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Wohin am Abend?

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Ist es auf unsere Mentalität, auf das Klima, „die Gesellschaft“, was immer man darunter verstehen mag, oder einfach auf die bereits vollzogene Anpassung der jungen Menschen zurückzuführen, daß in Wien am Abend Totenstille herrscht? In Rom hingegen, im Pariser Quartier Latin, in Barcelona, aber auch in Düsseldorf, beginnt mit Sonnenuntergang ein für Wiener Besucher sehr eindrucksvolles Erwachen zu abendlichem Leben, bevölkern junge Menschen die Straßen und Lokale.

In Wien ist vom - neuerdings sogar vom amerikanischem Film vermarkteten - „Samstag-Nacht-Fieber“ nichts zu bemerken. Eine kleine Minderheit von Wienern sitzt in Konzerten und Theatern und strebt, sobald der Applaus verebbt, schnurstracks nach Hause. Die große Mehrheit sitzt vor dem Fernsehapparat oder schläft schon (oder tut beides zugleich). Junge Menschen, die nicht zu Hause bleiben, aber auch nicht die etablierten Kulturgüter konsumieren wollen, finden ein geradezu lächerlich armseliges Angebot von Möglichkeiten zu geselliger abendlicher Freizeitgestaltung.

Die verbotene Gitarre

Auch tagsüber hat man oft schon den Eindruck, daß Spontaneität zugunsten von „Ruhe und Ordnung“ abgewürgt wird. Spanier, Franzosen, Italiener, Griechen können einfach nicht verstehen, daß in Wien - auf Grund des 1971 beschlossenen Veranstaltungsgesetzes - sogar das Klimpern auf der Gitarre in der Öffentlichkeit nur mit einer Genehmigung erlaubt ist. Was jungen Franzosen (und auch Ausländern) abends vor Notre-Dame von Rechts wegen recht ist, ist den Österreichern noch lange nicht billig: die Bezirksvorste-hung der Inneren Stadt muß sich, ob sie will oder nicht, mit den Beschwerden von Geschäftsleuten befassen, die sich zwar dem Verkehrslärm, nicht aber einfacher Gitarrenmusik anzupassen vermögen.

„Bei uns ist man reserviert“, meint der Sozialpädagoge Werner Riedl vom (dem Jugendamt der Stadt Wien unterstellten) „Info-Center“. „Wir Österreicher sind nicht besonders tolerant, scheuen uns, einander offen zu begegnen.“

Beispiel für diese schon bei der Jugend feststellbare Kontaktscheu, vom Verfasser dieses Berichtes selber erlebt: In Paris saß er im Studentenviertel auf einem Brunnenrand und bot seinem zirka 18jährigen Nebenmann eine Zigarette an - der Kontakt war da. In Wien saß er auf der Kärntner Straße und bot ebenfalls einem zirka 18jährigen Nebenmann eine Zigarette an. Der junge Wiener stand auf mit der Bemerkung: „Mit Schwule will i nix zu tun haben!“

Es handelt sich natürlich um einen Einzelfall. Aber er ist signifikant.

Im erwähnten Wiener „Info-Center“ meldeten sich im vergangenen Jahr rund 4600 junge Menschen im Alter von 15 bis 25 Jahren. Es wurde 1973 vom Jugendamt der Stadt Wien

beziehungsweise der Magistratsabteilung 11 gegründet und will junge Menschen in allen Belangen beraten. Nach dem Namen der Ratsuchenden wird nicht gefragt. Die Berater sind Beamte und kennen sich daher auch im Behördendschungel aus, was bei einer solchen Tätigkeit wichtig ist. Die Atmosphäre ist unkonventionell. Für junge Menschen mit besonderen

Kommunikationsschwierigkeiten gibt es Arbeitskreise und dergleichen, wo sie mit anderen jungen Menschen zusammenkommen. Mittlerweise gibt es sogar zwei Zweigstellen.

Wenig Hasch, viel Einsamkeit

Jeder vierte junge Mensch kam, so Werner Riedl, wegen Problemen im zwischenmenschlichen Bereich, jeder zwanzigste mit Depressionen, nur einer von hundert im Zusammenhang mit Drogenkonsum und Phobien.

.Wien ist auch auf dem Hasch-Sektor anscheinend eine Insel der Seligen: Die teils auf Evidenzhaltung, teils auf Schätzung der Polizei beruhende Zahl von 500 Süchtigen im Alter von 16 bis 30 Jahren bleibt konstant („Neuzugänge“ machen die Todesfälle wett) und mutet bescheiden an, vergleicht man sie mit der französischen Statistik, wonach elf Prozent aller dortigen Jugendlichen Rauschgifterfahrung haben, im Ballungsraum Paris aber dreimal so viel.

