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Christentum im Vorrücken

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Gegenwärtig steht in England ein geschichtliches Gelehrtenwerk im Vordergrund der Debatten um die motorischen geistigen Kräfte der Gegenwart, das in weiter Um-schau die Geschichte der Ausbreitung des Christentums erfaßt und in seinem kürzlich erschienenen Schlußbarid bis in die aktuellste Gegenwart hereinreicht. In dem 7. Band seiner „History of the Expansion of Christendom“ behandelt der Verfasser K. S. L a t o u r e 11 e die Periode 1914 bis 1945. Einen Blick in dieses monumentale Geschichtswerk, das in Österreich noch nicht zugänglich ist, laßt eine Besprechung tun, die im Londoner „Specta-tor“ der Kanoniker Roger Lloyd veröffentlicht, dessen aufschlußreichen Ausführungen wir im Nächstehenden folgen. Es ist ein Theologe der Anglikanischen Kirche, der diesen Kommentar zu den Untersuchungen des Historikers schreibt. Doch auch aus seinen Formulierungen klingt die objektive Feststellung hervor, welchen Anteil an der Stärkung der Bewegung hin zum Christentum gerade die Haltung der katholischen Weltkirche innerhalb der umwälzenden Ereignisse der Gegenwart genommen hat.

Wenigen von uns würde es einfallen, zu sagen, führt der Verfasser an, daß die Zeit 1914 bis 1945 eines der größten Zeitalter des christlichen Glaubens darstellt. Die Legende von dem 20. Jahrhundert, das eine Ära des dahinschwindenden Christentums sei, wurde so oft aufgetischt, daß man schon dazugekommen ist, sie so sehr als feststehende Tatsache zu betrachten, daß nur wenige darüber streiten können. Diese Legende aber ist j e t z t angegriffen, untersucht und zerschmettert worden durch die Fertigstellung einer der ganz großen Leistungen des menschlichen Geistes in unserer Zeit, des monumentalen siebenbändigen Werkes „Eine Geschichte der Ausbreitung des Christentums“ von Professor K. S. Latourette, das wohl die größte wissenschaftliche Bearbeitung dieses Themas in der Geschichte der Christenheit überhaupt ist. In seinem letzten Band, der die Jahre von 1914 bis 1945 behandelt, ist jede Feststellung durch Dokumente belegt und kann vom Leser nachgeprüft werden, wenn er etwa annimmt, daß der Autor zuviel behauptet. Sein abschließendes Urteil ist, daß, wenn auch in diesen Jahren di? christliche Religion in Europa Verluste erlitten hat, diese Einbußen doch bei weitem aufgewogen werden durch die Gewinne auf der ganzen Welt; daß in Europa die Verluste viel geringer sind, als allgemein angenommen wird, und daß „das Christentum weit davon entfernt zu schwinden, im Jahre 1944 ein viel mächtigerer geistiger Faktor im Gesamtbild der Welt war als 1914“.

Diese Feststellung wird manche erstaunen — sagt Canon Roger Lloyd — auch viele Christen, aber jeder mag in Latourettes letztem Band nachlesen und den Beweis kontrollieren. Der Gelehrte hat dies seKr leicht gemacht. Es ist die Art, wie er jeden Leser zum Nachdenken anregt; eine einleitende Überlegung, die gerade einige allgemein bekannte Tatsachen ins Gedächtnis ruft, zwingt den Leser zuzugeben, daß die Feststellung doch nicht so überraschend ist, als sie klingt. Die Berichte über die heroischen Leistungen der christlichen Missionen in den letzten zehn Jahren in China sind bekannt und ebenso das Erstaunen vieler australischer Soldaten, die während der kriegerischen Handlungen in Neuguinea und den Melanesischen Inseln entdeckten, daß die meisten der Eingeborenen Christen ebenso in all ihrem Tun und Handeln, wie ihrem Namen nach waren. Jeder Mensch weiß, daß die christliche Kirche in Deutschland die einzige Institution war, die den Nazis ernsten Widerstand entgegensetzte und sehr viele könnten zur Bestätigung dieser Tatsache die großzügige Zeugenschaft Einsteins zitieren. Lloyd verweist dann auf die vornehmliche Anteilnahme vonüberzeugten Christen an den Widerstandsbewegungen, die sich in den einzelnen Ländern gegen die barbarische Tyrannei des Nazismus erhoben i.nd auf das überraschende Hervortreten starker katholischer Kräfte im öffentlichen Leben wie in Frankreich und Belgien, die mit Recht ihren Anspruch' in der Führung dieser Länder geltend machen können.

