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Mehr vorsorgen als fiirsorgen!

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Ein bedeutender Teil unserer Ausgaben für Fürsorge, Erziehung u. a. geht auf die desolaten gesellschaftlichen und besonders auf die zerrütteten Familienverhältnisse unserer Gemeinschaft zurück. Wenn man das aber erkennt, dann sollte man zwangsläufig auch zu dem Schluß kommen, ob es nicht besser, zweckmäßiger und billiger wäre, rechtzeitig vorzusorgen statt fürzusorgen, und zu verhindern, statt zu heilen und zu reparieren.

Da haben wir zum Beispiel unsere Erziehungsheime für Kinder und Jugendliche, daneben zahlen wir Pflegegelder. Wenn ich mir überlege, daß uns ein Kind im Zentralkinderheim in Wien pro Monat durchschnittlich 1600 S kostet, während wir für ein Kind derselben Altersstufe an eine Pflegefamilie nur 245 S pro Monat bezahlen, dann kann ich da ganz einfach nicht mit. Ich weiß, daß es leider nur sehr wenige Mütter und Familien, besonders kinderlose Familien gibt, die sich bereit erklären, ein pflegebedürftiges

Aus dem Referat des Amtsführenden Stadtrates, für das Gesundheitswesen anläßlich der Beratungen des Wiener Gemeinderates über den Voranschlag 1954.

Kind zu übernehmen, ich könnte mir aber denken, daß die Bereitschaft dazu bedeutend ansteigen und unsere Ausgaben für Erziehungsheime beträchtlich absinken würden, wenn wir diesen Pflegeeltern für ein Pflegekind wenigstens die Hälfte davon bezahlten, was es uns in unseren eigenen Heimen kostet. Der Grundsatz, daß selbst eine halbwegs gute Mutter noch besser als die beste Fürsorgerin und eine halbwegs ordentliche Familie noch besser als eine gute Erziehungsanstalt ist, ist unbestritten. Ohne Zweifel aber sind gesunde Familien und gute Mütter besser und billiger als alle Heime und Anstalten. Die Fürsorge sollte doch nicht der Fürsorge halber, nicht wegen der Statistik, auch nicht einiger Wohlfahrtsonkel und Fürsorgeprofessoren wegen und am allerletzten hoffentlich aus Auslagen- und Propagandagründen da sein. Sie soll den Menschen, den hilfsbedürftigen, den alten und den noch nicht handlungsfähigen jungen Menschen helfen. Sie soll es , auf die zweckm'äßigte und auf die für alle Betroffenen nützlichste Weise tun. Wir sollten doch immer mehr und immer wieder darauf sehen, daß die Familien leisten, was ihnen primär zukommt, und wir sollten überall prüfen, ob nicht doch noch ein gesunder Teil innerhalb der Familie, eine nahe Verwandte oder sonst jemand da ist, der bereit wäre, ein Kind, einen Lehrling, einen alten Menschen in seinem Familienverband zu behalten, aufzunehmen und zu betreuen, wenn man ihm dafür eine entsprechende Unterstützung zuteil werden ließe.

Die Stadt müßte hier auch viel mehr mit allen privaten Fürsorgeeinrichtungen und Wohlfahrtseinrichtungen, mit den Kirchen usw. Zusammenwirken, es müßte eine wirkliche Bewegung entstehen. Vor allem müßte aber dafür gesorgt werden, daß Familien gegründet werden können, daß gesunde Familien gesichert werden und gesichert bleiben und daß kinderreiche Familien ganz besonders unterstützt und bevorzugt behandelt werden.

Der Weg, den wir heute gehen und der sich auch in unserer Stadt in erschreckenden Ziffern kundtut, führt in den Volkstod und in das Unglück, wirft Probleme auf, die uns heute schon erschaudern machen.

