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Ein Typ aus der Retorte

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Konnte Helmuth Schelsky die Generation nach dem Kriege noch eine skeptische nennen, weil sie aus begreiflichen Gründen irre geworden war, wird es allmählich höchste Zeit, für die mitten unter uns lebende Jugend die richtige Charakterisierung zu finden. Es ist ganz gut, sich vorerst darüber klar zu werden, warum die damalige Jugend skeptisch geworden war. Sie wurde in den Jahren vorher straff an ein Richtbild förmlich „gebunden”, „gleichgeschaltet” sagte man damals. Der „heldische Mensch” hat die Jugend zu allen Zeiten irgendwie fasziniert, noch dazu wenn er mit soldi suggestiver Einflußnahme und mit solchem Nachdruck eingehämmert wird und ohne einer möglichen Überlegung oder gar kritischen Abstandnahme Raum zu gewähren. Der Skepsis mußte die bittere Ernüchterung folgen; es mußte diesen jungen Menschen wie Schuppen von den Augen fallen.

Bei allem Verständnis für diesen Sturz aus den Wolkenhöhen dürfen wir auf keinen Fall eines übersehen: dem jungen Menschen kommt ein Richtbild, ein Leitbild irgendwie entgegen. Wenn er ein solches gläubig annimmt und aufnimmt, vollzieht sich seine menschliche Reifung harmonischer. Der junge Mensch braucht gleichsam eindrucksvoll vorgelebt plastische Menschenbilder, nach denen er sich in der Zeit des Übergangs von der Kindheit zur Jugend „richten” kann, denn die elterlichen Vorbilder verlieren dann von Jahr zu Jahr mehr und mehr an Wirkmacht. Wie arm ist in dieser Hinsicht nun unsere gegenwärtige Generation! Muß sie nicht zwangsläufig gleichgültig, schwunglos, fahr- und nachlässig, indifferent werden? Schon in der frühen Kindheit fallen heutzutage für die meisten Kinder die elterlichen Vorbilder aus, sind doch beide erwerbstätig, und ihre mitmenschlichen Kontakte an den Abenden reichen kaum aus, richtig zur Besinnung zu kommen.

Für und wider die Leitbilder

Man weiß nicht recht, ob man sich freuen, ob man trauern oder weinen soll, daß die zuständige Erziehungswissenschaft bereits offen über das „Für und Wider” der Leitbilder1 diskutiert. Es werden die Ideale der vergangenen Zeiten und die Leitbilder der Gegenwart analysiert: von den tiefenpsychologischen Interpretationen der menschlichen Urver- fassung bis zu Don Quichotte, dem Urbild der Idealisten und zum Ritterideal der deutschen Jugendbewegung. Obwohl sich „alles erzieherische Tun und alles pädagogische Denken” „mit tiefer Berechtigung” dem Bild verpflichtet weiß, neigt Günter Bittner sehr stark dazu, Leitbilder in der Jugenderziehung abzulehnen, weil die Bildungsbeflissenen nur zu leicht und zu unversehens sich in die Gefahr begeben, „über diese Zukunftsgestalt selbstherrlich- idealisch verfügen zu wollen”. Obwohl nämlich von solchen Lebensentwürfen eine nicht genug hoch einzuschätzende Prägekraft ausgehen kann, liegt darin anderseits freilich die Gefahr einer gewissen Erstarrung oder Verfälschung des konkreten gegenwärtigen Lebens. Es kann und soll nicht geleugnet werden, daß diese Gefahr für jeden Erzieher zweifellos besteht; trotzdem wird man es in einem Gemeinwesen viel eher verantworten können, daß und wenn dieser Versuchung zur Bildung Berufene ausgesetzt sind oder ihr gar unterliegen. Sie wissen darum, daß es in der Natur des Menschen liegt, sich selbst und seine Mitmenschen (besonders Kinder und Jugendliche) im Bild in die Zukunft hinein zu entwerfen.

Tief bedauerlich und geradezu tragisch müssen wir es jedoch nennen, wenn wir in der unmittelbaren Gegenwart die Augen darüber gehörig geöffnet bekommen, wer in diese offenkundige Bresche gesprungen ist und welche Lockbilder für die Jugend errichtet wurden. Im Seelenleben des Menschen bleibt eine Lücke nicht lange offen: in einem „existentiellen Vakuum wuchert die Libido”, stellt V. E. Frankl fest. Wir dürfen ruhig ergänzen: Und blüht dias (unseriöse) Geschäft. Es ist in höchstem Grade besorgniserregend, wenn man aus verschiedenen Publikationen erfahren muß, wie und mit welchem sicheren Erfolg der Mensch heute ohne jedwede Scheu oder von Ehrfurcht diktierter Zurückhaltung bis in die allerletzten Leibes-, Lebens- und Liebesintimitäten hineinmanipuliert wird. Es ist nicht mehr die marktschreierische Werbetrommel bei hellem Licht des Tages, es sind anonyme, ferngesteuerte, ab- und hintergründige Reklametricks von höchstem Raffinement kommerzialisierter Werbepsychologen, die ihre Kenntnisse der Sehnsüchte und Abgründe des menschlichen Herzens zu abgefeimten (nämlich naiv-niederträchtigen, unschuldig-unverfrorenen) Methoden ausbauen und ihre unkritischen Zeitgenossen auf zumeist schäbigste Weise mißbrauchen.

