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Wohin steuert die Menschheit?

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Wohin führt die Entwicklung des Nachkrieges, fragen sich heute die Menschen in tiefer Beklemmung. „Wir haben den Krieg gewonnen, aber wir laufen Gefahr, den Frieden zu verlieren“, warnte jüngst einer der Teilnehmer die Friedenskonferenz in Paris. Hybris hat zwei große, mächtige Reiche zerschmettert, dem politischen Antlitz der Erde neue Züge gegeben, aber mit Sorge sehen die Großen und die darbenden Kleinen, wie die Gegensätze sich versteifen und schon wieder neue Konflikte heraufziehen.

Orbis, quo vadis? Eine ganze Literatur beschäftigt sich in der zivilisierten Welt schon mit dieser Frage. Jenseits des Ozeans herrscht die Hoffnung vor, daß das technische Zeitalter, das in diesem dreißigjährigen Kriege — so nannte der frühere amerikanische Handelsminister Henry A. W a 11 a c c die Jahre von 1914 bis Kriegsende — sein Gleidigewicht gesucht habe, nun von seiner destruktiven in die konstruktive Periode gelangt sei, daß es trotz der unleugbaren, gewaltigen Schwierigkeiten, die sich auftürmen, erst am Anfang und nicht am Ende stehe.

Die „atlantische Zivilisation“

Wohin gehen wir jetzt, fragt mit kühler Stirne der Engländer Bertrand Rüssel und gibt zu bedenken, daß vom 7. Jahrhundert bis 1453 die großen Zentren der Zivilisation asiatisch oder asiatischen Ursprungs waren, dann aber sich die entgegengesetzte Entwicklung Bahn gebrochen habe: die westliche Hemisphäre gelangte unter den Einfluß der atlantischen Mächte Spanien, Portugal, Frankreich und England, und die Zivilisation der beiden Amerika sei nur eine Verlängerung der Westeuropas geworden („Listener“, London, Juli 1945). Diese atlantischen Mächte beherrschten Ind'en und China, sie waren die Quelle nicht nur der Meisterwerke der Literatur und der Renaissancekunst, sondern auch des wissenschaftlichen Fortschrittes. Heute, meint Rüssel, ist der Ferne Osten im Begriffe, sein Gleichgewicht und einen gleichberechtigten Platz neben dem Okzident zu finden, und die Erneuerung der Welt durch die Schnelligkeit der Technik unterstützt diese Entwicklung.

Ähnlidi urteilt der Amerikaner Walter Lippmann in „US War Aims“ und folgert: Jenseits der atlantischen Gemeinschaft tritt heute eine Welt als Erbe Byzanzs auf und jenseits davon regen sich die Gemeinschaften der Hindu, der Moslem und die Chinas. Angesichts dieser vier Zivilisationen, die sich unseren Planeten teilen wollen, empfiehlt W. Lippmann in seiner audi militärisch bedeutsamen Studie, man solle nicht von den 60 oder mehr Völkern ausgehen, welche die Welt besiedeln, sondern die neue Weltordnung, die im Entstehen ist, auf die großen Staatsgemeinschaften begründen, welche die verschiedenen historischen Zivilisationen der Welt darstellen. Denn heute verlieren Grenzen ihre Bedeutung, lösen die sozialen Gegensätze sich langsam auf, normalisieren sich ebenso die Beziehungen zwischen Produktion und Verwertung Wir blicken in ein goldenes Zeitalter hinein, beherrscht von Technik und Freundschaft.

Auch in Frankreich haben solche Hoffnungen tief Wurzel geschlagen, besonders in der Jugend. Der geistreiche Denker Andre Malraux weist dabei den USA die Aufgabe zu, in dieser neuen Weltorganisation die Führung und die Verbindung zu übernehmen, während Jacques Flor an für Frankreich die Rolle des intellektuellen Teilhabers beansprucht („Renaissance“, Februar 1946).