Die erfreuliche Tatsache, daß wir hierzulande kein besonders ins Gewicht fallendes Rauschgiftproblem haben, schafft das Problem der Vereinsamung junger Menschen aber nicht aus der nur scheinbar heilen Welt. Und eine der Hauptursachen dieses Problems ist nun einmal der Mangel an Gelegenheiten, andere junge Leute kennenzulernen, Kontakte zu knüpfen, außerhalb der Familie gesellig zu sein.

Das Elternhaus ist dafür kaum ein Ersatz. Schon durch die Wohnsituation der Eltern haben nur ganz wenige junge Menschen die Möglichkeit, in der Wohnung der Eltern ungezwungen mit ihren Freunden beisammen zu sein. Und jeder Psychologe weiß, daß die Tendenz, in einem bestimmten Alter „auf Distanz zu den Eltern zu gehen“ (auch wenn man sich mit ihnen noch so gut verträgt) eine völlig normale, entwicklungsbedingte Erscheinung darstellt. (Die Unmöglichkeit solcher Distanz ist hingegen konfliktträchtig!)

Viel zuwenig Kinos

Wo geht der junge Mensch also am Abend hin? Zum Beispiel ins Kino. Im Zentrum von Paris mit 2,3 Millionen Einwohnern (doppelt soviel wie die Bevölkerung Wiens) gibt es 61 „Complexes“, das sind Kinos mit mehreren Sälen, in denen gleichzeitig Vorstellungen stattfinden, und 167 gewöhnliche Kinos. In Österreich sank die Gesamtzahl der Kinos von

1975 bis 1977 von 626 auf 522, in Wien von 103 auf 84.

Den rund 15 Diskotheken unserer Bundeshauptstadt mit zum Teil horrenden Preisen stehen in Paris 19 „reine“ Dancings und 68 „Cabaret-Dansants“ (eine Mischung von Tanz-und Varietelokal) gegenüber.

Flohmärkte sind in ganz Europa gang und gäbe und ebenfalls ein Treffpunkt von ganz besonderer Art für junge Menschen. Wiens Flohmarkt wurde aus dem Stadtzentrum in den sechsten Bezirk abgeschoben - wegen „Hehlereiverdachtes“. Statt daß man, was viel besser gewesen wäre, die Kontrollen verschärft und die Vorherrschaft etablierter Geschäftsleute eingedämmt hätte.

Ein Zusammenhang zwischen der Abdrängung der jungen Menschen von Kommunikationsgelegenheiten mit Niveau auf die Straße oder in eher obskure Lokale und der Jugendkriminalität ist natürlich kaum nachzuweisen. Doch ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß doch so mancher nicht auf die schiefe Bahn geraten wäre, wenn es mehr Möglichkeiten für junge Menschen

gäbe, ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten.

Die Jugendkriminalität steigt besorgniserregend - 1977 um 4,4 Prozent. Dozent Dr. Franz Csäszär vom Kriminologischen Institut der Universität Wien stellt fest, daß nicht nur die Zahl der beim Jugendgerichtshof angezeigten Strafunmündigen und Jugendlichen (rund 5000 im Jahr -was der Einwohnerzahl einer mittleren Ortschaft entspricht), sondern auch die Quote der Vorbestraften unter den Straffälligen steigt. Unter den 17jährigen, die vor Gericht erscheinen, ist mittlerweile bereits jeder dritte einmal oder mehrmals schuldiggesprochen. Mit dem Alter steigt auch die Schwere des Deliktes. Vier von fünf jungen Menschen, die vor Gericht stehen, sind Burschen.

Schuld an der steigenden Jugendkriminalität ist sicher nicht nur die Kommunikationsarmut; die noch

nicht voll ausgebildeten Hemm-Me-chanismen junger Menschen, die beim Erwachsenen am häufigsten durch den Alkohol ausgeschaltet werden, werden in einer Welt, die materiellen Besitz zum immer ausschließlicheren Maßstab aller Werte und Verdienste erhoben hat, einfach überstrapaziert.

Darüber soll aber keinesfalls vergessen werden, daß es, so Csäszär, kein Wunder ist, wenn in einer Umgebung, in der „nahezu jede auf ganz natürlichen Verhaltenstendenzen beruhende Lebensäußerung zu Konflikten mit anderen Personen führt, die gegen Lärm und Bewegung allergisch sind“, in der Entwicklung junger Menschen „Störungen auftreten, die einen greifbaren Ausdruck insbesondere in gewaltsamen Angriffen auf Personen und Sachen finden“.

