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Das X in der Rechnung

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I.

Es gehört zu den erschütterndsten Szenen, die Schiller geschrieben hat: Wallenstein, der Realist, der nüchterne Einschätzer der Menschen und Situationen, hat nur einen unverrückbaren Glauben, den an die Vorherbestimmung durch die Sterne. In diesem blinden Glauben traut er dem am meisten, der sein Verräter ist. Und selbst als das Spiel Octavios nahezu völlig entlarvt ist, schleudert Wallenstein seiner Umgebung das starrsinnig-großartige Wort entgegen: „Die Sterne lügen nicht.“ Man muß diesen Sternenglauben des Barockmenschen Wallenstein in die heutige Zeit übertragen, wenn man das Denken eines Kommunisten verstehen will. Man muß in Rechnung stellen, daß der Astro-logus Seni abgelöst worden ist durch den wesentlich gewichtigeren Professor Hegel, der genau vor 120 Jahren zu Berlin verstorben ist, dessen Erbe aber über Feuerbach, Marx und Lenin heute in Stalin und den Seinen lebt. Jener Hegel, der in seiner verhängnisvollen Gleichsetzung von reinem Denken und reinem Sein den Satz geprägt hat, daß nicht nur alles Vernünftige wirklich, sondern auch alles Wirkliche vernünftig sei. Daß sich die Tatsachen nach den Gedanken zu richten hätten und Wahrheit nicht die Ubereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit, sondern die Identität eines Denkinhalts mit sich selbst bedeute. Dies alles, vom Kopf des idealistischen Philosophierens auf die Füße materalistisch-ökonomischer Wirklichkeit gestellt, gehört zum tief eingewurzelten Denkschema des heutigen Kommunisten. Anscheinend ist dieser dialektische Materialismus, auf die einzelnen Menschen in ihrer klassenmäßigen Struktur angewendet, unwiderleglich. „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist“, hat Lenin gesagt. Anscheinend stimmt das alles auch. Das Sein bestimmt das Bewußtsein, nicht umgekehrt.

Und doch hat diese Rechnung eine Lücke. Solange man im Bereich der reinen Theorie bleibt, ist es schwer, dieses anscheinend festgefügte Gebäude zu erschüttern, wiewohl es auch da möglich ist. Es gibt aber heute bereits unleugbare Zeichen in der Praxis, die dieses deterministische Schema ad absurdum führen. Von solchen Zeichen, die auf den strenggläubigen Marxisten wirken müssen wie die Kopernikanischen Einzelentdeckungen auf den orthodoxen ptolemäischen Geographen, soll hier die Rede sein.

II.

Wenn man mit denkenden, führenden Kommunisten in den Oststaaten spricht, begegnet man im privaten Gespräch kaum der propagandistischen Schulmeinung: „Es ist alles aufs beste bestellt in der besten der möglichsten Welten.“

Mit ernstem Kopfnicken wird alles bestätigt, was an kritischen Einwänden dem tatsächlichen Leben in den Volksdemokratien gegenüber vorgebracht wird. Man kennt besser als wir glauben: Strebertum, Postenjägerei, Korruption, sturen Subalterngeist. Man kennt die Hundertfünfzigprozentigen, die Neubekehrten, die Mitläufer, die Doppelzüngler, die potentiellen Verräter. Nicht alles, was bei den innerkommunistischen Säuberungsprozessen zu Protokoll gegeben wurde, ist Lüge und Erfindung. Es gibt bestimmt auch heute noch viele maßgebende Funktionäre in den Volksdemokratien, die „Tote auf Urlaub“ sind, deren Dossier bereits randvoll ist mit Fehltritten subjektiver oder objektiver Art. Aber ein echter Marxist-Leninist hat für alles das seine wissenschaftlich-determinierencte Erklärung. „Die klassenmäßige Herkunft, die Sünden der Väter, die alte Generation. Daß ein Churchill, ein Kardinal Mindszenthy, ein Dulles unser Feind ist, können wir mathematisch schon vorher errechnen. Wir verstehen auch die Herren Schumacher, Attlee, Sarragat und Köstler. Aber wir können genau so mathematisch berechnen, daß wir früher oder später die Jugend, die in unseren Oststaaten heranwächst, für uns haben werden. Noch zehn, noch zwanzig Jahre, dann sind alle die vorhin Genannten tot und vermodert. Und die Welt sieht anders aus. Wir haben die Jugend, vor allem die proletarische Jugend.“

Dieses sagenhafte Wort „proletarisch“, dem auch im Sinne des Karl Marx in der heutigen sozialen Struktur kaum mehr eine Wirklichkeit entspricht, hat für den Kommunisten der alten und mittleren Generation einen magischen Klang, So, wie man in anderer* Kreisen „There-sianum“, „Stella matutina“ oder „Oxford“ sagt... Und hier, eben hier liegt das X, liegt der kopernikanische Punkt des gesamten geozentrischen Weltsystems der Männer um Hegel, Marx und Lenin.

III.

In den letzten Wochen gingen, in Österreich leider fast überhaupt nicht beachtet, mehrere Male Meldungen durch die Weltpresse. Es wurde in ihnen lakonisch gesagt, daß zahlreiche Oberschüler zu Zuchthausstrafen von barbarischem Ausmaß (fünfzehn bis zwanzig Jahre, eine Strafe, die bei uns kaum ein Raubmörder zu gewärtigen hat) verurteilt wurden, weil sie sich „staatsfeindlich“ betätigt hatten. Solche Fälle wurden neben dem berühmt gewordenen, leider in der Welt fast schon wieder vergessenen katholischen Widerstandskämpfer Flathe aus Olbernhau kurz nacheinander aus Halle, aus Potsdam, aus Werdau in Sachsen gemeldet. Ganze Schulklassen, ja zum Teil in Gemeinschaft mit ihren jungen Lehrern wurden in diesen ostzonenamtlichen Bulletins erwähnt. Und wider alle Gepflogenheit wurde fast immer auf einen Schauprozeß verzichtet. Die Angeklagten schienen dafür nicht dekorativ genug zu sein ...