Längst haben diese Manager der menschlichen Schwächen und Leidenschaften erkannt, daß die heutige weibliche Jugend aller Länder über sehr viel Geld verfügt und (wie zu allen Zeiten), für alles Neue, für den Wandel und Wechsel in allen Dingen in geradezu heilloser Verblendung anfällig, auf mühelose Weise § zum Spielball des rollenden Geldes gemacht ja, faktisch gemacht) werden kann, denn der moderne „Teenager (ist) ein Typ aus der Retorte” dieser Hexenküche der Gegenwart, wie Helmut Lamprecht in seiner aufrüttelnden Schrift eindrucksvoll beweist.2, Wir stehen hier vor einem weltumspannenden, ernsten Problem von größter Tragweite für die Zukunft. Auf diesem Gebiet versa- sagen die politischen und die gewerkschaftlichen Mittel und Mächte. Hier bedarf es auf jeden Fall der Unmittelbarkeit mitmenschlicher Erziehung.

Die gewaltige Kaufkraft

Geradezu ein Musterbeispiel dafür liefern die Teenager von England, die von dem englischen Volkswirtschaftler Orwell erforscht und in „Searchlight” (einem Programm der britischen Granada-Television) veröffentlicht wurden. Sie geben jährlich etwa 120 Millionen Pfund Sterling (oder 1,3 Milliarden DM oder 8200 Millionen Schilling) für Modekleidung aus, ferner eine knappe Milliarde DM für Zigaretten und Tabak, eine halbe Milliarde DM für Alkohol, 400 Millionen DM für Schokolade und Süßigkeiten, 300 Millionen DM für Zeitungen und Illustrierte. Mit dieser enormen Summe ist aber erst ein Drittel ihrer Kaufkraft erschöpft. Nach Richard Kaufmann3 ist ihre Kaufkraft größer „als die Summe, die der englische Staat für Erziehung und Gesundheit ausgibt”. Und diese für die englischen Verhältnisse geltenden Zahlen dürften noch erheblich von den amerikanischen übertroffen werden. Zur Intensivierung des Geschäftes unter dem Deckmantel der Psychologie schrieben Psychologinnen aus dem bekannten Gesell- Institut ein eigenes „Party-Book”, aus dem schon die Kinder lernen sollen, „entwicklungsgemäß” Parties zu veranstalten. Schließlich hört die „Entwicklung” bei einer „Pyjamaparty” für vierzehnjährige Mädchen auf, wobei sie ganz ungeheuerliche Mengen Nahrungsmittel verschlingen, ehe sie — um vier Uhr früh (!)

— einschlafen und am anderen Morgen nach Hause gehen. Bei den amerikanischen Müttern fand dieses fragwürdige Buch großen Anklang und rasche Verbreitung; sie merkten gar nicht den Spott eines boshaften Soziologen, der ihre Kinder einfach „Konsumlehrlinge” nannte. Man kann hier mit Qualtinger nur sagen: Die amerikanische Erziehung geht seltsame Wege.

Wie ein Spion ins feindliche Lager begab sich Helmut Lamprecht mitten hinein ins geschäftliche Treiben der Bundesrepublik. Er enthüllt unbarmherzig die Praktiken der kommerzialisierten Manager. Anstatt daß die Freizeitgestaltung der Jugend von gutdotierten Bildungsinstanzen betreut wird, betreibt die Modeindustrie in aller Öffentlichkeit auf dem Teenagermodemarkt mit äußerster Intensität ihr profltreiches Freizeitgeschäft. Nach einer Erhebung der Gesellschaft für Konjunkturforschung (Nürnberg) aus dem Jahre 1964 verwenden in der Bundesrepublik die Mädchen zwischen 14 und 24 Jahren über 90 Prozent ihres nicht geringen Taschengeldes für den Ankauf von Kleidung und kosmetischen Artikeln. Mit anderen Worten heißt das: an die sieben Millionen Teenager kaufen jährlich für 2,3 Milliarden DM Kleidung. Die Relationen auf diesem Gebiet werden in Österreich in durchaus vergleichbarem Ausmaß sein. Kaum weniger wichtig sind die Teenager für die Musifcbranche, da sie (nach dem „Musikmarkt” Heft 1/1959) nicht nur spontan kaufen, sondern zudem über reichliche flüssige Gelder verfügen, die in den Kassen der Schallplattenhändler oder Musikautomaten landen. „Die Schallplattenindustrie der ganzen Welt richtet sich heute nach ihnen.”

