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Deutscher ohne Deutschland

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DEUTSCHES TAGEBUCH (3. Teil). Von Alfred Kantorowicz. Kindler-Verlag, München. 739 Seiten (samt Personenregister). Preis 19.80 DM.

„Ost und West“ nannte der aus dem amerikanischen Exil heimgekehrte deutsche Linksdemokrat Alfred Kantorowicz, der sich für einen Kommunisten hielt, eine von ihm zusammen mit Maximilian Scheer (einem echteren Marxisten) herausgegebene Monatsschrift. Der zweite Teil seines nach seiner Flucht in die Bundesrepublik erschienenen „Deutschen Tagebuchs“ setzt ungefähr um die Jahreswende 1949/50 ein, da die deutsche Sowjetzone sich den Namen „Deutsche Demokratische Republik“ zulegte und ... die Zeitschrift ihr Erscheinen einstellen mußte. Kantorowicz hatte, wie er selbst schreibt, den Akzent auf das „und“ zwischen den Begriffen Ost und West gelegt. Er bezeichnet die Zeitschrift (S. 9) „als eines der ersten Opfer der mit der Verwesung des Zonengebietes betrauten Parteifunktionäre“. Und in seinem die Einstellung mit den üblichen Ausreden von Arbeitsüberlastung usw. begründenden Schlußartikel schrieb er schon damals, daß „uns das Hinscheiden unseres Sorgenkindes an der Schwelle des verheißenen besseren und volleren Lebens der nahen Zukunft nun, jedenfalls zeitweilig, erschöpft, leer, wie ausgebrannt zurücklasse“.

Damit ist die Ausgangsstimmung dieses Tagebuchs charakterisiert. Der äußere Hergang der Dinge ist nicht schwer zu rekapitulieren. Er ist durch die großen politischen Ereignisse markiert, die dieser durch und durch Politik wahrnehmende, Politik mit allen Nerven miterlebende und doch niemals Politik „machende“ Mann als sein eigenes Schicksal empfindet: die allmähliche Machtergreifung Ulbrichts, die Gleichschaltung der Linksintelligenz auf den Durchschnittstyp des neuen Kleinbürgerregimes, dann die hektischen Tage um den 17. Juni 1953, die verstärkte Reaktion, schließlich der Ungarnaufstand von 1956 und seine Rückwirkungen in der Zone. Vom Frühling 1957 an tritt dann das private Schicksal In den Vordergrund. Kantorowicz erzählt die ihn selbst betreffenden Details hastig, fast widerwillig: die immer deutlicher werdende Einengung des akademischen Lehrbetriebs, in den er sich nach dem Scheitern der Zeitschrift als Professor für neue deutsche Literatur an der Ostberliner Universität zurückzog, die Bespitzelung und offene Anfeindung. Schließlich die überstürzte Flucht und die Asylbitte in der Bundesrepublik. Die Antrittserklärung: „Ich komme nicht etwa zu spät, ich komme zu früh!“ Die kurzen eingestreuten Berichte von einer längeren Studienreise nach China, einer Fahrt nach Prag, einigen Ferienaufenthalten an der Ostsee (die jüdische Familie Kantorowicz stammte aus dem pommerschen Swinemünde), einer Reise nach Polen zu den Vernichtungslagern des NS-Regimes: das alles ist nur schattenhaft sichtbar gemacht, am Rande notiert, ohne Stimmungsreiz, ohne Bildungsfrucht. Dieser Mann hat die hier geschilderten sieben Jahre als ein im doppelten Sinn Gefangener miterlebt. Er war nicht nur in den Zonenstaat hineingestellt, sondern auch in sich selbst gefangen. Ein Deutscher, der selbst vor den Ruinen des Krematoriums von Auschwitz nur einen Herzschlag lang die Frage aufkommen fühlt, „ob er als Jude recht daran getan hat, als Deutscher nach Deutschland zurückzukehren“ (S. 415): Bei der Flucht vor Hitler, bei der Rückkehr nach Berlin, bei seiner neuerlichen Flucht nach dem Westen schleppte er nicht nur dieses Nirgendwodeutschland des humanistischen Geistes an den Schuhsohlen mit, er war und blieb sein Leben lang eingesponnen in jene deutsche Problematik, die nach einem Wort von Tucholsky immer darin bestehen wird, daß in diesem Land „die Linke schreibt und die Rechte handelt“.

