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So redet doch mit der Jugend!

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Wir leben in einer Zeit, in der zuweilen Bischöfe den Vorwurf der jungen Kapläne fürchten, sie seien noch einem konventionellen Christentum verhaftet, und Politiker oder Staatsmänner in der Angst leben, sie könnten von der jungen Generation als veraltete Typen disqualifiziert werden. Es kommt dann vor, daß sich die Alten bei ihrem Gehaben mit einem Make-up versehen, um ein Image zu bekommen, von dem sie erwarten, daß es die Jungen akzeptieren werden. Die Gesprächssituation zwischen den Alten und den Jungen kommt damit nicht besser in Fluß. Es gibt angesichts dieses Zustandes viele positive und negative Diagnosen über unsere Jugend. Ich will mich mit dem Folgenden beschäftigen:

Die Jugend der Zwischenkriegszeit ist eine politisch engagierte Jugend gewesen. Mit einer Hingabe bis zur Selbstaufopferung ist sie ihren Vätern in die Bürgerkriege und auf die Schlachtfelder des zweiten Weltkrieges gefolgt. Sie unterschied sich darin vollends von diesen Vätern, die zur Zeit ihrer Jugend, etwa vor 1914, keineswegs ihren eigenen Vätern nachgerannt sind, sondern sich mit einem sehr heftigen Aufbegehren gegen die Welt dieser Väter, so wiie sie das bürgerliche 19. Jahrhundert hinterlassen hatte, gewendet hat. Es ist ein eigenartiger und oftmals beobachteter Rhythmus, daß die Großväter von ihren Enkeln eine späte Rechtfertigung erfahren. So betrachtet, haben es nach 1945 die Väter der Jugend von damals nachgesagt, sie hätte keine Ideale und sie kenne keine Romantik; sie sei desillusio- niert, skeptisch und nicht engagiert; sie genieße die „Wunder“ der Wohlstandsgesellschaft und die Sicherheit im Wohlfahrtsstaat kaltblütig und ohne das Gefühl einer Verpflichtung.

Diese „skeptische Generation“ von damals ist nun bald 40 Jahre alt geworden; ihre Mitglieder sind zum Teil bereits arriviert oder drängen sich doch in den Vordergrund des gesellschaftlichen Lebens. In dem Maße, in dem dies geschieht, wird die dritte junge Generation, die nach 1945 kommt, sichtbar; man sagt ihr nach, sie sei daran, aus der Gesellschaft, die das Wiederaufbauwerk ihrer Väter gewesen ist, auszuziehen. Die Spannungen, die in der Generation der jungen Menschen von 20 und 30 Jahren in ihren Beziehungen zu dem, was man die industrielle Gesellschaft, die Konsumgesellschaft und die Wohlstandsgesellschaft nennt, existieren, sind in der Tat beträchtlich. Im Gegensatz zu der zweiten Generation nach 1945 wollen diese jungen Menschen den unbehaglichen Zustand nicht nur analysieren, sondern ändern. Nicht wenige von ihnen bereiten sich vor, aus dieser Gesellschaft in einem Ausbruch von Vitalität zu emigrieren.

Diese Jugend bejaht nicht länger und unbedingt die Vorgegebenheiten der sie umgebenden Gesellschaft, und sie erregt mit ihren Emanzipationsbestrebungen beträchtliches Aufsehen. Die Avantgarden in diesem Ausbruch, die Gammler, die Beatniks, die Provos und die Kommunarden, haben durch ihr Auftreten die Bürger der Wohlstandsgesellschaft, die mit diesen Vorkommnissen nichts anzufangen wußten, vollkommen überrascht. Seither sind diese Typen Interessante Studienobjekte der Psychologen, Pädagogen und Soziologen geworden; die Hüter der Ordnung in Staat, Kirche und Gesellschaft setzen ihre Autorität ein, ohne damit durchzudringen; die Massenmedien verbreiten interessante Schilderungen dieser Vorgänge; aber nur die wenigsten wissen Genaues darüber oder haben eine Vorstellung, wie die Alten mit dieser Fremdheit auskommen sollen.