Der einstige „Backfisch”

Willy Haas, einer der anspruchsvollsten deutschen Literaturkritiker, schrieb vor einigen Jahren das Vorwort zu einem Teenagerbuch, in dem er nachweisen zu können glaubte, daß ein Zeichner den neuen Mädchentyp geschaffen haben soll, obwohl er längst vorher in allen Schaufenstern und durch alle Illustrierten als Reklamefigur geisterte. Früher nannte man sie „Badefische” (Backfisch stammt aus der Anglersprache: kleine Fische, die noch zu jung sind und wieder ins Wasser zurückgeworfen werden). Die biologische Frühreife machten sich die Werbechefs zunutze und formten den neuen, aus Amerika importierten, überschlanken Mädchentyp, erdacht in den Reklamelaboratorien psycho- technischer Bedürfnislenker.

Und „die Konfektionäre der Schere arbeiten mit den Schneidern der Seele Hand in Hand” (Lamprecht). Es ist nun gänzlich ausgeschlossen, den Inhalt dieses seines aufrüttelnden Buches auch nur andeutungsweise wiederzugeben. Wir müssen uns in diesem Rahmen leider versagen, in allen Sparten der kommerzialisierten Freizeitgestaltung die rote Linie des Geldes zu verfolgen und im Gefolge seiner leichtsinnigen Vergeudung die exzessive Vergröberung des jugendlichen Menschenbildes. Welch rüder Jargon herrscht in den „verklubten” Teenagerzirkeln (von der „Genickschußbremse” für den männlichen Nackenwulst, den „Wimmerstift” für den Partysänger bis zu den bis ans Ordinäre grenzenden vielen Bezeichnungen für Mädchen: von der „Biene” bis zur „Bombe” und „Brumme” von der „Krücke” bis zur „Lusche” usw.). Von ähnlichem Niveau ist natürlich die Lektüre in diesen Klubs, die von den Comics-Produzenten, den „Missionären des internationalen Infantilismus” (Stefan Andres), in der Form eines schwunghaften Handels gelenkt wird: „Gefühl” wird darin zur Ware und „Blut” zum Geschäft. Nur von einem geschäftlichen Standpunkt orientiert sind die Lockbilder des Films („Vorbilder” kann man sie nicht nennen). Die Produktion solcher Lockbilder verläuft verblüffend einfach: Stars werden zu synthetischen Halbgöttern aufgradiert, füllen jedenfalls die klaffende Lücke fehlender Leitbilder aus und bringen infolge solcher Hohlräume eine förmliche Business-Lawine ins Rollen. Nach einer Mitteilung von Egon Jameson aus London haben die Beatles an die 11 Millionen DM aus Platten, Gastspielen, Rundfunk, Fernsehen und Wochenschauen in einem Jahr eingenommen.

Die neuen Stammesbräuche

Diese „neue Jugendbewegung” sei so mächtig, schreibt eine große deutsche Tageszeitung, „daß wir uns alle ihr beugen, ihren neuen Moden und Riten, ihren Tänzen und anderen Stammesbräuchen: Coca-Cola und Bürstenhaare und wie man die Zigaretten anzündet, das alles diskutiert heute die Jugend mit dem unnachahmlichen Charme holder Unwissenheit…” Bei der „holden Unwissenheit” dieser „schlanken, schwebenden Mädchengestalten” wird die Sache in höchstem Grade bedenklich und folgenschwer. „Holde Unwissenheit” ist nicht nur die Voraussetzung für alle erfolgsicheren Geschäftspraktiken, auf dieser Basis beschreitet das Management bereits den Weg der gänzlich unverantwortlichen Sittenverderbnis. Nach einem Artikel in der „Deutschen Zeitung” (XII/1963) sprechen aufsehenerregende polizeiliche Schätzungen „von rund 10.000 minderjährigen Streunerinnen, die gegenwärtig in der Bundesrepublik unterwegs sind”. Durchschnittlich sollen täglich 30 Mädchen ihre Familien verlassen. Aus ihnen rekrutiert sich der Nachwuchs für das „graue Gewerbe”: in vielen Städten Europas werden dringend „Ausziehmädchen” gesucht, die ihren Körper als „Künstlemum- mer” für einen ansehnlichen Betrag zur Schau stellen. Ihre Manager wissen um den enormen Bedarf, gibt es doch „Betriebe”, die bis zu 20 Mädchen „verkraften” können. Vorbildung brauchen sie keine, erhalten dafür aber eine „anständige Verdienstmöglichkeit”, wie einer dem Interviewer gegenüber verharmlosend meinte und zynisch ergänzte: „Was nach Feierabend ist, das weiß ich nicht.”