Nicht die Ereignisse, die Kantorowicz mitteilt und zu denen er kaum ein neues Detail, das nicht schon dokumentarisch bekannt wäre, hinzuzufügen hat, machen dieses Buch zu einem so erregenden Dokument. Er ist alles andere als ein objektiver Chronist. Er gehört viel eher zur Kategorie der großen, subjektiven Schimpfer, in die Reihe des Sir Samuel Pepys (des ach so Herrlichen), des Leon Bloy und natürlich auch des Heinrich Heine. Wo er haßt, wie zum Beispiel im Falle Hermlin, im Falle Becher, denen er den zynischen Verrat am eigenen Geist noch weit übler nimmt als den Ulbrichts und Konsorten ihre natürlich-bösartige Beschränktheit, tut er dies mit Ausdauer. Er wird in der Wiederholung seiner dem nächtlichen Notizbuch anvertrauten Beschimpfungen weniger müde als der Leser, der dies ja schon spätestens nach den ersten hundert Seiten zur Kenntnis genommen hat. Zuweilen müht er sich auch gar nicht um die Begründung eines Werturteils. Franz Weiskopf etwa wird einmal (sogar im nicht näher erläuterten Plural mit irgendeiner Anverwandten) „Schlie-ferl“ genannt, und damit basta (S. 435). Gelobt wird nur sehr wenig: Ernst Bloch, der Philosoph, der heute zum Exilgenossen wurde, und Rudolf Leonhard, der Pazifist, de bald nach seiner Rückkehr als ein

Enttäuschter starb. Da und dort müht sich Kantorowicz, sein Urteil äuszuwägen, zu differenzieren. Es bleibt scharf und moralistisch-eifernd, aber es anerkennt den Kosmos des anderen: so im Falle Bert Brechts oder Anna Seghers.

Aber auch diese Personenbeschreibungen, diese zwischen zusammengebissenen Zähnen herausgepreßten Beschimpfungen, diese nie gehaltenen Anklagereden machen nicht das eigentliche Wesen des Buches aus. Es ist ebensowenig eine Greuelschrift, ein Anklagedokument, wie wir deren ja schon zahlreiche besitzen.

Das Geheimnis liegt in der Person des Autors selbst. Kantorowicz spricht in diesem Tagebuch nicht nur mit seiner Umwelt im Ulbricht-Staat, verzeichnet nicht nur Gespräche, die er tatsächlich dort geführt hat, er steht zugleich in ununterbrochenem Dialog mit dem Westen, mit den deutschen, jüdischen, amerikanischen Demokraten, die er als seine Gefährten im Exil sah. Ihre Briefe, ihre Nachrichten spielen in seine Gegenwart hinein. Viele Seiten dieses Tagebuchs sind an ihre Adresse gerichtet. Man kann natürlich behaupten, daß Kantorowicz diese Stellen erst jetzt, bei Herausgabe des Buches, hineinretuschiert hat. Liest man sie aber im Zusammenhang, dann merkt man, daß sie so und nicht anders bereits damals niedergeschrieben wurden. Der 17. Juni, der Ungarnaufstand waren Ereignisse, die Kantorowicz als Bürger beider Welten miterlebte. Er war niemals ein „Agent des Westens“, ein kalter Hasser und Verachter des kommunistischen Staatswesens, der als distanzierter Ausländer die Entwicklung beobachtete, sie nur mit den Augen seiner eigenen, der bürgerlichen Welt anzusehen vermochte. Er war aber auch nie ein wirklicher Marxist, der es zustande brachte, die Entwicklung von innen und sich selbst dialektisch als einen Teil dieser Entwicklung zu sehen. Wenn Kantorowicz in seinem Tagebuch irgendein Phänomen der westlichen Welt vermerkt, dann filtert er es ganz unbewußt und instinktiv durch die Kontrollorgane der marxistischen Analyse. Nimmt er aber ein Phänomen der kommunistischen Welt wahr, dann tut er dies mit den Augen des linksbürgerlichen Demokraten. Er hat weder das, was man im Westen die „Immunität“ gegen die Sogwirkung der marxistischen Dialektik nennt, also nicht die geringste Geborgenheit in einem religiösen Glauben oder einem anderen totalen Wertsystem. Aber ihm fehlt zugleich auch das, was Lenin die erforderliche „Parteilichkeit“ des Denkens auch in der Wissenschaft nannte.