Nun sind die ersten dieser unerwarteten und unerklärlichen Avantgarden bereits wieder hinter dem Horizont der Aktualität verschwunden. Das Blumenfest der Hippies ist zu Ende; und die Provos, deren provozierendes Auftreten bei Fürstenhochzeiten die Welt noch eben so schockiert und die Bilderbuchgeschichten der Illustrierten ruiniert hat, sind quiesziert; und die Kommunarden denken darüber nach, wie sie es aufs neue anstellen müßten, damit man wieder aggressiv oder womöglich gewalttätig gegen sie vorgeht und sie in der Gesprächssituation bleiben.

So unerwartet und stoßkräftig die Ausbrüche der Jungen gekommen sind, so zähe und träge hat sich diesen Bewegungen gegenüber vielfach die bestehende Ordnung, das Establishment, erwiesen. Das Unerfreuliche an der Situation sind wohl nicht die Exzesse, die brutalen Provokationen und die geschmacklosen Verulkungen, mit der junge Menschen trachten, ins Bild oder zu Wort zu kommen, sondern die Tatsache, daß es immer Ausdruck einer Krise des gesellschaftlichen Lebens ist, wenn Philister mit Studenten zusammengestoßen sind und es darüber keine ideelle oder äußere Ordnung gegeben hat, die Anerkennung gefunden hat Das gilt auch für den Konflikt der Beatniks mit den Spießern.

Dabei sind alle diese Erscheinungen und Konflikte nicht neuartig und einmalig. Immer wieder rennen „rettende Eliten“ gegen ein Establishment an, verzweifeln in ihrer „Einzigartigkeit“ und erstarren dann ein Leben lang in tödlichen Rückschlägen. Immer wieder gibt es ein Ringen der Futuristen und der Romantiker.

Wer könnte den Ausbruch der Jugend von heute im Auge haben, ohne an den ihrer Großväter im Jahre 1914 zu denken. Ernst Toller beschreibt in „Eine Jugend in Deutschland“ dieses Ereignis ebenso wie Carl Zuckmayer, der über seine Erinnerungen aus dem Jahre 1914 den Titel schreibt „Als wär’s ein Stück von mir“; und Thomas Mann übertrifft alle in der begeisterten Hingabe, mit der er zu seiner Zeit, vor 50 Jahren, den Auszug aus der guten Stube der bürgerlichen Gesellschaft mitgemacht Wie viel von diesem Ausbruch hielt und hält, das ist in dem nachzulesen, was die drei Genannten und unzählige andere seither geschrieben haben, als alles vorbei gewesen ist. Carl Zuckmayer meint, einen solchen Ausbruch wie 1914 wird es in der Weltgeschichte nicht mehr geben. Aber ähnliche Ausbrüche geschahen vor- und nachher, und einer vollzieht sich hic et nunc. Um das nachzuweisen, muß gesagt werden, daß es 1914 bei dem Ganzen nicht einfach um den Ausbruch einer Kriegsbegeisterung gegangen ist; vielmehr um den Auszug aüs Zonen der Sicherheit über Grenzen der Gefahren hinweg in eine aufs äußerste bedrohte Existenz; um das Vertauschen einer Existenz in den Plüschfauteuils mit der brutalen Primitivität des Schützengrabens, die alle Ärmlichkeit des damaligen Proletarierdaseins bei weitem übertroffen hat.

Nach dem zweiten Weltkrieg hat die Parole der vierziger und fünfziger Jahre gelautet: Zuerst einmal die Wirtschaft; halben wiir die Wirtschaft in Ordnung gebracht und leistungsfähig gemacht, dann werden Wohlstand und Wohlfahrt mit automatischer Sicherheit nachfolgen; in einer rationell geordneten Welt wird schließlich auch T?.\ lug Freizeit vorhanden sein, um in dieser Freizeit ein kulturelles Dasein genießen zu können. All das war nicht nur aristokratischen oder großbürgerlichen Eliten zugedacht, sondern den Massen; allen und jedem.

