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Des Wohlfahrtsstaates Schatten

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In der'Monatszeitschrift „Die Zukunft1“ klagt der scharfsinnige sozialistische Theoretiker Czer-netz, daß viele Leute die Leistungen des Wohlfahrtsstaates, der durch die Kraft der arbeitenden Massen erkämpft worden ist, als Selbstverständlichkeit ansehen und sich nicht mehr weiter bemühen. Sosehr es die Sozialisten mit Freude und Stolz erfülle, daß sich die Menschen darin wohlfühlen, werden doch viele Arbeiter einfach bequem und sorglos. Und das beginne zu einer ernsten Gefahr zu werden.

In der Tat, Czernetz hat, obwohl er vom Parteistandpunkt urteilt, recht. Diese Haltung ist bloße Nutznießung, Benefizium, nur Pfründe, der keine eigene Bemühung entspricht. Um wieviel bedenklicher muß diese Tendenz sein, wenn sie im klassischen Lande der Demokratie, der Selbstverwaltung, der Privatinitiative, der „Her-rtnmoral“, in England allenthalten offenkundig wird. Deshalb lassen die Feststellungen Charles C u r r n s aufhorchen, der diese dunklen Schatten des Wohlfahrtsstaates an Hand einer soziologischen Untersuchung2 aufzeigt. Die Folgen sind so tiefgreifend, daß er von einem völligen Wandel in allen Bezirken des forensischen Lebens spricht: Politik, Presse, Lebensgewohnheiten, ja selbst der britische Volkscharakter scheinen sich zu verändern. Jetzt, da die gewaltige, durch die industrielle Revolution und durch den Wohlfahrtsstaat verursachte Umschichtung nahezu abgeschlossen ist, hat das Bild des neuen Standes, der vor allem der Gegenstand seiner Ausführungen ist, klare Gestalt gewonnen.

Freilich, und das betont Curran, wird, welche Schwächen und Fehler diese Entwicklung auch immer zeitigt, kein ernsthafter Beobachter bestreiten, daß sie Englands soziales Gewissen von einer schweren Last befreit hat. Die Schattenseiten sah aber kein geringerer als Churchill voraus, der wußte, daß Rentnergesinnung und Risikofreudigkeit Antipoden sind, daß die echte Fülle des Lebens nicht in der Zufriedenheit, der Wohlgelungenheit, der Ankunft besteht. In seiner Rundfunkrede am 4. Juni 1945 wetterte er gegen jene, die allzu gerne in naiver Bereitschaft das Mäntelchen der Sicherheit dem Risiko vorzögen und bereit seien, die eigene Freiheit an den Nagel zu hängen, um als Marionettenfigur in einer der riesigen bürokratischen Apparaturen Unterkunft und Bequemlichkeit auf Lebenszeit zu finden.

,i... Hier in unserem alten England ... der Wiege und der Hochburg der freien Demokratie in der ganzen Welt, haben wir es nicht gerne, wenn man uns einordnet, uns herumkommandiert und uns alles, was wir im Leben tun, vorschreibt. Und wir bestrafen ja auch Verbrecher damit, daß wir sie nach Wormwood Scrub und Dartington schicken, wo sie Vollbeschäftigung finden und wo Kost und Quartier vom Innenminister bestimmt werden. .. Meine Freunde, ich muß euch sagen, daß eine sozialistische Politik mit dem britischen Gedanken der Freiheit unvereinbar ist...“

Ein einziges Wort — meint Curran — charakterisiert diesen neuen Stand: das Wort „Sicherheit“. Sicherheit, so wie sie die Arbeiterklasse versteht, wie sie mit Methoden der Arbeiterklasse errungen und verteidigt wird. Die traditionellen Werte des Mittelstandes und der Schicht der Akademiker zählen hier nicht: Für den Lohnempfänger besitzen diese Werte keinerlei Bedeutung.