Und gerade durch dies alles ist er ein Mann unserer Tage, unserer Generation. Er gehört nicht zu den im Alten Gefestigten, die die Entwicklung Deutschlands seit 1945 vom hohen Richterstuhl einer schon zuvor gefügten Weltauffassung her zu beurteilen vermögen, noch zu den wirklich

Neuen in Ost und West, die Nietzsche die „letzten Menschen“ genannt hat, die nur noch zu „blinzeln“ vermögen. Er ist ein Gehetzter zwischen den Fronten, ein Geschundener zwischen den Zeiten ... in seiner merkwürdigen Synthese zwischen Deutschtum und Judentum Heinrich Heine verwandter als irgendeinem der kommunistischen Literaten oder ihrer von Profession antikommunistischen Widersacher. Eine „hoffnungslos deutsche Natur“, wie Thomas Mann vielleicht sagen würde (und gelegentlich auch von sich selbst sagte).

Denn durch dieses ganze Tagebuch zieht sich die unaufhörliche Frage, ob dies alles, die Ulbricht-Herrschaft, die Brutalität, Dummheit, Gemeinheit, nicht am Ende doch nur ein Durchgangsstadium bedeutet zu einem neuen Zeitalter des „kleinen Mannes“, dessen Konturen mit den utopischen Träumen der Frühsozialisten und ihrer klassenlosen Gesellschaft nichts mehr zu tun haben, vor dem es aber kein Ausweichen in die Fluchtburgen eines letzten Endes doch unverbindlichen Humanismus mehr gibt, dem der Bürgersohn Kantorowicz (nicht nur von der Familie her, sondern auch sonst ganz entfernt verwandt mit dem Hohenstaufenschwärmer gleichen Namens) mit vielen heimlichen Fasern verbunden ist. Kantorowicz prüft nicht nur Ost und West in einem ununterbrochenen Bewußtseinsprozeß, der so intensiv ist, daß ihn kaum ein äußeres Ereignis (und sei es die Reizfülle einer Chinareise) unterbrechen kann. Er stellt auch sich selbst auf den Prüfstand. Er reiht Resultat an Resultat und schreckt davor zurück, einmal zu resümieren. Schon zeichnet sich am Horizont ein nächster, ein dritter Band des

„Deutschen Tagebuchs“ ab, der von seinen ersten Schritten im Westen berichten soll, von der Begegnung mit jener nahezu wesensgleichen Spielart des muffigen Kleinbürgertums, dem man in manchen Amtsstuben, ja sogar in Ländenninisterien bereits wieder begegnen kann, von Ulbrichts stumpfen Befehlsausführern nur durch die gegenwärtige oder frühere Bartform unterschieden.

Man hat Kantorowicz im Westen zwei Vorwürfe gemacht: den einen, daß er sich nicht eindeutig und ideologisch klar vom Kommunismus distanzierte, den anderen, daß er während des Jahrzehnts im Reich Ulbrichts nicht nur geschwiegen, sondern auch recht eifrig „mitgemacht“ hat. Liest man das Tagebuch, so hat man auf beides eine Antwort: Kantorowicz wird sich nie im Sinne einer antikommunistischen Konversion vom Kommunismus distanzieren, weil er auch jetzt noch der Überzeugung ist, daß der Kommunismus in jene geistige Entwicklungsreihe von der Aufklärung bis zu Lukacs und Bloch hineingehört, die von der heute durch Ulbricht verkörperten Wirklichkeit sternenweit entfernt ist und daher auch nicht für das dort entfesselte Kleinbürgertum samt dem Staatsidol des Turnvaters Jahn verantwortlich gemacht werden kann. (Red' ihm das einer aus!) Zum zweiten Vorwurf aber schreibt er selbst (S. 35):

„Dennoch war der Schaden, den solche Judasse (Spitzel in seinem Seminar. Anmerkung d. V.) anrichten konnten, gering, weil gerade mein beständiges öffentliches Raunzen, meine Sarkasmen, mein gelegentliches Poltern und Dreinschlagen mich im Mißverstand der ahnungslosen kleinen Dummköpfe konspirativer Tätigkeit unverdächtig machten...“

Wer. wie der Schreiber dieser Zeilen, einscV^gige Erfahrungen mit gleich zwei Terrorregimes besitzt, wird diese Feststellung gern bestätigen.

Friedrich Abendroth

Philosophie und Zeit

GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND WELTBÜRGERKRIEG. Von Hanno Kesting. Univcrsitätsverlag Carl Winter, Heidelberg. 328 Seiten. Preis 16.50 DM.

