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Weniger Kinder aus gelockerten Beziehungen

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„Jede 3. Österreicherin will auf Kind verzichten" und „Votum gegen das Kind" lauteten zwei der Schlagzeilen, die die Nachricht von der statistisch erhobenen Kinderfeindlichkeit der jungen Österreicherin kürzlich verbreiteten. Daß hier Daten falsch gedeutet wurden, zeigt die folgende Situationsanalyse.

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„Jede 3. Österreicherin will auf Kind verzichten" und „Votum gegen das Kind" lauteten zwei der Schlagzeilen, die die Nachricht von der statistisch erhobenen Kinderfeindlichkeit der jungen Österreicherin kürzlich verbreiteten. Daß hier Daten falsch gedeutet wurden, zeigt die folgende Situationsanalyse.

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Bei der Beobachtung von Daten aus den Jahren 1970 bis 1983 hätten Statistiker des Landes Oberösterreich herausgefunden, daß nur zwei von drei Frauen unter 30 Jahren ein Kind zur Welt bringen möchten, lautete kurz gefaßt die Meldung. Diese Haltung sei nicht nur für Oberösterreich, sondern für unser ganzes Land typisch. Auf Rückfrage erklärt der zuständige Statistiker in Oberösterreich, Ernst Fürst, diese Aussage stütze sich auf eine Spezialerhe-bung des österreichischen Statistischen Zentralamtes (Mikrozensus) aus dem Jahr 1981.

Nimmt man jedoch diesen Bericht zum Thema „Kinderwunsch in Österreich" zur Hand, so findet man darin zur größten Überraschung folgende Aussage: „Weniger als zwei Prozent aller verheirateten Frauen im Alter von unter 30 Jahren haben kein Kind und wollen auch keines mehr." Berücksichtigt man die Antworten aller Frauen dieser Altersklasse, also auch die der ledigen und geschiedenen, so gelangt man zu einem Wert von sechs Prozent. Haben wir es also mit einer Zeitungsente zu tun?

Ein Gespräch mit Rainer Münz und Wolfgang Lutz vom Institut für Demographie der Akademie der Wissenschaften klärt den scheinbaren Widerspruch auf. Im Mikrozensus wurden zwei Arten von Daten erhoben: Einerseits der von den Frauen ausdrücklich geäußerte Kinderwunsch und andererseits die tatsächliche Zahl von Geburten. Auf der einen Seite also Willenserklärung und auf der anderen Realisierung.

Untersucht man nun, wie hoch der Anteil der kinderlosen Frauen in den einzelnen Altersklassen ist, so fällt folgendes auf: Die zwischen 1956 und 1960 geborenen Frauen, also die jüngsten in der Untersuchung erfaßten, waren zu einem auffallend hohen Prozentsatz bisher kinderlos geblieben. Geht man nun davon aus, daß sie sich in ihrem weiteren Leben so verhalten werden, wie man es bei den älteren Jahrgängen beobachtet, so gelangt man tatsächlich zu jener Schätzung, von der die Medien berichtet haben.

Fragt man die Frauen aber, ob sie sich Kinder wünschen, so verändert sich das Bild. Es bleiben nur mehr die oben erwähnten zwei bzw. sechs Prozent, die weder Kinder haben noch welche haben wollen.

Und wie sehen nun die Kinderwünsche aus? Der Wunsch nach zwei Kindern überwiegt bei weitem, wie auch eine Umfrage unter Frauen der Heiratsjahrgänge 1974 und 1977 zeigt. Kinderlosigkeit wird eher abgelehnt, und auch die Ein-Kind-Familie wird nur von wenigen als ideal angesehen. Als noch vertretbares Maximum betrachten die Frauen eine Zahl von drei Kindern, und nur zwei Prozent finden eine Familie von vier oder mehr Kindern ideal. Im Durchschnitt wünschen sich die verheirateten Frauen 2,14 Kinder (also zwei oder drei, mit deutlicher Präferenz für zwei).

Jedenfalls wird die Schlußfolgerung gezogen, daß „Kinderlosigkeit ... keine neue Perspektive im Lebensentwurf junger Ehefrauen ist".

Heißt das, daß die Entwicklung der Bevölkerungsdaten im allgemeinen keine Verhaltensänderung zum Ausdruck bringt? Durchaus nicht. Daher ist es wert, sich die großen Linien der vorherrschenden Tendenzen einmal näher anzusehen.

Lange Zeitreihen zeigen, daß Europa seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine langanhaltende Phase des Geburtenrückgangs erlebt hat. Ausgehend von Werten, die wir heute noch in Ländern der Dritten Welt antreffen (drei Geburten jährlich auf 100 Einwohner), hat sich die Geburtenfreudigkeit in den meisten europäischen Ländern drastisch auf etwa ein Drittel verringert. Vorreiter bei dieser Entwicklung waren die nordwesteuropäischen Länder. Österreich folgte zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Seither haben sich die Geburtenraten aber durchaus nicht stabilisiert. Vielmehr beobachtet man ein ausgeprägtes Auf und Ab, das mit wirtschaftlichen und historischen Ereignissen in Zusammenhang steht: Not und Hunger im Ersten Weltkrieg brachten einen ersten Tiefpunkt der Geburten, der Wirtschaftsaufschwung in der Nachkriegszeit hingegen wieder einen Anstieg. Die Weltwirtschaftskrise drückte die Geburtenfreudigkeit wiederum deutlich. Mit Österreichs Anschluß an das Deutsche Reich setzte ein Aufschwung ein, der zu Kriegsende von einem neuerlichen Einbruch der Zahlen abgelöst wurde.