Für den Bürger des Mittelstandes ist wirtschaftliche Sicherheit ein Ziel, das vor allem durch persönliche Anstrengung erreicht werden muß. Sie ist eine Sache- der Sparsamkeit, der Selbsthilfe, des Selber-an-sich-Arbeitens, des Vorwärtsstrebens im Konkurrenzkampf. Aber der Handarbeiter sieht die Dinge anders. Für ihn ist jede Verbesserung seiner Lebensbedingungen im wesentlichen ein kollektiver Prozeß

— etwas, das man nicht selber als Einzelmensch, sondern in •Gemeinschaft mit seinen Arbeitskameraden erreicht. Für dieses Ziel organisiert er sich, gibt er seine Wahlstimme ab, streikt er

— immer in Gemeinschaft. Es heißt immer „wir“, nicht „ich“. Der amerikanische Sozialistenführer Eugene Debs faßte diese Haltung in einen einzigen Satz zusammen: „Ich will nicht aus der Masse aufsteigen, ich will mit ihr aufsteigen.“ Der neue Stand verkörpert das Ideal des organisierten Handarbeiters: eine Gemeinschaft, die in ihren Reihen keine Konkurrenz kennt und für deren Mitglieder kollektiv gesorgt wird, in der die Vollbeschäftigung in etwa Gleichheit der Anstrengung, des sozialen Ranges und des Einkommens gewährleistet, in der der einzelne Bürger keinen Aufstieg zu erstreben und keinen Aufstieg zu fürchten braucht. Sie ist ein Hafen, in dem keine wirtschaftlichen Stürme wehen. Lind ihre Lockungen sind sehr realer Natur.

Denn in der Welt des neuen Standes wird kein Haushalt gezwungen, für die Niederkunft der Mutter, für Krankheit oder Erziehung, für Versicherung oder Arbeitslosigkeit oder für das Alter selber Vorkehrungen zu treffen — da für all dies der Staat sorgt. Die traditionellen Pflichten des Ehegatten und Vaters sind entweder drastisch beschnitten worden oder gänzlich weggefallen. Es ist eine Welt, in der die Löhne mehr oder weniger all Taschengeld betrachtet werden können - als zusätzliches Bargeld, das man, statt es in erster Linie für lebensnotwendige Dinge auszugeben, für Annehmlichkeiten verwenden kann. Nichts zeigt diesen Taschengeld-Charakter der Löhne deutlicher als die Struktur der Wohnungsmietert, die der neue Stand bezahlt. Diese sich auf Zuschüssen aus öffentlichen Mitteln gründende Struktur löst die Verpflichtung des Staatsbürgers ab, aus eigenen Mitteln für sich und seine Familie ein Heim zu schaffen. Eine ähnliche Verschiebung der persönlichen Ausgaben — immer weniger für die lebensnotwendigen Dinge und immer mehr für Luxusanschaffungen—kann natürlich nach vielen Richtungen hin beobachtet werden — das Geld wird verzettelt für Tabak, Alkohol, Wetten, Vergnügungen usw.

Für einen Betrachter aus dem Mittelstand ist das ein Lebe,n aus zweiter Hand. Es drückt die persönliche Verantwortung auf ein Mindestmaß herab. Es gestattet die Verbindung der Freiheit einp Erwachsenen mit der sorglosen Sicherheit eines Kindes. Es hat so fest Wurzel geschlagen, daß wohl nur ein Krieg oder ein wirtschaftlicher Zusammenbruch es umstürzen könnte. Welcher Art sind die Menschen, die es hervorbringt?

Man besuche einen Haushalt des neuen Standes irgendwo im Land, und man wird ein Lebensschema vorfinden, das — von einigen regionalen Verschiedenheiten abgesehen — überall das gleiche ist. Er ist ein Ort massenproduzierten Komforts auf bequeme Teilzahlung. Die Anregungen für die Wohnraumgestaltung -entstammen dem Film und den Frauenzeitschriften. Das Wohnzimmer weist in einigen Fällen ein Möbelstück auf, das unter der Bezeichnung Hollywood-Hausbar gehandelt wird, seine Brennpunkte sind aber gewöhnlich der gekachelte Kamin und das Radio — Symbol dafür, daß man sich etwas leisten kann. Bücher sind selten, Bücherschränke noch seltener. Für. den neuen Stand .bedeutet das Wort „Buch“ eine Zeitschrift, etwas mit einem festen Einband wird „Büchereibuch“ genannt. 1

