriminalität steht.

Es zeigt sich, daß die Länder mit wenig Scheidungen, vielen Geburten, großen Haushalten, wenig unehelichen und vorehelich gezeugten Kindern durchwegs dadurch gekennzeichnet sind, daß sie wenig sozialpsychologische Belastung aufweisen, während die Länder mit gegenläufigen Werten bei den Familienvariablen durchwegs hohe Belastung zu verzeichnen haben.

Diese enge Beziehung zwischen sozialpsychologischer Belastung und Aspekten der Familienstruktur gestattet es, eine Bewertung der Familienkonstellation vorzunehmen. Es läßt sich aus dieser engen Beziehung eine Bewertung insofern ableiten, als überall dort, wo sozialpsychologische Belastung in geringem Maße auftritt, die entsprechenden Eigenschaften der Familiensituation als positiv bewertet werden können: Wenige Scheidungen, positive Einstellung zum Kind, späteres Heiratsalter, stabile zwischenmenschliche Beziehungen, wenig voreheliche Beziehungen.

Damit existiert ein objektives Bewertungskriterium für die Familie.

Von dieser Sicht aus betrachtet, erscheint, es mehr als fraglich zu sein, ob eine Gesellschaft der Zukunft ohne (nach traditionellen Vorstellungen funktionierende) Familie auskommen können wird. Noch

deutlicher aber wird die Wichtigkeit der Familie, wenn wir ihre Bedeutung für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes untersuchen. Die Wirtschaft eines Landes braucht, um Erfolg zu haben, unternehmerische Menschen, die bereit sind, Risiko zu tragen, Initiative zu setzen, und die Freude an der Lösung von Sachproblemen haben. Personen, die diese Eigenschaften besitzen, nennt man leistungsmotiviert. Diese Motivation läßt sich sowohl beim einzelnen Menschen, als auch bei Gesellschaften messen.

Nun laßt sich aber zeigen, daß überall dort, wo die „Leistungsmotivation“ sehr stark gesteigert wurde, mit einer gewissen Zeitverzögerung zwar einerseits eine starke wirtschaftliche Leistungssteigerung festzustellen ist, parallel dazu aber auch ein Absinken der Famüienqualität. Diese Tatsache wäre nur dann weiter unbedenklich, wenn nicht wiederum eine enge Beziehung zwischen Familienqualität und Entstehen von Leistungsbereitschaft bestünde. Untersuchungen über leistungsmotivierte Personen lassen aber deutlich erkennen, daß diese Charaktereigenschaft nur unter der Voraussetzung des Bestehens intakter Familienverhältnisse (dauernde personale Zuwendung) herangebildet werden kann.

Die Entwicklung von Schweden und Dänemark macht diesen Prozeß deutlich: Beide Länder wiesen zu Beginn des Jahrhunderts eine sehr hohe Leistungsmotivation auf und haben dementsprechend einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung zu verzeichnen. Gleichzeitig aber verschlechterte sich ihre Familiensituation drastisch, was wiederum zur

Folge hat, daß die Leistungsmotivation in Schweden und Dänemark bis zu Beginn der fünfziger Jahre stark rückläufig ist.

Aus diesem komplexen Zusammenhang ist zu erkennen, daß die allzu starke Ausrichtung auf Systemleistungen, also auf die Erbringung von Dienstleistungen und die Erzeugung von Gütern, langfristig den Keim der Zerstörung auch der Syi stemleistung in sich trägt. Hohe Systemleistung ist ohne ein ausreichendes Maß an intakten zwischenmenschlichen Beziehungen, ohne intakte Famüien nicht aufrechtzuerhalten, wie sich am Beispiel der europäischen Länder zeigen läßt. Denn über die Tatsache, daß Selbstmord und Kriminalität negativ zu bewerten sind, müßte unabhängig von der Weltanschauung Einigung erzielt werden können.

Aus diesen Zusammenhängen wird deutlich, daß die weitere Zerstörung der Famüie zu einem starken Ansteigen der sozialpsychologischen Belastungserscheinungen führen wird. Eine Fortschreibung der Trends im Bereich von Selbstmord, Mord und Eigentumsdelikten in die Zukunft bestätigt dies nur allzu deutlich. Insofern ist daher zu erwarten, daß der Mensch mit dem gegenwärtig noch gültigen Fortschrittskonzept des materiellen Fortschritts um jeden Preis überfordert ist und mit sozialen Krankheitserscheinungen reagiert.

Einen sehr deutlichen Hinweis darauf, daß bereits in der letzten Dekade eine entscheidende Schwelle überschritten wurde, zeigt die Entwicklung der Lebenserwartung in den europäischen Ländern. Die durchwegs steigende Tendenz der Lebenserwartung, die ein Kennzei-

chen des gesellschaftlichen Fortschrittes in den Industrieländern seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts war, wurde im vergangenen Jahrzehnt von einem Rückgang abgelöst: Die Lebenserwartung der Männer ist in vielen europäischen Ländern seit etwa 10 Jahren rückläufig. Neueste Daten lassen bereits vermuten, daß auch bei Frauen eine Trendumkehr zu erwarten ist.

Damit wird aber die zentrale Bedeutung der Familie für die Bewältigung der Zukunft deutlich. Von der Warte des Individuums aus gesehen, ist die Familie jener überschaubare Raum, in dem eine der gefährlichsten Entwicklungen unserer Zeit, die Funktionalisierung aller Lebensbereiche und die vollkommene Appara-tisierung des einzelnen, überwunden werden kann. In der funktionsfähigen Famüie hat der Mensch als Person Bedeutung, er ist nicht beliebig austauschbar, er erbringt Leistungen für eine bestimmte Gruppe von Menschen. Insofern kann die Famüie als „effiziente Produktionsstätte für Lebensqualität“ angesehen werden.

Aber auch von der Warte der Gesellschaft aus gesehen, ist die Famüie von zentraler Bedeutung. Denn eine komplex organisierte Leistungsgesellschaft bedarf auch in Zukunft des unternehmerischen, leistungsmoti-vierten Menschen. Allein dieser Menschentyp wächst nur in intakten Famüien heran und kann nicht das Produkt einer Fließ banderziehung vom Säuglingsalter an sein. Wer daher die Famüie zerstört unter dem Vorwand der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Notwendigkeiten, untergräbt langfristig die Chancen eben dieser Wirtschaft und Gesellschaft. Insofern ist also die Famüie tatsächlich ein Angelpunkt für die Bewältigung unserer Zukunft. Nur wenn es uns gelingt, ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen personaler und funktionaler Ausrichtung herzustellen, werden wir die Probleme der Zukunft bewältigen.

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