Ab Mitte der fünfziger Jahre steigen die Geburtenzahlen in der gesamten westlichen Welt an. Es kommt zu einem wahren Babyboom, der bis 1964 anhält. Von da an sinken die Geburtenzahlen bis Ende der siebziger Jahre, um sich auf niedrigem Niveau derzeit zu stabilisieren.

Was läßt sich aus diesen Beobachtungen ablesen? Die drastische Verringerung der Geburtenzahlen im 19. Jahrhundert spiegelt die Anpassung des Verhaltens an die Lebensweise in einer Industriegesellschaft wider. Auch die Nachkommenschaft wird — wie das ganze Leben — einer Planung unterworfen.

Die Schwankungen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zeigen, daß äußere Bedingungen auf die Familienplanung, die mittlerweile stattfindet, einen Einfluß ausüben. Die Paare behalten aber grundsätzlich ihre Kinderwünsche bei, verwirklichen sie aber je nach der gesellschaftlichen Lage früher oder später.

In den fünfziger Jahren scheint eine Welle der Zuversicht über die westliche Welt hinweggegangen zu sein. Das drückt sich nicht nur in einer größeren Bereitschaft, Kinder zu bekommen, aus (die meisten Kinder brachten in diesem Jahrhundert die zwischen 1936 und 1940 geborenen Frauen zur Welt), sondern in enorm hohen Heiratsraten: 90 Prozent der zwischen 1930 und 1945 Geborenen heiraten! Die Zahl der unehelichen Kinder sinkt, die der vorehelich gezeugten ist hoch, die Scheidungszahlen niedrig.

Ab Mitte der sechziger Jahre verändert sich das Bild auffallend: Uberall im Westen sinken die Eheschließungszahlen: In Schweden heiraten nur mehr 53, in der Schweiz 59, in Deutschland 61 und in Österreich 69 Prozent. Unter den jüngeren Leuten macht sich die „Ehe ohne Trauschein" breit: 30 Prozent der 20- bis 30jäh-rigen Schweden und Dänen leben in solchen Verbindungen, 15 Prozent der jungen Österreicher.

Auch die Probeehe wird zum gängigen Modell. Fast alle schwedischen Heiratswerber haben vor der Ehe zusammengelebt, ebenso wie 45 bis 50 Prozent der österreichischen.

Die Lockerung der Paarbeziehungen kommt auch in einer wachsenden Scheidungshäufigkeit zum Ausdruck — einem Phänomen, das wir in allen westlichen Ländern antreffen: Von 100 Ehen werden in Schweden 43 geschieden (1965 nur 18), in Dänemark und England 37. In Österreich bewegen wir uns auf ein Drittel Scheidungsquote zu.

Markant ist auch der Geburtenrückgang (30-40 Prozent): Er ist zunächst auf die drastische Senkung der Zahl von Familien mit mehr als drei Kindern zurückzuführen. Das Modell der Zwei-Kinder-Familie setzt sich durch. Der Lebensabschnitt, in dem Frauen Kinder bekommen, verkürzt sich deutlich und umfaßt im allgemeinen nur mehr die ersten sechs Ehejahre. Erst in allerjüng-ster Vergangenheit beobachtet man, daß die Geburten auch bei jüngeren Frauen weniger zahlreich sind, woraus ja die oben erwähnte Sorge um eine steigende Kinderlosigkeit abgeleitet wurde.

Und wie steht es nun um das Geburtenniveau? Derzeit liegen die Fertilitätsraten, also jene Zahlen, die darüber Auskunft geben, ob die Bevölkerung bei Anhalten der gegebenen Geburtenfreudigkeit auf lange Sicht wächst oder abnimmt, bei 0,85. Das bedeutet, daß von einer Generation zur nächsten, also in einem Abstand von 25 bis 30 Jahren, die Bevölkerung um etwa 15 Prozent abnehmen würde.

Bei den Geburten wiederum fällt auf, daß der Anteil der unehelichen seit den späten siebziger Jahren stark steigt. Er liegt derzeit bei 22 Prozent in Österreich (wie überall ist Schweden führend mit 37,5 Prozent). Ledig zu sein, bedeutet somit durchaus nicht kinderlos zu bleiben.

Betrachtet man alle diese Erscheinungen zusammen, so entsteht der Eindruck, daß wir uns auf eine neue gesellschaftliche Situation zubewegen, die durch eine stärkere Individualisierung und Emanzipation des einzelnen gekennzeichnet ist. Bindungen an Partner und Kinder lockern sich. Die Zuversicht bezüglich einer gedeihlichen zukünftigen Entwicklung ist geschwunden.

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