Bedenkenloses Zusammenleben

Nach den Zeitungen anderer europäischer Länder wird es immer alltäglicher und selbstverständlicher, daß die jungen Menschen von heute bedenkenlos Zusammenleben. „Die Promiskuität unter Jugendlichen scheint sich überall zum Normalverhalten zu entwickeln” (Lamprecht, Seite 141). Die Folgen konnten nicht ausbleiben, weil gerade die gegenwärtige Jugend noch weniger als die Jugend anderer Zeiten zu einem solchen freien Umgang der Geschlechter entsprechend vorbereitet wurde und weil daher auch sie nicht imstande ist, Übermenschliches zu leisten. Ein erschütternder Bericht von der „Britischen Medizinischen Vereinigung” (BMA) vom Frühjahr 1964, der das Ergebnis zweijähriger Erhebungen eines Teamworks aus Ärzten, Soziologen, Pädagogen und Seelsorgern an Jugendlichen unter 25 Jahren zusammenfaßte, schok- kierte ganz England. Die aufgezeigte Verhaltenskonformität treibe schon 15jährige Jungen und Mädchen in sexuelle Erlebnisse, nur um nicht als Außenseiter zu gelten. Während der Jahre 1956 bis 1962 hat sich die Gonorrhöe bei männlichen Jugendlichen um 63 Prozent, bei den Mädchen sogar um 78 Prozent erhöht. Bei den 11- bis 16jährigen haben sich die Schwangerschaften in der Zeit verdreifacht, und zwei von drei Müttern unter 20 Jahren wurden schwanger, ohne verheiratet zu sein. Abschließend wird festgestellt: „Die vorliegenden Unterlagen deuten darauf hin, daß die Promiskuität breiter ist als früher und daß dies durch eine vollständig veränderte Einstellung zur sexuellen Moral und zur Moral im allgemeinen hervorgerufen wird.” Angesichts dieser immer mehr um sich greifenden Verwirrung muß man sich wundern, daß sogar seriöse Frauenzeitschriften dieser „veränderten Einstellung” noch Vorschub leisten, indem sie einen „Nachmittag mit ihm” als harmlose Kameradschaft deklarieren, weil man der heutigen Jugend keine „objektiven Gesetze” oder sittliche Normen zumuten könne.

„Voller Verheißung wie nie zuvor”

Wenn wir zum Ausgangspunkt zurückkehren, müssen wir vergleichsweise feststellen, daß die gegenwärtigen Manager mit ihrer unentrinnbar aufdringlichen, suggestiven Einflußnahme durchaus mit den Methoden der seinerzeitigen Machthaber konkurrieren können. Die gegenwärtigen Beeinflusser erzielen im Gegenteil viel nachhaltigere und viel schwieriger abzuschüttelnde Wirkungen: Bequemlichkeit und Sympathie für diese neuen’ Lebensformen und das traumwandlerische Gefühl „holder Unwissenheit”, frei zu sein, stehen jedem Wandel der Dinge schwerstem entgegen. Das politische Desinteressement der Jugend ist daher chronisch und ihre Arbeitsfreude leicht zu abwertender Unlust und zu ungeduldigen Abwehrreaktionen zu „versteifen”. Junge Intellektuelle begrüßen bereits diese politische Indifferenz und halten diesen neuen Menschentypus für eine erfreuliche Erscheinung, sei er doch „frei von Prinzipien und wirklichkeitsfeindlichen Ideen und Ideologien, ein Mensch (wie Eckart Kroneberg reflektiert) frei vom Zwang gesellschaftlicher Gesetze und politischer Ressentiments, ein Mensch: nur noch in aktuellen Beziehungen existierend, springend von einer Möglichkeit zur anderen, allen Möglichkeiten geöffnet, unbefestigt — also immer beweglich und bewegt und also frei für jede neue Begegnung in jedem Augenblick, ein Mensch, angelegt auf die Bejahung seines Mitmenschen, frei also wie nie zuvor und voller Verheißungen wie nie zuvor” (Nach Lamprecht, Seite 11).

1 Bittner Günter: Für und wider die Leitbilder. Heidelberg 1964.

* Lamprecht Helmut: Teenager und Manager. München 1965.

* Kaufmann Richard: Gebrannte Kinder. Düsseldorf 1961.

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