John F. Kennedy durfte 1962 ln seinem berühmten Gespräch mit Andrė Malraux sagen, das Problem unserer Zeit sei die Organisierung der Wirtschaft; das Management, die Technik und die Inganghaltung des Wirtschaftsappa'vtes würden kein ideologisches P Abiem ausmachen, sondern ein orgamtatorisches.

Es soll nicht auPdie Frage eingegangen werden, wie perfekt zum Schluß im letzten Drittel des 20. Jahrhundert der Wohlstand und die Sicherheit geraten sind. Die anfängliche These, wonach dn Hinkunft das wirtschaftliche Leben nie mehr in jene Zustände zurücksinken werde, in denen im den zwanziger und dreißiger Jahren regelmäßig wiederkehrend die Krisen entstanden sind, und die andere These, daß man mit den materiellen Möglichkeiten des Wohlstandes und der Wohlfahrt das Risiko und die Tragik aus dem menschlichen Dasein herausscthneidan werde, haben längst nicht mehr jene blinde Gläubigkeit für sich, die in der Staats- offlzialität der fünfziger Jahre zum Ausdruck gekommen ist.

Wo sich die Emtideologlisiening gegen die Methoden der Rattenfänger der Zwischenkriegszeit wendet, tut sie recht; wo sie die Wünsche und Erwartungen, Ängste und Hoffnungen, die in den Ideologien stek- ken, als normwidrige Irregularitäten eines rationell geordneten Daseins abtun möchte, geschieht dein Leben Gewalt. Mehr als je zuvor orientiert sich der Wille der Menschen nicht nur nach Verstand und Wissen, sondern auf Grund von Empfindungsstärke und Einbildungskraft; mag diese Tatsache noch so sehr unter Verschluß gehalten werden: sie ist die Folge der durch den modernen Sachglauben schwer verletzten Innerlichkeit.

In der Kritik an John F. Kennedy haben die an ihm zuletzt irre gewordenen, anfänglich von seiner Persönlichkeit begeisterten Dichter und Künstler gesagt, es käme in einer

Zeit wie dieser nicht so sehr darauf an, Menschen mit bloßem Tatsachen- : wissen obenan zu haben, sondern auch andere, die Anschauungen zu erfassen und zu vertreten imstande sind. Das aber bedeutet, daß der Weisheit letzter Schluß nicht nur die Intaktheit des Managements, der

Technik und des Apparates ist. Und so vollzieht sich neuerdings der Auszug der Jugend. Wenn ich das sage, dann reflektiere ich nicht nur auf die Avantgarden der Gammler, Beatniks, Provos und Kommunarden. Auch unter den Jungen gibt es nicht nur Revolutionäre, sondern Reformer, und wohl auch solche mit einem restaurativen Denken; und gar nicht wenige unter ihnen hängen einem ramantftscihen Bild einer Erinnerung nach, das plötzlich wiieder- aufgetaucht ist, oder einem romantischen Ideal. Jedes Denksystem erlebt im Zeitpunkt des höchsten äußeren Triumphes die Widerlegung durch die Ideen des im Vorangegangenen und von ihm scheinbar endgültig Unterdrückten. Und so geschieht es, daß die Romantiker unter uns nicht nur mit der am Beginn der ersten industriellen Revolution von den Romantikern gestellten Warnung vor einem Staat, der bloß Manufaktur und Meierei und Assekuranz ist, recht bekommen, sondern auch dm Hinblick auf den heutigen Zustand des Bildes vom Mienschen.

Die Konsumgesellschaft hat überhaupt kein Bild vom Menschen gehabt, sondern nur Idole ihrer Zeit: den erfolgreichen Mann, das Prestige, den Teenager, den Roboter, das faszinierende Image. Aus alldem entstand ein Mosaik, das sich bei der geringsten Wendung der Zeit gedreht hat, wie das Bild der Steine im Kaleidoskop. Die Idole wurden reizend und faszinierend für junge Menschen; aber sie kamen nicht an die Eindrucksfähigkeit heran, die der Mensch dann, wenn er jung gewesen ist, nie in einem gleichen Maße wiedererlangt.

