6542071-1946_46_05.jpg
Digital In Arbeit

Geistiges Antlitz des Abendlandes

Werbung
Werbung
Werbung

Der abendländische Mensch hat sein Antlitz entschlossen von Gott abgewandt. Seine Augen schauen gebannt in die Welt, seine Hände umklammern inbrünstig die Erde. Das Unsichtbare hat er preisgegeben, um sich dem Sichtbaren ganz und ungeteilt widmen zu können. Das ist die Signatur der Gegenwart. Das weltanschauliche Vorzeichen der Klammer ist eindeutig festgelegt, wenn auch Auswahl und Anordnung der als verbindlich anerkannten Lebenswerte innerhalb der K'ammer von Fall zu Fall wechseln. Norm und Ideal des Daseins ist außerhalb der christlichen Kirchen weithin nur mehr die Deutung und Gestaltung der Welt, die Meisterung des irdischen Lebens. Und innerhalb der Kirchen hat ein Teil der Christen diese moderne Weltftömmigkeit praktisch übernommen, im Widerspruch mit der christlichen Wahrheit, daß der Mensch, zwischen Welt und Gott gestellt, unterwegs ist vom Diesseits zum Jenseits.

Paul Bolkovac: .Ende oder Wende“ in „Stimmen der Zeit*, Heit 1/1946

Wir stehen heute vor der Frage, ob es überhaupt noch so etwas gibt wie ein Abendland oder ob es nur verspätete Reminiszenzen, vielleicht nur Wunschträume sind, die sich unser bemächtigt haben und die wir gewähren lassen, weil sie uns gefallen. Wenn aber noch so etwas existiert wie das Abendland, dann darf es nicht nur eine Tatsache bleiben, die verstümmelt oder krumm gebeugt dahinsiecht, sondern muß auch eine lebendige und kraftvolle geistige Realität sein. Der Ruf und die Frage nach dem Geist bedarf einer Antwort Eine solche kommt auch zurück; wir finden sie in der Pariser Zeitschrift: „La NE F“ (Nouvelle Equipe Francaise, Editions Albin Michel).

Wenn uns der Anfang mit einem Aufsatz über Sprache, die Kunst der Rede, ebenso über den wahren Sinn aller Rede überrascht, so kommt uns erst bei einem allmählichen Eingehen und Weiterdenken das volle Verständnis, was es eigentlich heißt, für uns und vor allem für den Dichter und wirklichen Schriftsteller das Wesen von Geschehen und Persönlichkeiten sinngemäß und der lebendigen Wahrheit entsprechend darzustellen. Was bedeuten heute schon Worte, das Reden? Wie viel verbergen sie und was sagen sie nicht, weil sie es gar nicht vermögen. Die Wahrheit der Rede, könnte man sagen, wird hier wieder in Erinnerung gebracht, zur Diskussion gestellt, wohl nicht um einer bewußten Lüge zu steuern sondern um das Wesen so wiederzugeben, wie es der Erscheinung gemäß ist. Wo es wieder darum geht, den wirklichen Gegner in der Tat zu widerlegen, darf er nicht bloß durch Lächerlichmachen abgetan werden. Eigentlich ein großer und wichtiger Punkt zum Überlegen — aber auch zum Beginnen.

Daß das Abendland nicht nur viel Blut, sondern auch an Geist verloren hat mit den Strömen des unschuldigen Blutes, das zeigt das Schicksal der Schriftstellerin Irene Nemirovsky. Aus der Ukraine stammend, haben alle ihre Romane und Gestalten von dort her ihre Ursprünglichkeit und spiegeln ihr Lebensschicksal wieder; symbolhaft, wie Tatsache und Sinnhaftigkeit oft merkwürdig zusammenklingen, der Osten brachte ihr mit ihrer Deportation im Jahre 1942 auch den Tod. Sie ist dort irgendwo verschwunden. Nur Schicksal — odei doch auch Sinn?

Pierre Minet legt ein Bekenntnis ab oder genauer gesagt: „L a N E F“ bringt das Vorwort einns von ihm erscheinenden Buches. Es ist eigentlich eine Novelle oder dart man dies nicht so nennen, weil es ein Stück tatsächlicher oder umkleideter Wahrheit zugleich darstellt' Die Grenzen verschwimmen, aber die Wahrheit ist doch da und es bleibt der in seinem Elend allein gelassene Freund, der auch so stirbt. Aber er bleibt gerade deshalb der Freund. Nun, da er weggegangen ist und der andere ihn sucht, sich an seinem Atem stärken möchte und an seinem Wort, er ist bei ihm und macht ihn doch wieder stark durch sein Andenken.

Was Freundschaft bedeutet, das offenbaren bisher unveröffentlichte Briefe des Schriftstellers Duranty und nach seinem plötzlichen Tod die seiner Gattin an Zola. Sie mögen heute literarischen Wert haben und neue Details bieten; aber brauchen wir nicht Entscheidenderes al- Wissen, nicht vielmehr das verstehende Herz? Das macht ja nicht nur das Leben so wertvoll, sondern erst auch menschlich lebenswert. Zuerst müssen wir wieder Menschen werden und sein, um wieder Brücken zu schlagen von Herz zu Herz, wieder lernen, herzlich zu sein und uns menschlich zu vesuhen. Denn die großen Sorgen sind ja nicht erst von heute oder von gestern und berühren nicht nur das Verhältnis von Mensch zu Mensch sondern darüber hinaus das von Volk zu Volk.