Aber Literatur und Kunst brauchen den Frieden, führt Marcel Thibaut aus („Revue de Paris“, Juni 1946), denn nur in Friedenszeiten, sagt er, mit ihrer stabilen und glücklichen Gesellschaft scheiden sich die menschlichen Typen am meisten. Die großen kollektiven Erhebungen, wie Kriegs- oder Revolutionszeiten, schaffen Hierarchien des Mutes oder des Grimmes, aber da sie für alle die gleichen Probleme stellen, geben sie dem menschlichen Leben eine Art Monotonie. Erst wenn die Ära des Heroismus und der Räubereien abgeschlossen ist, strebt im Gegensatz alles zur Differenzierung: es bilden sich Gruppen, die Muße begünstigt Luxus, unter dessen Schutz die Individualitäten sich zeigen können, die Originale sich vervielfältigen, die Phantasie sich zum Geschmack an der Freude gesellt; der Stolz erhebt sich über die rein konventionellen Kräfte und trägt die schönsten Blüten, der Snobismus entwickelt sich und fördert sogar die schönen Künste; das ist das Paradies der Psychologen. Ist das Gesetz oder Zufall? Es gibt Balzacs des Friedens, aber keine des Krieges.

Freilich sind die Wege zu diesen Idealen noch im Dunkel. Schon voi dem Kriege kam es den Philosophen zum Bewußtsein, daß der Menschheit noch eine düstere Entwicklung bevorstehe. Dieses finstere Tor zum Glück nennt der Russe Nikolaus B e r-d a i e f f mit dem Begriff „Ein neues M i 11 e 1 a 11 e r“, der heute vielfadi wieder aufgegriffen wird: die Französisdie Revolution — so geht diese Gedankenreihe — wurde in ihrer Bedeutung weit überschätzt; sie war vom intellektuellen Standpunkt aus von größter Wichtigkeit, praktisch aber ohne unmittelbares Ergebnis, und die neuen Energien der Gegenwart habm mit jener Zeit nichts mehr gemeinsam. Nach der Ära der Imperialismen folgt eine lange Nacht, in der die Zeit der Technik sich vorbereitet, ein neues Mittelalter mit schweren Krisen, in denen das Abenteuer im guten Sinne das Klima der Zeit bestimmen wird. Haben wir nun dieses Abenteuer schon überstanden?

Fast im gleichen Sinne hat damals der französische Künsclerarchitek L e Corbu-s i e r geschrieben, der heute zum Optimisten geworden ist. Er nennt unsere Zivilisation die Zivilisationder Arbeit, sie habe es aber nötig, Ideale zu pflegen, vor allem die Natur einzuschalten, um nicht zur Sklaverei zu werden. Das Verschwinden der Entfernungen im Zeitalter der Raketenflüge habe Frankreich zum Nachbarn Amerikas gemacht, Europa zu seinem Hinterlande. Quer durch Europa werde sich eine Industriezone entwickeln bis zum Ural, von der Nord- und Südverbindungen nach Saloniki und Hamburg, Wien und Odessa, nach Königsberg, von Triest nach Amsterdam, von Rotterdam nach Marseille laufen werden („Paru“, Juli 1945). Frankreich werde die Tradition der Mittelmeerkultur retten und in der christlichen Welt werde dann die atlantische Zivilisation auferstehen.

Einer der erfolgreichsten Philosophen Amerikas, der Wahlamerikaner George Santanyana — der übrigens nach 1919 längere Zeit in den Dolomiten gelebt und dort als „Humanist ohne Illusionen“ seine Gedanken hoch wie die Tiroler Berge aufgebaut hat — definiert die neue Zivilisation ah Zivilisation des Geistes, als Herrschaft des Geistes über die Materie, eine Zeit der Kunst, der Religion und der Betrachtung, die die Materie von ihrer totalen Nutzlosigkeit befreien und der Welt durch das Ideal Sinn und Wert verleihen werde; sie werde, ohne materiell auf die Dinge einzuwirken, diese auf die Ebene des Geistes erheben.

Das hundertjährige Duell Ost —West

Keineswegs zu so verheißungsvollen Folgerungen kommt ein historisches Werk, das eben in Paris viel erörtert wird, „L e B i 1 a n de l'H i s t o i r e“ von Rene“ Grousset, das in weitgeschwungenem Bogen das Problem der Menschheit seit ihrer Erschaffung umfaßt und das der Professor am Katholischen Institut von Paris J. L e f-1 o n in der „C r o i x“ ein berückendes Buch nennt. Rene Grousset weist nach, wie unbeständig und relativ die Erfolge des Fortschrittstrebens der Generationen von Menschen waren, wie hinfällig die Opfer der ephemeren Zivilisationen der Geschichte sich erwiesen. Der Fortschritt, sagt er, kostete meist sehr schmerzliche Rückschläge“ auf anderen Gebieten. Während eine Zivilisation sich verbreiterte, verlor sie an Tiefe und damit einen Teil dessen, was sie an Ausdehnung gewann. Die Sterblichkeit der Zivili- ' sationen drückte Paul V a 1 e r y in dem Ausrufe aus: „Ninive und Babylon waren schöne Namen, Frankreich, England und Rußland werden einmal auch schöne Namen sein!“