Es genügt nicht, die Jungen in einer apologetischen Manier gegen den stereotypen Vorwurf der Alten zu verteidigen, die Jugend hätte keine Ideale. Da so viele Alte den Jungen in perfekter Manier vorgelebt haben, wie man es tun muß, um sich im Alter der Ideale der Jugend mit Erfolg zu schämen, wird aus solchem Verhalten kein Vorbild kommen können. Nun ist aber längst bekannt, daß nach dem, was geschehen ist, junge Menschen nur sehr schwer mit dem Anbefehlen des Ordentlichen, mit dem Beweis des Richtigen und mit der Predigt des Guten zu führen sind; in so vielen Ohren ist ein Nachhall des Chansons, das Helmut Qualtinger dem Wilden mit seiner Maschin’ gesungen hat: „Ich weiß zwar net, wohin ich fahr’, dafür bin ich g’schwinder dort.“

Bei der ungeheuren Diskrepanz, die zwischen dem Fortschritt der Technik und der übrigen geistigseelischen Entwicklung besteht, geht es nicht mehr so sehr um die Geschwindigkeit; es geht um Richtung und um Ziele. Nachdem 1945 zuerst die Wirtschaft da gewesen ist, ist zuletzt nicht nur Wirtschaft gefragt, zumal dann, wenn mit der Enttäuschung über aufkommende stagnierende Verhältnisse auch die Chancen neuer Rattenfänger möglich werden. Unbestreitbar ist die spürbare Bewegung, in die junge Menschen, und vor allem die studierende Jugend, geraten sind. Noch sind in alldem keine neuen Sachinhalte sichtbar; noch hat diese Bewegung nicht in den Mechanismus des Politischen eingerastet; aber dflie Frage ist gestellt: Wer wird die neue Begeisterungsfähigkeit reel beantworten? Die Kirche, der Staat, die politischen Bewegungen?

Vorläufig fehlt es an der Ordnung im Gespräch. Die Sprache der Jugend ist für die Alten schreckhaft, und die Sprache der Alten scheint den Jungen langweilig, nichtssagend und fremd zu sein. Die gemeinverständliche Sprache zu finden, darin ausdrucksfähig und bildkräftig zu werden, ist die erste Voraussetzung des fälligen Dialogs. Wir wissen, daß das, was man dlie Erziehungsnotstände unserer Zeit nennt, zum größten Teil darauf zurückgeht, daß die Gesprächssituation zwischen den Alten und den Jungen nicht intakt ist. Die industrielle Gesellschaft hat bereits freie Zeit produziert, aber noch immer zuwenig mit innerer Freiheit, in der die Begegnung der Menschen jenseits von der Zerstreuung des Lebens stattfinden könnte.

Der Dialog soll nicht fa ideologisch, politische oder psychologische Analysen münden, sondern in einen Aufruf, die Bewegung der Jugend ja nicht an uns vorbeiziehen zu lassen; mit dem gemessenen Schritt der Veteranen gehören die Alten nicht zu den Spitzen der Avantgarden; aber es könnte ein Marsch ins Chaos werden, wenn sie glauben würden, es ginge alles gut, wenn sie die Verpflegseinheiten in Ordnung hielten.

Je unbändiger der Ausbruch der Jugend ist, desto ernster ist der Auftrag an die Alten, dafür zu sorgen, daß der geistige und materielle Boden fest bleibt; man überlasse die Sprache und die Tat nicht den Animateuren der Teenager, der Provos, der Gammler und der Kommunarden. Ob es dem Menschen und seiner typensetzenden Kraft gelingen wird, inmitten der Wirbel wieder festen Fuß zu fassen, das ist die Frage. Mit dem Hinweis auf verbrauchte Typen und Methoden ist nicht genug getan. Es geht um die Jugendbewegung der Menschen, die im Jahre 2000 die Erfüllung ihres Lebens finden werden; es geht um Autoritäten, die junge Menschen zu allen Zeiten zu finden verstehen und respektieren; nicht nur um Souveränitäten, die angesichts der von Grund auf gewandelten Verhältnisse nicht mehr anzubieten haben, als alte Zielansprachen, verbrauchte Methoden und unglaubwürdig gewordene Typen.

Die Zeit ist reif für eine neue J ugendbewegung.

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