Das Buch geht vom Ost-West-Konflikt aus, den es ungewöhnlich sichtet: „Von Freiheit in einem substantiellen Sinne kann im Osten kaum, im Westen kaum noch die Rede sein. Die offen terroristisch erzwungene Konsummaske des Ostens vernichtet die Freiheit ebenso wie der versteckt durchgesetzte Konsumzwang des Westens“ (S. 302 f.). So ist die Geschichte, wie Hegel sie verstand, in ihr Ende gekommen: „es ist alles genommen, verarbeitend angeeignet und verteilt“ (S. 318). Von hier aus enthüllt sich die Idee des Fortschritts der Menschheit, wie Herder ihr Klassiker ist und Toynbee ihr Nachfahr, vielmehr als „Säkularisierung der jüdisch-christlichen Lehre von den Letzten Dingen, der Eschatologie. Das Ziel, auf das sich die fortschreitende Geschichte zubewegt, wird gewonnen aus der Verweltlichung des jenseitigen und außergeschichtlichen .eschaton' . . . Daher ist auch die

als Fortschritt verstandene Geschichte eine .Heilsgeschichte', wenngleich die eines diesseitigen und innerweltlichen Heils“ (S. 3/4). Es entsteht damit ein „allgemeiner Utopismus ... Die als Fortschritt begriff-fene Geschichte mündet aus ihrer eigenen Logik in die Utopie, wie anderseits die Utopie, sobald man ihre Realisierbarkeit glaubt, den Fortschritt notwendig voraussetzt. Fortschritt und Utopie gehören unabdingbar zueinander“ (S. 9). Die heutige Situation ist von hier aus: „der Fortschritt als Fortschritt zur Katastrophe ist eigentlich kein Fortschritt mehr. Die Utopie verliert an Evidenz“. Damit mündet die Geschichtssicht Kestings in die „katastrophische Geschichte“, wie sie Donoso Corres in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, gegen allen Fortschrittsglauben seiner Zeit, prophetisch entwarf.

*

ANALYSEN UND PROBLEME. Schriften aus dem Nachlaß. Von Richard H ö-n i g s w a 1 d. Herausgegeben von Gerd Wolandt. Band II. W.-Kohlhammer-Verlag, Stuttgart. 269 Seiten. Preis 21 DM.

Während der erste Nachlaßband Hönigs-walds eine Art Theologie (der Schöpfung) darstellt (vgl. Emdes 1/1960), zeigt der zweite Band das besondere Gesicht der Philosophie des Breslauer Philosophen. Er macht deutlich, wie es ihm nicht so sehr um formale Erkenntnistheorie ging, sondern darüber hinaus um eine Art „Pro-blematologie“ der Philosophie überhaupt, in der Geschichte der Philosophie und Struktur ihrer Probleme sich verbinden:

es „ist die Systematik der Philosophie selbst im Gewände zeitgeschichtlicher Ordnung“ (S. 77). Und „darum auch erscheint die Einheit der Sache durch die Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Aspekte, unter denen sie sich darbietet, nirgends gefährdet, ebensowenig wie die Gegebenheit dieser geschichtlichen Formen durch den Blick auf die Sache“ (ebenda). Eine solche übergeschichtliche Philosophie in eins mit ihren innergeschichtlichen Formen steht in Verwandtschaft mit der Art, wie Nikolai Hartmann die Hegeische geschichtliche Systematik aufzulockern suchte. Aber während für Hartmann Hegel der Ausgangspunkt ist, sucht Hönigswald seine Konzeption an der Entwicklung der mittelalterlichen Philosophie zu exemplifizieren. Der späte Hönigswald greift damit auf den klassischen Kontakt des Abendlandes mit arabischer und jüdischer Philosophie zurück (wie für Thomas von Aquin Maimonides, Avicenna usw. die „magistri“ seines Aristotelismus waren). So steht dieser zweite Nachlaßband in innerem Kontakt zum ersten, da der letzte Kantianer in Hönigswald durch Kant hindurch die klassische Tradition neu sichtet.

Erich Przywara

Stunde des Theaters

VERSUCH ÜBER DAS TRAGISCHE.

Von Peter Szondi. Insel-Verlag, Frankfurt a. M.. 1961. 118 Seiten. Kartonier . Preis 8.80 DM.

„Seit Aristoteles gibt es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen.“ Mit diesen Worten leitet der Verfasser seine geistvolle, in hohem Stil verfaßte Untersuchung ein. Es kommen von Schelling bis Scheler die Philosophen (im ganzen zwölf) zu Wort; Szondi gibt dazu die Erklärung. In einem zweiten Teil werden acht Dramen analysiert, an denen die These des Verfassers ausprobiert werden soll, nicht zwar so, daß die These vorausgesetzt und nun im Drama gesucht wird; eine härtere Probe besteht: ob die analysierten Dramen besser, tiefer verständlich werden, wenn man das Tragische dialektisch auffaßt. Dies scheint gelungen zu sein. *

SHAKESPEARE ALS PROVOKATION.

Von Hans Rothe. Verlag Langen-Mül-ler, München. 502 Seiten. Preis 24.80 DM.