Man möchte fragen — sagt der englische Autor — was die hauptsächlichsten Gründe für das Erstarken des christlichen Lebens in der stürmischen Welt der letzten 30 Jahre sind. Die gegenwärtige Sucht, das Heil in einem immer komplizierteren kirchlichen bürokratischen System zu finden, hat wenig damit zu tun. Viele der Länder, in denen der Fortschritt der christlichen Bewegung am augenscheinlichsten wurde, waren jene, in denen die Invasion und der Hunger die meisten bestehenden Organisationen zerstörten.

Latourettes Geschichte stellt drei tiefreichende Gründe für das Erstarken des Christentums klar heraus. Vor allem haben — urteilt der Gelehrte — während der dreißig Jahre des Weltkrieges die christlichen Kirchen, besonders die anglikanische und römisch-katholische — begreiflicher Weise nennt der anglikanische Kanoniker Roger Lloyd seine Kirche an erster Stelle — begonnen, die Früchte ihrer sozusagen neuen Missionsmethode reifen zu lassen, die um ungefähr 1910 in feste Form gebracht worden ist. Danach wurden die Gemeinden eingeborener Gläubigen, die überall auf der Welt durch Missionärpioniere gegründet worden waren, darauf hingerichtet, so rasch als möglich wirklich eingeborene und bodenständige Gläubigengemeinden zu werden, mit ihrer eigenen Form der Führung und der Tradition und vor allem mit ihrem eigenen eingeborenen Episkopat und Klerus. Diese sollte in keiner Weise ver-westlicht werden. Der große Erfolg dieser kirchlichen Politik wird durch die Tatsache aufgezeigt, daß der am meisten ins Auge fallende Fortschritt der christlichen Bewegung gerade in jenen Ländern — Indien und China — errungen wurde, die fest entschlossen waren, von aller westlichen Bevormundung sich frei zu machen. In keinem dieser Länder wurde aber der geringste Versuch gemacht, etwa eine neue nationalistische Kirche unter Lostrennung von der Mutter-kirche des Westens durchzuführen.

Der zweite Grund für dieses Fortschreiten des Christentums in unserer Zeit wird klar, wenn wir uns erinnern, daß der größte Zuwachs der Kirchen aus dem Klassender Enterbten und Zertretenen kam; am erstaunlichsten war er unter den tiefklassigen Hindus, den „Unberührbaren“, unter den amerikanischen Negern und unter jeder Art und Klasse von Chinesen, die alle während der langen Jahre des Krieges fast zu einem gleichen Niveau sozialer Enterbtheit gesunken waren. Es ist Tatsache, daß der Ruf der Weltkirche durch die gewaltige Verkündigung des gleichen Wertes jeder menschlichen Seele und der unbedingten Heiligkeit der menschlichen. Persönlichkeit glücklich gewirkt hat. Eine Kirche, die wirklich kämpft, um das große Prinzip der Unantastbarkeit der Persönlichkeit einzupflanzen, wird stets mehr Boden gewinnen, als verlieren.

Aber immer und immer wieder — in Zeiten, wie wir sie durchlebt haben — war dieser Weg einfach der, zu leiden mit und für das Volk, dessen heilige Persönlichkeitsrechte mit Spott erniedrigt wurden und dies geschah meistens, ohne schon klar zu wissen, wie diese Teilnahme der Kirche an den Leiden des Volkes wirken würde. Wo immer wir hinsehen: In China, während die Japaner über das ganze Land schwärmten, in London, während die Blitze der Bomben einschlugen, in Norwegen und Holland, in Melanesien und auch selbst in Deutschland — wenn die Prüfung kam und wenn die Wahl ganz klar war zwischen „Leiden oder Verleugnen und seinem Glauben untreu zu werden“, dann lautete die Wahl stets für das Leiden. Das ist die dritte grundlegende Ursache für die g r o ß e* c h r i s 11 i c h e Vorwärtsbewegung in unserer Zeit.

„Es ist eine' geschichtlich nachweisbare Tatsache — schließt Lloyd im „Spectator“ — daß die Frühkirche das römisdie Weltreich zum größten Teil durch das, was sie über das Leiden zu sagen hatte, besiegte, ebenso wie durch die Art, wie sie selbst zu leiden verstand. Wenige Menschen wollen wirklich, daß das Christentum verliere und zugrundegeht, aber viele glauben, daß das geschehen werde. Alle Tatsachen beweisen aber das Gegenteil. Das ist ein Teil von einer kaum allgemein begriffenen guten Botschaft. Wenn diese richtig eingeschätzt wird, ohne Selbstzufriedenheit oder Prahlerei und mit dem Geständnis: ,Wir sind unnütze Knechte', dann ist dies ein genügender Antrieb Besseres zu tun, um der gegenwärtigen düsteren Lage der Welt das Gegengewicht zu halten.“

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