Was hat man ihnen zur Last gelegt? Für jede europäische Justiz: Dummejungenstreiche. Uberschmieren von Propagandaplakaten, nächtliche Anschriften, Stinkbomben, Pfeifkonzerte, handgedruckte Flugzettel, kurz, Dinge, die anderswo mit Ordnungsstrafen oder mit Schuikarzer geahndet werden. Warum also diese Nervosität? • Fühlt sich der Sowjetblock. von Wladiwostok bis zur Elbe durch einen Gymnasiasten erschüt' tert? Glaubt der naivste Gerichtsschreiber bei diesem »Verfahren“ an das offizielle Urteil «Amerikanische Spionage“? Sind diese jungen Leute heimliche Wer-wölfe, die den nazistischen Umsturz vorbereiten? Diese Fragen sind so dumm, daß man sie kaum beantworten kann. Und dennoch besteht das Faktum. Tausende, abertausende junger, blühender Menschen, die zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt sind und die Hungerlager füllen, aller Voraussicht nach nur als gebrochene Greise aus ihnen hervorgehen werden, sind wegen solcher Delikte inhaftiert und verurteilt worden. Fürstensölme, Bankierssprößlinge, SS-Fahnenjunker aus Oslelbien? Keineswegs. Arbeiter- und Bauernsöhne aus dem sächsischen Industriegebiet, Kleinbürgerkinder aus Eisenach, Görlitz, Plauen und Berlin-Ost! Aber mehr noch als das! Gerade bei denen, die von Natur aus stiller, zurückhaltender sind, wächst die xjroße, entscheidende Frage, die dem alten Marxismus-Leninismus zum Todeskeim wird: Arbeiterkinder— wir könnten aus unserer eigenen Erfahrung Dutzende Einzelfälle nennen —, die von ihrem manuellen Beruf weggeholt und mit allen Privilegien auf die Arbeiter- und Bauernfakultäten geholt wurden, stehen dem ihnen vermittelten Wissen mit einem so echten, man kann es nicht anders sagen: keuschen Gefühl gegenüber, daß sie sich mit keiner bequemen opportunen Zwischenlösung, keinem Augenzwinkern zwischen Theorie und Praxis zufrieden geben. Dem Bourgeoissohn, der zu Hause die rückgratslos-akrobatischen Tänze seiner Eltern miterlebt, der in den Begriffen des „Vorwärtskommens“ und „Dabeiseins“ erzogen wird, macht die wendigere Haltung des Mitläufers viel weniger Schwierigkeiten. Glatt und sicher setzt er die „fortschrittlichen“ Phrasen dort, wo er innerlich nur ein mokantes Lächeln übrig hat. Die zunächst noch als dumpfer Hunger empfundene Frage nach dem Sinn, der hinter all dem ökonomischen Gesetzen und dem „Soll“ steht, läßt sich bei denen nicht abweisen, für welche die Wahrheit, auch die wissenschaftliche Wahrheit, keine staatspolitische Maxime, sondern ein mit jugendfrischer Liebe erfaßter Wert ist. Und mit der nachtwandlerischen Sicherheit der Jugend haben gerade diese Menschen, fern aller spezialwissenschaftlichen Spitzfindigkeit, den wundesten Punkt des totalitären Systems erspäht, so wie einst die Geschwister Scholl dem Naziregime ernstere Gegner waren als intrigierende Generäle und zaudernde Diplomaten. Versteht man die Zeichen der Zeit? In Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern ruft ein Kind das Geheimnis aus, daß der Kaiser ja keine Kleider anhabe, während der gesamte Hofstaat in ängstlichem Schweigen verharrt.

IV.

Natürlich wäre es nicht nur leichtsinnig, sondern verbrecherisch, wollte man die jungen deutschen Menschen zu sinnlos gefährdenden Aktionen aufwiegeln, um sie dann in billigen Zeitungsartikeln als Reklamemartyrer zu feiern. Aber man muß diese noch ganz ungelenkte Opposition der Frage an die Selbstsicherheit des Hegel-Leninschen Staates ernst, sehr ernst nehmen. Es hängt alles davon ab, ob der Westen dieser Frage die richtige Antwort gibt. Nicht die eines bequemen spießerischen Optimismus der satten Selbstzufriedenheit, aber auch nicht die eines snobistisch sich schwarz tragenden Salonpessimismus, sondern jene im Grunde gleiche Antwort auf die immer gleiche Frage jeder wertvollen Jugend: die Frage Karl Moors, die Frage des jungen Puschkin wie des jungen Byron, der Geschwister Scholl wie des Thomas Wolfe, des Garcia Lorca wie des Josef Hermann Flathe aus Olbernhau. Sie kann nicht vordoziert, in einer Parteiformel vorgeplappert werden. Sie kann nur vorgelebt werd esp. Tausende, zehntau-' sende junge Menschen schauen auf uns. Der pergamentene Vorhang des Determinismus, den Hegel, Darwin, Feuerbach und Marx errichtet haben, hat ein Loch bekommen I Die Rechnung der Planökonomen weist ein X auf. Wir haben es in der Hand, diesem X einen Wert zu geben!

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