Die vielfältigen Strömungen und Gegensätze, auf die der Fortschritt in der Geschichte stieß„ werden, wie Rene1 Grousset schildert, kompliziert durch das hundertjährige Duell Ost — West, das in der Geschichte der Griedien mit Salamis erscheint, sich im Römischen Reiche erneuert, sich im 4. Jarhundert in den religiösen Konflikten zwischen Rom und Byzanz verschärft. Die Araberinvasion ruft die Gegenattacke der Kreuzzüge hervor, die dem Okzident Zeit geben, seine Zivilisation aufzubauen und die Erbschaft der Hellenen zu übernehmen. In diesem Ringen ergibt sich nun als ein Schlußpunkt der „Selbstmord Japans“, der wieder nur eine Etappe ist, weil Hochasien, das Land der Antizyklone, in Bewegung bleibt. Die Art physischen Gesetzes, das diese Invasionen von Nord nach Süd, von West nach Ost beherrscht, scheint auch für Europa zu galten: Deutschland steigt nach Italien nieder, wendet sich gegen Frankreich, immer auf denselben Bahnen trotz aller übler Lehren, wie von Faszination besessen. Der „haluzinierte Grübler von Berchtesgaden“, sagt Grousset, hat dieses Gesetz der deutschen Geschichte vergessen, das Bismarck erkannt und immer gefürchtet hatte, daß nämlich jeder Überfall auf lateinischen Besitz immer wieder damit endete, dem Slawismus eine Hälfte deutschen Bodens auszuliefern, und ebenso, daß alle Invasionen nach Westen und nach Süden mißlangen und nur Gegenangriffe nach provisorischen Rückzügen des Gegners blieben: so gegenüber den römischen Legionen im Teutoburgerwalde, so die Kreuzfahrer in Kleinasien, Napoleon in Rußland und nach ihm die „unbesiegliche Wehrmacht“ des „unbesiegbaren genialen Führers“.

So haben die beiden Welten einander ihre Kultur nur in blutigen Kämpfen auf den Schlachtfeldern vermittelt, Trotz all dieser tragischen Wahrheiten, trotz all der Tränen und des Blutes im Drama der menschlichen Evolution wird Rene Grousset kein Pessimist. Angesichts des Kreuzweges der heutigen Welt drängt sich gewiß die Frage auf, ob am Ende dieser Agonie wirklich das Grab der Menschheit warte, ob der letzte Mensch am letzten Abende der Menschheit nicht den tragischesten Ruf ausstoßen müsse, der je in den Jahrhunderten erklang: Eli, Eli,. lamma sabakthani! Wir wissen, schließt Rene Grousset seine erschütternde Betrachtung, aus der Erlösungsgeschichte, daß es nun außer der christlichen keine andere Lösung mehr gibt für Herz wie für Verstand: das Christentum allein vertritt heute gegenüber dem so monströsen Nichts die Erhebung des Herzens und des Verstandes, die Verteidigung des Geistes. Inmitten des Schiffbruches aller Hoffnungen ist seine Mission die Rettung der Menschheit.

Man hat in England zu Beginn der Pariser Friedenskonferenz Betstunden angeordnet. Aus England kommen Stimmen, die bedauern, daß auf dieser Konferenz keine kirchlichen Vertreter anwesend sind; dies sei bei allen Friedensverträgen bisher so gewesen, zum Beispiel in Versailles, und deshalb hätten sie keine Dauer gehabt. Die geistigen Kräfte des Friecens seien bei diesen Verhandlungen fast ganz ausgeschaltet worden, maßgeblich seien nur politische Gesichtspunkte, die ihrem Wesen nach nicht stabil seien. Die Forderung, daß kirchliche Berater als Beobachter bei den Friedensverhandlungen zugelassen würden, entspringt dem sich immer mehr verbreiternden Gefühle der Angst und Sorge um die schwer bedrohte Zukunft der Menschheit, der Sehnsucht nach einem festen Anker im wirbelnden Strome, der Hoffnung, daß dadurch unsere Zivilisation aus dem Dilemma gerettet werde, das eben aufgestellt wurde: Verständigung oder Atomrüstung!

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