Siehe das Verbot, auf der Straße Gitarre zu spielen, über das einsichtsvolle Erwachsene den Kopf schütteln, das aber Jugendliche, die sich einer Welt der sichtbaren und unsichtbaren, kleinen und großen Freiheitsbeschränkungen noch nicht

angepaßt haben, zu Trotzreaktionen provoziert.

Das ist natürlich keine Entschuldigung für kriminelle Handlungen, soll und will keine sein. Selbst wenn die Umweltfaktoren noch so schlecht sind, die Umwelt ist niemals allein schuld.

Einrichtungen, die jungen Menschen helfen, den Halt, den sie suchen, zu finden, die gibt es. Verschiedene Institutionen, nicht zuletzt die Kirche, haben Jugend- und sonstige Kommunikationszentren aufgebaut, in denen an die Eigenverantwortlichkeit appelliert wird. Der junge Mensch „muß als Person wahrgenommen werden, auch wenn er noch nicht im Leistungsprozeß eingespannt ist“, sagt Franz Csäszär. Es gibt Organisationen, die sich dieser Aufgabe widmen, die intensive Jugendarbeit betreiben.

Doch sie können nicht die Atmo-

sphäre einer Stadt ändern, ihr der Entfaltung junger Menschen feindliches psychologisches Klima.

Gräben zwischen den Generationen

Wien ist zum Beispiel bestimmt keine besonders kinderfreundliche Stadt, aber für die Kinder wurde wenigstens einiges getan. Es gibt in den neuen Wohnvierteln in den Außenbezirken, aber auch in der Innenstadt, eingezäunte Spielplätze. Jugendliche haben auf Kinderspielplätzen aber nichts zu suchen, Spielplätze für Größere sind schon viel seltener. Daß sie auch ganz gern einmal fußballspielen möchten, ohne gleich einem Verein beizutreten, hat sich unter den Erwachsenen noch nicht genügend herumgesprochen.

Ganz schlecht schaut es mit den Chancen für die Kommunikation zwischen den Generationen außerhalb des engsten Familien- und Freundeskreises aus. Während es etwa in Düsseldorf ein Lokal neben dem anderen gibt, wo junge Menschen neben älteren sitzen und miteinander ins Gespräch kommen können (und auch kommen), scheint bei uns der unsichtbare Graben zwischen clen' Jugendlichen und den älteren Generationen eher tiefer zu werden. Ganz allgemein wird ja die Kommunikation zwischen Menschen, die einander noch nicht kennen, immer mehr auf den beruflichen Bereich eingeschränkt.

Heirat als Ausweg?

Auch die Älteren empfinden das als bedrückend, aber sie haben wenigstens bereits eine eigene Familie. Junge Menschen, die dem Kindesalter und der eigenen Familie entwachsen sind, aber noch keine eigene gegründet haben, dürfen sich allenfalls damit trösten, auch bald heirate'n zu können. Und es scheint alles andere als unwahrscheinlich, daß die „Mode“, immer früher zu heiraten, nicht zuletzt auch auf die Vereinsamung des jungen Menschen in einer kommunikationslosen, oft kommunikationsfeindlichen Gesellschaft zurückzuführen ist.

Auch zwischen den jungen Leuten verschiedener gesellschaftlicher Schichten gibt es wenig Kommunikation. Ein 17jähriger Wiener:

„Die einen, die mit Schottenschal und Lodenmantel, die gehen ins Kaffeehaus und ins .Monte' (eine Nobeldiskothek im ersten Bezirk), die anderen, die mit den schäbigen Jeans und dem Ohrflinserl, bequemen sich ins Kino, in den Prater oder in den Z-Klub oder wackeln in einer lärmerfüllten Diskothek mit den Hüften. Treffen sie auf der Kärntner Straße aufeinander, dann gibt es Anstänkerungen und so.“

Wer mit seinen Problemen gar nicht fertig wird, geht ins Info-Center in der Damböckgasse im sechsten Bezirk, wo sich sieben hauptberufliche Mitarbeiter, Juristen, Psychologen, Pädagogen, Psychiater, um ihn bemühen.

Aber nur Montag bis Freitag, von 12 bis 19 Uhr. Wen die Verzweiflung am Wochenende packt, der muß bis Montag warten. Doch die Einsamen packt die Verzweiflung mit Vorliebe am Wochenende ...

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