Vom September bis Mai pflegen ein oder mehrere Mitglieder der Familie einen Abend in der Woche mit dem Ausfüllen von Fußballtotoscheinen zuzubringen. Der heimliche Traum, auf diese Weise eine große Geldsumme zu gewinnen, ist praktisch allen eigen. Aber mehr noch als der Totoschein gibt der Lesestoff des neuen Standes Aufschluß über seine geistigen Interessen. Zeitungen und Wochenschriften werden in großer Zahl gekauft, und fast alle haben ein Merkmal gemeinsam. Sie sind nach der Art der Boulevardblätter aufgemacht, die sich seit Kriegsende bei der britischen Oeffentlichkeit wachsender Beliebtheit erfreuen — und nirgends mehr als beim neuen Stand. Die erfahrenen Techniker der Boulevardpres“se bieten dem neuen Stand etwas, dessen er dringend und verzweifelt bedarf: eine Zuflucht vor Atomalpträumen, vor drohendem Chaos und vor einer Welt verwirrender Probleme, für die niemand Patentlösungen zu offerieren vermag. Die Boulevardblätter sind nicht pornographisch, wie einige ungenaue Kritiker behaupten. Sie zeichnen das Bild eines einfachen, freundlichen, lenkbaren Universums, einer warmen traulichen Heimstätte für Erotik, Abenteuer, Trivialität und Phantasie. Sie liefern, dem neuen Stand eine eigene Kunstform mit den Comics — einem psychologisch treffsicheren Mittel, um einer bestimmten Schicht von Lesern eine ihre Sehnsüchte erfüllende Bildvorlage zu liefern, in der sie sich als kraftvolle Jünglinge oder als erotisch unwiderstehliche Frauen sehen können. Alle diese Gestalten des Rundfunks, des Fernsehens und des Films, von denen einige wirklich sind, andere der Phantasie entstammen, sind die Götter und Göttinnen des neuen Standes. Sie bewohnen den Wachtraumhimmel des Reichtums, des Luxus und des Sexappeals, zu dem der Totoschein eines Tages das Geld für die Eintrittskarte liefern wird.

Ein Innenleben dieser Art hat es bisher in England noch nicht gegeben. Es steht in krassem Gegensatz zu den Erwartungen, von denen die

Soziale fornier angespornt wurden — daß nämlich der Handarbeiter, sobald er von den Fesseln der Armut und der Unsicherheit befreit wäre, am kulturellen Besitz der Nation mitgestalten würde. Nichts dergleichen ist eingetreten.

Was (wenn überhaupt etwas), fragt Curran, können wir dagegen tun? Müssen wir diese Goldschnittversion von Disraelis anderem England hinnehmen, diese passive, gefügige Masse beeindruckbarer Staatsbürger, denen es darum geht, sich möglichst schnell aus der Verantwor1-tung in die Phantasie zu flüchten? Müssen wir erleben, daß sich der neue Stand immer weiter ausbreitet, bis er fast die ganze Nation erfaßt?

Mit Rezepten ist Curran vorsichtig. Die Förderung des Eigentumsgedankens empfiehlt er, erfolgversprechend erscheint ihm aber, die traditionellen Anschauungen und Werte Englands in die Massen zu tragen, so etwa wie Wesley das evangelische Christentum in das Proletariat der industriellen Revolution trug. Immerhin könnte ihm das „Credo eines freien Mannes“ vor Augen gestanden sein, daß sich in der amerikanischen Zeitschrift „Readers Digest“ abgedruckt fand und das gerade auch wegen der in den USA um sich greifenden Wohlfahrtsstaatstendenzen von hoher Aktualität ist:

„Ich will unter allen Umständen kein Aller-weltsmensch' sein. Ich habe ein Recht darauf, aus dem Rahmen zu fallen — wenn ich es kann. Ich wünsche mir Chancen, nicht Sicherheiten. Ich will kein ausgehaltener Bürger sein, gedemütigt und abgestumpft, weil der Staat für mich sorgt. Ich will dem Risiko begegnen, mich nach etwas sehnen und es verwirklichen, Schiffbruch erleiden und Erfolg haben. Ich lehne es ab, mir den eigenen Antrieb mit einem Trinkgeld abkaufen zu lassen. Lieber will ich den Schwierigkeiten des Lebens entgegentreten, als ein gesichertes Dasein führen; -lieber die gespannte Erregung des eigenen Erfolges als die dumpfe Ruhe Utopiens. Ich will weder meine Freiheit gegen Wohltaten hergeben, noch meine Menschenwürde gegen milde Gaben. Ich habe von meinen Vätern gelernt, selbst für mich zu denken und zu handeln, die Früchte meiner Arbeit zu genießen, der Welt ge'ade ins Gesicht zu sehen und zu bekennen, dies ist mein Werk. Das alles ist gemeint, wenn wir sagen: Ich bin ein freier Mensch.“ i Die Zukunft, Heft 5/6, K. Czernetz. Nur keine

Selbstzufriedenheit!

' Spectator 6656, Charles Curran, The New Estate In Brltain.

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