Wenn sich die slawischen Völker, die Inder und Chinesen, die Juden und viele Völker Südamerikas usw. tatsächlich fast unheimlich stark vermehren, so ist das sehr zu beachten. Es ist aber unmöglich und auch in keiner Weise gerechtfertigt, daß ausgerechnet Oesterreich und die Oesterreicher den Ueberschuß anderer Völker wettmachen. Unsere volkspolitische Entwicklung ist zumindest derzeit noch immer alarmierend und beängstigend. Sie ist, abgesehen von vielen anderen Ueberlegungen, schon aus dem praktischen Grunde sehr beunruhigend, weil wir bei ihrer Andauer sehr bald nicht nur eine große Anzahl von Schulen schließen und Lehrpersonen abbauen müßten, Arbeitsplätze unbesetzt hätten usw., sondern weil wir vor allem nicht wüßten, wer denn die Pensionen und Renten, die auf dem Umlageverfahren basieren, bezahlen soll. Die Zahlen aus dem Statistischen Jahrbuch der Stadt Wien sind deutlich genug: 1947 noch 23.550 Geburten, 1952 nur noch 12.570, denen 26.000 Todesfälle gegenüberstehen, so daß also in diesem Zeitraum doppelt soviel Menschen gestorben sind als geboren wurden. 1934 hatten 27% aller Ehen nur ein Kind, 1951 stieg dieser Prozentsatz auf 40%. 1934 waren 16% der Familien solche mit 3 Kindern, jetzt sind es nur noch 14%. Familien mit 5 Kindern sind seit 1934 auf die Hälfte gesunken. Die Gemeinde betreut fast 30.000 uneheliche Kinder und in den Heimen und Pflegestätten rund 6000.

Der Wille zum Kind ist in Wien unter allen Großstädten der Welt am geringsten. Dies geht einerseits aus der absolut niedrigen Geburtenziffer, anderseits aus der noch immer hohen Sterblichkeit der Säuglinge im ersten Lebensmonat hervor. Wir wissen außerdem, daß sehr viele Kinder in unserer Stadt schon im Mutterleibe vernichtet werden. Wenn wir bedenken, daß in der NS-Zeit auf jede nicht unbedingt notwendige vorzeitige Unterbindung der Schwangerschaft die Todesstrafe gesetzt war, und damit die Propaganda und die Geschäftigkeit unserer Zeit in der gdnau gegenteiligen Richtung vergleichen, dann könnte man an der Demokratie und anderem fast verzweifeln. Verläßliche Stellen schätzen die jährliche Anzahl vön verhinderten Geburten für ganz Oesterreich auf nahezu 400.000.

Ein Volk, dessen Mütter nicht gebären wollen, geht auch nicht so sorgsam mit den Kindern um, daher ist auch die Nachsterblichkeit, das heißt die Sterblichkeit im ersten Lebensjahr nach Vollendung der ersten Lebenswoche, in Wien größer als in Tirol und Vorarlberg, obwohl den Müttern in diesen Ländern bei weitem nicht so viele sanitäre Einrichtungen zur Verfügung stehen wie den Frauen in Wien.

Eine interessante Zahl aus dem Statistischen Jahrbuch der Stadt Wien ergibt, daß der Bevölkerungs a b g a n g im Jahre 1947 1729 betrug, im Jahre 1951 aber bereits 13.322. Die geringe Geburtenziffer Oesterreichs und besonders Wiens würde nicht so auffallen, wenn die westlichen Staaten, besonders aber Frankreich, in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten ihren damals unheilbar erscheinenden Geburtenrückgang nicht teilweise radikal abgebremst hätten. Frankreich ist es dank einer materiellen und geistigen Reformbewegung und großzügiger Hilfsmaßnahmen gelungen, die Bevölkerungspolitik nahezu umzukehren. In Frankreich und auch in Paris sind heute in den gesündesten Familien Kinderzahlen von 3, 4, 5, 6 und mehr durchaus keine Seltenheit mehr. Der bevölkerungspolitische Todesmarsch wird auch bei uns nicht anders gebremst werden können als durch eine gleichzeitige materielle und geistige Aktion und durch das Zusammenwirken aller hier verantwortlichen Faktoren.

Da die Geburtenrückgänge auch auf dem Lande und bei reichen und gesicherten Leuten auffällig sind, ist wohl nachgewiesen, daß es hier nicht allein um ein materielles Problem geht. Wenn wir aber in Wien die Familiengründungen wesentlich fördern, die Familienerhaltung weitgehend sichern und den kinderreichen Familien besonders helfen könnten, würde eine gleichzeitige geistige Beeinflussung der Bevölkerung ganz sicher weitaus mehr Erfolg haben als das noch so schöne bloße Zureden allein. Darum am Schlüsse dieses Kapitels noch einmal der Aufruf zu einer großzügigen und umfassenden Familienpolitik nicht nur des Bundes, sondern auch unserer Stadt und überall dort, wo sie praktisch möglich und halbwegs tragbar ist.

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