Für Nicht-Engländer ist es nicht ganz verständlich, warum man „Shakespeare“ nicht in Ruhe läßt — buchstäblich: man nimmt ihm seine Anonymität, rätselt an seiner Person, an seinem Leben, an seinem Dramenschreiben fürs Theater, an seiner Theaterführung herum. Warum provoziert er die Theaterleute, die Anglisten und nicht zuletzt die vielen Übersetzer? „Shakespeare“ scheint nur gute Freunde oder gute Feinde zu haben — und diese sind untereinander unversöhnlich. Diese Fragen werden in Rothes Buch deutlich, aber er sucht sie auch zu beantworten. Der erste Teil des Werkes ist eine „Biographie“ des Unbekannten, „Gentie Shakespeare“. In „Shakespeares offene Form“ untersucht Rothe die Texttraditionen auf den eigentlichen und gemeinten Gehalt hin. In einem dritten Teil behandelt Rothe die Übersetzungsarbeit und den Streit, der um seine eigene entstanden ist. Es ist hiermit wieder einmal für eine (hoffentlich lange) Zeit das zusammengetragen und ausgefochten, was bis jetzt zu sagen ist. Theaterleute und Publikum sollten dieses Werk studieren, um zu spüren, wie absichtslos Shakespeare Theater spielte und Theaterstücke schrieb.

JUNGES DEUTSCHES THEATER VON HEUTE. Von Kipphard, Hirche, Asmodi, Dorst, Hey, Ahlsen. Herausgegeben von Joachim Schondorff. Mit einem Vorwort von Joachim Kaiser. Verlag Lan-gen-Müller, München. 424 Seiten. .80 DM.

Hier ist eine Kostprobe von sechs Theaterstücken, deren Autoren zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sind: „Junges deutsches Theater von heute“. Diese sechs Dramatiker sind nicht die unbekanntesten — alle wurden mit literarischen Auszeichnungen bedacht und haben mehrere Bühnen- beziehungsweise Hörspielwerke geschrieben. Soll man sie vergleichen mit den „Klassikern“? Mit den arrivierten ausländischen Autoren? Joachim Kaiser hat in einem geistvollen Vorwort die Schwierigkeit des modernen Dramas dargestellt: unsere matriarchalische Zeit hat die anonymen Helden des Teamworks, die sich nicht zu Trägern von Einzelentscheidungen eignen: unsere moderne Sprache löst in den verschiedenen Generationen die verschiedensten Assoziationen hervor, so daß Wort, Begriff und Vorstellung nicht mehr gemeinsam funktionieren und verstanden werden; die Stoffe zu Dramen sind kaum auffindbar, da unsere Umwelt mehr mit uns umgeht als wir mit ihr, so daß wir nicht mehr daran glauben, mit unseren — moralischen oder politischen — Entscheidungen die Welt beeinflussen zu können. Gibt es also im Grunde nur das Epos, den Roman, aber keine eigentliche unserer Welt und dem Gesetz des Theaters entsprechende Dramatik? Zu dieser Situation, zu diesen dringlichen Fragen sollen die sechs jungen Autoren durch ihre Werke eine Antwort anbieten.

*

THEATER. Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen, Intendanten, Dramatiker, Kritiker, Publikum. Von Wolfgang D r e w s. Verlag Desch, Wien, 1961. 400 Seiten, 125 Illustrationen und 91 Abbildungen. Preis 21.50 DM.

„Ist alle vorbei, fängt alles an“ — diese Theatervorstellung ist vorbei, nun fängt seine geheime Wirkweise an: bei Schauspielern, Publikum und allem Drum und Dran, vor allem die Möglichkeit, dieses schöne Buch zu schreiben. Mit Liebe, Sachkenntnis, Sachlichkeit und Begeisterung; in einem Stil zwischen Reportage und Roman schrieb der Theaterkritiker Wolfgang Drews dieses Buch. Es hat eine glänzende, schillernde, interessante, bildreiche Aufmachung. Es ist ein Handbuch des Theaters: gibt Rechenschaft über die Bedingungen des Theaters, über Handwerk and Handwerker, über Künstler und Komödianten, über Vergangenheit und Gegenwart, über das Publikum, über Dramaturgie und über den Kritiker. Wer die Fheaterleidenschaft noch nicht hat, kann ;ie hier lernen; wer sie nicht versteht, <ann sie hier verstehen lernen: wer sie lat, dem wird zum Bewußtsein gebracht, varum „der begabte Zuschauer Lampen-Seber hat wie der begabte Schauspieler“.

Diego Harns Goetz OP

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