Darum ist das Friedensprobem nicht erst eine Angelegenheit von unseren Tagen, sondern hat schon im 19. Jahrhundert Geister beschäftigt, wie Saint-Simon oder P r o u d-h o n. Ersterer träumte in seiner Ideenwelt schon 1814 von einem europäischen Parlament, das von einer französisch-englischen Zusammenarbeit her seinen Ausgang nehmen sollte. Heute werden ja wieder solche Gedanken ausgesprochen. Ob sie der Verwirklichung schon näher sind als vor mehr als hundert Jahren? Jedenfalls wäre eine annähernde Verwirklichung um genug teures Blut schon erkauft worden Proudhon beschäftigte sich mit dieser Frage in seiner Schrift „Krieg und Frieden“. Er ist mit seinem Schriftturn wieder geistig aktuell geworden. Henry de Lubac hat ihm ein Buch gewidmet: „Proudhon et le Christianism e“. Wir wollen in diesem Zusammenhang noch auf ihn zurückkommen.

„La NEF“ fährt in das Morgen, in die Zukunft. Was trägt das Schiff? In hoher und ernster Verantwortung werden die aktuellen innenpolitischen und außenpolitischen Fragen erörtert. Man zögert, diese geläufige Einteilung zu machen, wenn auch die Schriftleitung sie getroffen hat. Was nämlich Georges Izard über die Revolution der Löhne schreibt, ist nicht mehr eine Angelegenheit Frankreichs allein oder dieses oder jenen Landes, sondern trifft alle anderen auch. Irgendwie geht natürlich die Problematik von einem bestimmten Punkt aus, der vereinzelt erscheint, es aber nicht wirklich ist. Die Vorgänge, unter welchen heute diese Fragen behandelt werden, bezeichnet Izard als eine Art „sozialisierten Kapitalismus“. Er meint, die Nachteile des zwitterhaften Systems sind ebenso evident wie der Fortschritt, den es mit sich bringt. . Besonders ärgerlich ist es, die Regierung, die Politik und am Ende noch die Parteien Probleme entscheiden zu sehen, bei denen die Rückwirkung auf die Wirtschaft entscheidend ist. Wenn die Reform ein Anrecht hat, die Querschläge der Revolution zu vermeiden, so hat sie die Schwäche, unechte Übergänge hervorzurufen. Wenn dies der Autor sagt, müßte man ihn zitieren. Was da gesagt wird, ist schon Staatssozialismus, der auf der Flucht vor angerichtetem Unheil ist! Der Mut besteht darin, in ein gangbares System zu bringen, was heute nichts anderes ist als Improvisation der Tatsache. Da doch der Staat der oberste Herr der Löhne wird, so muß er die Organisation herstellen, um diese zweifelhafte Aufgabe besser auf die Interessen der Allgemeinheit abstimmen zu können. Er muß sich selbst eine Grundlage, schaffen, die diese Fragen der bloßen Politik entkleidet, wo diese nur mehr Schlechtes bringt als Gutes. Es steht nicht den Parteien zu, die Höhe der Löhne zu regeln. Aber es kommt dem Staate zu, die ständigen Regeln der Erhöhung zu präzisieren. Ausgestattet mit allen zur Verfügung stehenden Statistiken, kann er die ungefähre jährliche Höhe des Allgemeineinkommens der französischen Wirtschaft feststellen. Dann ist es möglich, an einer Stelle zu warten, bis die Erhöhung im Hinblick auf die Ergebnisse einer Periode bemessen werden kann und anstatt daß die Löhne mit einem ernstlichen Rückstand im Hinblick auf die Vermehrung des Gewinnes nur ansteigen, besteht es zu Recht, die entsprechenden Lohnerhöhungen gleich anzuwenden. Die Revolution besteht nicht darin, die alte Lebensordnung zu verhindern, sondern sie hat Regeln festzulegen, welche die neue Ordnung lebensfähig machen.

Zu den internationalen Fragen, wie sie gerade in Paris vor aller Öffentlichkeit behandelt werden, lesen wir kluge Bemerkungen und Hinweise. „Das Schauspiel, das s:ch ein Jahr nach dem Siege durch die Diplomatie darbietet, ist entmutigend“, schreibt Bertrand de la Salle. Von Frankreich ausgehend, zeichnet er die drei Ideologien, welche in der öffentlichen Meinung aufscheinen: den Kollektivismus, die soziale Demokratie und das soziale Christentum, und irgendwie entsprechen nach seiner Meinung diese drei Richtungen der großen Weltkonzeption. Es sei aber nicht vergessen, an die Doktrinen zu denken, welche den Islam, die Inder und das China von morgen erwachen lassen können. Während die Einigkeit der Welt als Notwendigkeit erkannt wird, gibt eine vollständige geistige Auflösung die Antwort. „Die Internationalen legen sich fest auf die Polemik gleich jenen Kirchen und jenen Sekten, die man im ausgehenden Altertum entstehen sieht und die erschienen sind in der Versuchung des heiligen Antonius.“ Er fragt weiter: Ein dritter Krieg? Dieser erscheint ihm in weiter Ferne, aber er wird vom Autor so charakterisiert: Der erste Weltkrieg hat die Armeen in Erscheinung treten lassen, der zweite Armeen und fünfte Kolonnen; vielleicht wird der dritte nichts anderes bringen als fünfte Kolonnen.

Dieses Heft von „La NEF“ stellt viele Fragen zur Debatte. Vorliegendes soll uns diesmal genügen, einen Blick zu tun in das Antlitz des Abendlandes in dem sich die Qual vieler Zweifel abzeichnet.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung